„Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber sie hält dem Leben nicht stand“ (Kafka)

Metaästhetik der Berührung und der Verkennung im Werk „Ich würde für dich sterben“ von Stefan Berchtold

Bernd Ternes

 


 

Die nicht mehr neuen, dafür immer mehr Vergesellschaftung ansaugenden Medien spülten in den letzten beiden Jahrzehnten einen Begriff in die Diskursarenen, der mehr Platzhalter- denn Erklärungsfunktion sein eigen nennt: Interaktivität. Er stand und steht für die hoffnungsfrohe Annahme, daß Menschen mit den erweiterten Bild- und Generierungsmedien eine Alternative zur Mensch-Mensch-Beziehung aufbauen können. Mit symbolischen, mit digitalen, mit Bildmaschinen sich nicht nur in ein Verhältnis zu setzen, sondern mit ihnen eine Beziehung eingehen zu können: das ist immer noch das medienanthropologische Herz einer manchmal zu schnellen Sehnsucht danach, in, mit und durch digitale Bildmedien wieder etwas mehr über die Mirakel „bewußtes Leben“, „menschliche Beziehung“, kurz: über das Mirakel namens „gesellschaftliches Leben“ in Erfahrung zu bringen.

Mittlerweile scheint die Phase der zum Glück noch enttäuschenden Ausnüchterung erreicht. Die epistemisch hochangereicherte Interaktion hat sich mehrheitlich als Interpassivität entpuppt: für diese sucht man eine Ästhetik (Robert Pfaller), nicht mehr für Interaktivität. Und die Hoffnung auf eine neue Hybridisierung von Realität durch chiasmatische Anordnungen virtueller und realer Wirklichkeit, durch Verwebungen sozialer und virtueller ‚Gemeinschaften’, durch Kultivierungen des Umschaltens von Bildern der Wirklichkeit und Wirklichkeit der Bilder – auch ihr geht es schlecht, so schlecht, daß sie sich gegenwärtig verkrochen hat hinter die Faszination am Stumpfsinn gelingender Simulationen, denen nur noch nach Sensation ist, nicht mehr nach Kognition. Das große, anthropologische Experiment der Übersetzung von Imagination in Visualität scheint zur „Unterhaltung für die Pause“ (zwischen Kriegen; Joseph Goebbels) zu verkommen.

Es sind in dieser Phase eindeutig ästhetische und nicht mehr primär medienwissenschaftliche Anstrengungen, die sich dennoch und weiterhin medienanthropologisch dem ‚aus der Schöpfung gefallenen Lebewesen’ namens Mensch widmen – um in den Formen seiner Ausgesetztheit etwas über ihn, über das nicht festgestellte Tier, in Erfahrung zu bringen. Berchtolds Installation ist eine solche Anstrengung – eine Anstrengung, dem ausgesetzten Wesen namens Mensch zu folgen, der sich nach dem Logos und dem Imago gegenwärtig „dem Digital“ aussetzt. Diese Aussetzung ist ein soziokulturelles Experiment, bei dem, darauf besteht Berchtold, noch nicht klar ist, was auf der Strecke der sozialen Evolution bleibt – und was zur Zukunft der Menschen gehören wird.

Was passiert in Berchtolds Werk? Es ist eine Anordnung, die erlaubt, durch eine Berührung einer Waffe im Raum den Tod des Künstlers auf der Leinwand auszulösen – und im Moment ebendieser Auslösung selbst zu erscheinen auf einer zweiten Leinwand. Wird die auf dem Boden liegende Waffe vom Besucher nicht berührt, sieht man dies: auf der einen Leinwand den Künstler, stehend, beinahe wartend; und auf der anderen ein Standbild der Pistole, von oben aufgenommen. Das also passiert, kann passieren. Doch was geschieht in Berchtolds Werk? Dies:

Die Berührung (nicht Gebrauch!) der Waffe, die zum Explosionsknall eines Schusses führt, wird selbst als die wirkliche Explosion spürbar. Die Explosion der Berührung löst ‚Aktionen’ aus, die so überbordend sind, daß für einen Moment die Gleichzeitigkeit von Leben transgrediert – und ineins damit die reflexive Erfahrung, wie defizitär Bild- und Aufzeichnungsmedien darin sind, von dieser Gleichzeitigkeit Kunde zu geben. Berührung löst etwas aus, das nicht ins Bild übersetzt werden kann, das bildlos bleibt. Waffenberührung, Schusslaut, Loopsprung und Livecamumschaltung ereignen sich in solch einer Dichte, daß Realität geschieht – Realität verstanden als dasjenige, „was sich meiner Kontrolle entzieht“ (Bazon Brock). Die Berührung, das Tasten, der Tastsinn – also dasjenige, was einem nach Hegel in der modernen Gesellschaft vergeht, will man in ihr überleben – wird bei Berchtold in einer Weise rephänomenisiert, daß ein anthropologisches Apriori aufblitzt: das Apriori des leiblichen Erlebens vor der gesellschaftlichen Imagination. Berchtold insistiert darauf, daß „tatsächliche“ Erfahrung Imagination aus sich entlässt, daß Erfahrung Matrix bleibt auch für die erlebbaren Wirklichkeiten, die sich in und mit und durch Bilder einstellen. So wie das Sprachbild „Der Glaube versetzt Berge“ auf die ungeheure transformierende, transgredierende, transzendierende Kraft des Glaubens anspielt, dem keine Wirklichkeit widersteht, so verweist Berchtold auf die unglaubliche Kraft des Touché, der sogar die ansonsten absolute Unberührbarkeit eines Bildobjektes zum Opfer fällt. Und daß dies wortwörtlich bildlich passiert, hat einen bestimmten Grund: Berchtolds „experimentelle“ Meditation der menschlichen Sinne zielt nämlich auf das „Don’t touch!“ – eine der gewichtigsten Vorgaben im Herzen der abendländischen Rationalisierungsgeschichte. Dieses „Don’t touch“ hat seine perfekte, seine auf die Spitze getriebene Entfaltung im Werbeslogan einer US-amerikanischen Waffenraketen-Firma gefunden, die ihre mit Kameras ausgestatteten Produkte mit dem Satz „First look, first kill“ verkauft. Berchtold treibt diesen historisch gelungenen Exzess der Sinnen-Perversion weiter, über das Stadium okularer Vernichtung hinaus: schon die einfachste, leichteste Berührung (nicht Betätigung) führt hier zum Tod.

Doch das ist nur eine Seite dieser medienanthropologischen Meditation über den gegenwärtigen, zur Dystopie neigenden Stand der Sinne des Menschen. Die andere Seite dieses Werks kann als radikale Weitung der modernen ästhetischen Reflexion des Künstlers auf das meist kriegerische Beziehungsdreieck Künstler – Kunst – Konsument (betrachtend oder zahlend) gelten; als eine interaktive Versuchsanordnung, die im Moment des Gelingens, des erwidernden Zusammenspiels von Kunstbetrachter, Kunstgegenstand und Bildobjekt die Unerreichbarkeit wirklicher Sensation, wirklichen Berührtseins und Berührtwerdens von und durch Kunst zeitigt. Berchtold dreht nämlich die gängigen Gründe für das ewige Missverständnis zwischen Kunst, Künstler und Kunstpublikum in eine Richtung, in der es Ernst wird mit dem „Was Du getötet hast, sollst Du auch lieben“. Gilt in den meisten Fällen, daß in den Augen des Künstlers das Werk vom Kunstkonsument missverstanden wird (in Notzeiten ist das Missverstandenwerden die letzte Rettung), so zeigt Berchtold die nächste Drehung an: In dem Moment, in dem der Konsument die Waffe berührt und also die Installation situativ-ästhetisch versteht, also tatsächlich berührt wird vom Werk und selbst durch seine Berührung der Waffe Teil des Werks wird, tötet es den Künstler. Es werden in der Regel nur die interessierten, die neugierigen, die sich einlassenden Besucher dieser Installation sein, die die Hürde des ausstellungsnormierten „Don’t touch“ hinter sich lassen – und es sind also gerade die Kunstaufgeschlossenen (und nicht die reinen Konsumenten), die jetzt durch ihr ästhetisches Genießen den Künstler eliminieren und ineins das Kunstwerk „vollenden“. Die Dreiecksbeziehung Kunstwerk, Künstler und Betrachter: sie funktioniert nicht als Trio. Aber als nichtfunktionierende wird sie stimmig. Einer muß sterben – und das Stratum fürs Tote, fürs Ausgeschlossene ist: das Bild. Und auch hier, in der Frage, ob die Bilder uns ausscheiden, uns deponieren, oder ob sie uns notwendigen Aufenthalt gewähren, der sonst in den normalen Räumen des Sozialen nicht mehr auffindbar ist, dreht Berchtold den Grad der Reflexion weiter als gewohnt, um zu demonstrieren, daß die Frage des Mediums gleichgültig ist, wenn und soweit das Metamedium namens Körpersinne Basis für Exkursionen ins Abstrakte, Virtuelle und Digitale bleibt. Berchtold spürt der Selbstverständlichkeit nach, daß es weiterhin die Haut ist, das Paradox des Berührens/ Berührtwerdens, das als heimliches Zentrum aller Objektivationen wirkt. Indes haben wir eine Entwicklung erreicht, in der wir uns nicht mehr ohne die Hilfe der Bildprothesen vergewissern können, was wir mit unseren Berührungen anrichten – wir müssen es sehen, weil wir es selbst nicht mehr spüren. Mehr noch: Die Überzeugung, daß unser Wissen dar­über, daß wir ein materieller Körper sind, von der Existenz dieses materiellen Körpers und seiner spezifi­schen Orga­nisationsform abhängt: sie scheint verschwunden, besser: pervertiert. Die Materialität des Körpers scheint heute vom Wissen/Bedeuten, kurz: vom Bild des Körpers abzuhängen, nicht umgekehrt. Vielleicht ist das der eigentlich wirksame Traum aller Vorstellungen von Medien-Interaktivität: Einen direkten Durchgriff auf die Wirklichkeit der Bilder zu schaffen. Auch das bekommt man durch die Installation ex negativo – zu spüren.

Gleichsam ex negativo und zudem elegant spielt Berchtold mit einem Haupttreiber der Infotainment-Welt, nämlich mit der Gier nach Bad News, nach Katastrophenbildern, die nur eins zu leisten haben: davon abzulenken, daß die Wirklichkeit jetzt wirklich blutet (Botho Strauß). Berührt nämlich kein „Betrachter“ die Waffe, dann geschieht nichts in und mit der Installation. Erst durch die Annährung an die Gefahr, erst durch die Hinwendung zur Waffe – Potenz kristalliner Gewalt –, wird es „interessant“, regen sich die Monitore, die Loops – und überschlagen sich dann.

Berchtolds „Ich würde für dich sterben“ geht über ein Aide-memoire der Vico’schen Maxime hinaus, nach der „wir Menschen“ nur das wirklich erfahren, was wir auch wirklich machen: das Wirklichmachen passiert zunehmend in den Bildern von Wirklichkeit, wie auch die alte Unterscheidung wirklich/ virtuell zunehmend auf der Seite des Virtuellen ihr re-entry erlebt. Wir wissen noch nicht genau, was da geschieht: Bleibt es bei einer Realität, die keine der möglichen Wirklichkeiten aus ihrem subordinären Status entlässt? Oder modelt sich die Realität zu einer Möglichkeit unter vielen Möglichkeiten – und wird damit tendenziell unrealistisch? Berchtolds Werk öffnet genau zwischen diesen Fragen einen Horizont des „Dazwischen“; einen Horizont, in dem selbst der Tod nur noch dann möglich ist, wenn Menschen sich ihm nähern.