Das Böse als Effekt der Substantivierung, die
ihrerseits Effekt ist einer Substanzlosigkeit von Attributen
Bernd Ternes
I
Man hört mittlerweile,
spätestens seit Rüdiger Safranskis Buch Das
Böse oder dem im September 1997 im Vorarlberger Dorf Lech mit großem
Medienecho veranstalteten Symposium über das Böse, das Böse habe Konjunktur.[1] Man meint damit sowohl den Umstand, daß die großangelegten
Techniken zur Bekämpfung der ´menschlichen Natur´ in Verdacht stehen, den ebenfalls
großangelegten Techniken zur Bedienung der menschlichen Natur endgültig unterlegen
zu sein[2], als auch den Umstand, daß das ´Gute´ von sich aus
nicht mehr zu unterscheiden vermag zwischen einem Bösen, das sich selbst
schafft, und einem Bösen, das ausschließliches Produkt des gut Gemeinten ist
(etwa Produkt einer Sexualmoral).[3] Mit dem Satz, das Böse habe Konjunktur, meint man zudem
sehr oft ein tatsächliches Anwachsen von bösen, bösartigen, nicht mehr mit den normalen sozionormativen
Mustern einfangbaren Handlungen, Verhaltensweisen, strukturellen Mutationen
(z.B. politische Inversionen) und systemischen Überforderungen (z.B. aufgrund
der Umweltverantwortung). Man meint dies, ohne allerdings den Index angeben zu
können, von dem aus überhaupt eine Steigerung des Bösen der oder in der
Gesellschaft sichtbar wird. Sagen tut man, wenn gemeint wird, allerdings nur,
daß das Sprechen übers Böse und das Thematisieren der damit verbindbaren Interpretamente sich in einer hausse befinden. Ist das Böse nur
ein Thema für Sammelbände und Symposien, oder tatsächlich ein bedrückendes
Rätsel?[4] Warum also, denn das ist tatsächlich so, formieren sich
seit Beginn der 90er Jahre in immer dichterer Folge veröffentlichte Diskussionen
und Beiträge, die sich des Bösen, aber auch des Hasses und der Rache (etwa J. Baudrillard), des Opferns (B. Strauß), der sinnlosen Gewalt
(O.Stone) und des Monströsen (D. Kamper)
annehmen?[5] Gibt es einen Bedarf nach eine zeitlang wenig mit
Erklärungslasten beschwerten Begriffen, wie eben dem Begriff des Bösen, und
schickt man diese oder diesen wieder ins Wettrennen um die beste Erklärung oder
Beschreibung von gesellschaftlichen Prozessen, nachdem viele andere Begriffe,
nicht zuletzt Moral und Universalismus, diskursiv inflationiert
und verschlissen wurden? Ist das Böse nur eine weitere Spielmarke im
unendlichen Sprechen und Selbstirritieren, nach dem Motto: Alle kommen dran?[6] Geht es nur darum, die permanente Produktion von
Beschreibungen zu gewährleisten (im Sinne von Cornelius Castoriadis
und Klaus Eder), weil das wirklich Böse sich darin kundtut, daß nichts mehr im
Modus des Über-etwas-Redens Platz findet?[7] Oder nochmals anders:
Ist das Reden über das Böse
nichts anderes als moralischer Diskurs mit anderen Mitteln? Versucht man zur
Zeit auszuprobieren, wie es ist, die Leitunterscheidungen moralisch vs. unmoralisch
und gut vs. böse, die als Unterscheidungen wohl immer als moralische und gute
Unterscheidungen benutzt wurden und werden, nun von der anderen
Unterscheidungsseite aus in den Blick zu bekommen? Möchten viele, nachdem sich
Moral, Recht und Gutes immer nur durch ihre vermeintlich negativen
Reflexionswerte namens Unmoral, Unrecht und Böses konturierten wenn nicht gar
konstituierten, möchten viele nun also dezidiert und unverdeckt von diesen Negativismen ausgehen als Positivismen, die jetzt ihrerseits
einen Blick erlauben auf Moral, Recht und Gutes als negative Entitäten, als
jederzeit zerbrechliche, niemals Eigenwert annehmende Scheinexistenzen (was sie
auch tatsächlich ´sind´), die der Teufel nur deswegen in die Welt gerufen hat,
um sich selbst ein teuflisches Vergnügen zu bereiten beim Zuschauen, wie
Menschen sich abstrampeln, um in der Moral, im Recht und im Guten doch
wenigstens Halt und Verläßlichkeit zu finden? Allgemeiner: Hat sich genuin
modernes Verstehen moderner Formen der Variation, der Selektion und
Stabilisierung, des Verfalls und der Vernichtung innerhalb der Gesellschaft
ausgereizt und ist nun darauf angewiesen, auf tieferschichtige Begriffe auszuweichen,
um wenigstens einen Hauch von Verständnis dafür zu bekommen, was die Gesellschaften
der Welt zur Zeit sind und wo sie sich innerhalb der historischen Zeit
aufhalten bzw. auf halten?[8]
II
Die Position, von der aus
Gesellschaft und, begriffsgeschichtlich vorlaufend, die Sprache, die
Geschichte, die Natur und schließlich beginnend Gott überhaupt in den Blick
eines Beobachters kommen konnte, diese Position war gemeinhin eine der Selbstexemtion des Beobachters: Der so positionierte Beobachter,
ganz aufgehend in seinem Verhältnis gegenüber Welt, befreite sich von der Last
der Reflexion auf den Umstand, daß jedes Verhältnis gegenüber der Welt immer
nur in der Welt passiert. Bei Luzifer resp. Satan resp. Iblis
war diese Bedingung der Beobachterposition, von der aus Gott beobachtet werden
konnte, noch ein eklatantes Ereignis[9]: Um ein Verhältnis gegenüber Gott einzunehmen, mußte
das Verhältnis des In-der-Welt-Seins überhaupt erst erschaffen
werden (wie bekannt durch den Absturz, den Ab-Fall
des Engels). Zum Verhältnis in der Welt aber kann man kein Gegenüber-Verhältnis
mehr aufbauen, das nicht wieder auch in der Welt ist. Der Preis für die Möglichkeit,
gegenüber Gott ein Verhältnis, ob symbolisch oder diabolisch, einzunehmen, war
die Unmöglichkeit, gegenüber sich selbst in der Welt ein (Selbst)-Verhältnis
anzunehmen. Man nahm sich raus aus dem In-der-Welt-Sein,
eben weil man nun in der Welt war; man war drin in der Welt, weil man ein Gegenüber-Sein
zu Gott gefunden hatte. Kurz: Transzendenz war, zwar ramponiert, aber dennoch
Grundlage oder zumindest Bedingung für die Immanenz der Welt.
Denn mit dem Umstand, daß
Gott als per se unbeobachtbarer Gott[10] nun doch beobachtbar wurde und es für dieses Beobachtenkönnen einen Punkt brauchte, der nicht Gott sein
mußte, blieb die dadurch erschaffene "Landgewinnung", also Welt,
weiterhin der Beobachtung entzogen; denn man könnte jetzt zwar beobachten, was
Gott nicht sah, aber man sah weiterhin nicht, was Gott beobachtete. Und da man
nicht sehen konnte, wie Gott Welt sah, blieb die Welt als positive weiterhin
nicht differenzierbar. Man mußte also über die Negation in die Welt, die
ihrerseits nichts anderes war als die Positivierung
dessen, was Gott nicht sah. Im Laufe der Aufklärung, also der Positivierung dessen, was Gott nicht sah (und der nicht
lange auf sich wartenden Negativierung dessen, was
Gott sah), im Laufe des Sich-Einrichtens in der Welt
und der Welt (als Beginn der Negation der Welt), im Laufe der zunehmenden Bedeutungslosigkeit
des Vergegenwärtigens der Transzendenz als Bedingung von Weltverhältnissen
wechselten die Kandidaten, denen gegenüber ein Verhältnis (der Beobachtung) des
Gegenübers aufrecht erhalten werden mußte. Trotz Lukács Proklamation der
metaphysischen Obdachlosigkeit des Menschen blieb die Position, von der aus ein
Gegenüber-Verhältnis imaginiert werden konnte, als cliché erhalten (These der
Säkularisierung). Das Gegenüber als Verhältnis blieb gleich, das Gegenüber als
Objekt bzw. als das Andere wechselte: Natur,
Geschichte, Geist, Leben, Sprache, zuletzt Gesellschaft. Und für diesen
letzten Kandidaten wird seit gut 20 Jahren die soziologische Systemtheorie
nicht müde zu erklären, daß es auch zu ihr, der Gesellschaft, kein Verhältnis
des Gegenübers geben kann.
III
Die Position des Luzifer,
der Gottes Beobachtung beobachtet und ihn damit verfehlt (besser: damit ein
nicht von Gott gesetztes Nicht-Göttliches kreiert), hatte bis vor kurzem, im Verhältnis
gegenüber Gesellschaft, die Kritik resp. der Protest inne. Kritik und Protest
in der Gesellschaft gegenüber der Gesellschaft hielt gleichsam fest an der
notwendigen Bedingtheit der Immanenz
durch Transzendenz. Nur haben sich jetzt einige Parameter geändert. War
bei Luzifer das Abfallen in die Immanenz noch eine Art Ur-Akt der Schaffung
einer Struktur des Gegenüber-Verhaltens und alle anderen nachfolgenden Begriffe
nichts anderes als Dispositive, so viel wie möglich
an Transzendenz in die Immanenz zu überführen, ist es bei der letzten Teufelversion
Protest/Kritik und der letzten Gottversion
Gesellschaft (ob menschliche
Gesellschaft oder Unternehmens-Gesellschaft, wird zur Zeit unter dem Stichwort
"Globalisierung" zu entscheiden versucht) beinahe umgedreht: Da man
selbst in der Gesellschaft ist, also mit allem, was man tut, Gesellschaft
prozessiert, also schon in einem Dort
verweilt, was man erst durch ein Gegenüber-Verhältnis als Dort ausweisen will, bedarf es jetzt soetwas
wie ein Abfallen von der Immanenz als eine Art second-order-act der Schaffung
einer Struktur des Gegenüber-Verhaltens. Teufel:
noch mal! wäre der passende Imperativ.[11] Aber das scheint, zumindest mit den modernen Teufelkandidaten
(Arbeiterbewegung, nationalsozialistische Bewegung[12]), leider und zum Glück nicht mehr möglich. Als letztes
Auslaufmodell der Aufrechterhaltung der Grenze Transzendenz/Immanenz hat Niklas
Luhmann Protestbewegungen ausgemacht. "Aber sie fallen nicht, sie steigen
auf. Sie verfehlen nicht das Wesen Gottes [...], so daß auch das Merkmal der
Sünde, die Gottesferne, nicht zutrifft. Symphatisanten
sagen ihnen sogar nach, sie erhöhen die Produktionsgeschwindigkeit guter
Gründe. Aber die Beobachtungstechnik des Teufels, das Ziehen einer Grenze in
einer Einheit gegen diese Einheit, wird copiert; und
auch die Folgewirkung setzt ein: das unreflektierte Sich-für-besser-halten.
Entsprechend wird mit Schuldzuweisungen gearbeitet. Das Schicksal liegt nicht
im unergründlichen Ratschluß Gottes. Das Schicksal der Gesellschaft - das sind
die anderen."[13]
Auch wenn sich in den
letzten Jahren Protestbewegungen vermehrt haben, deren Ziel im symbolischen
Aufpumpen und im realen Ermorden von vermeintlich ominösen Anderen liegt, und
die Gefahr einer Renaturalisierung, einer Reethnisierung, einer Rereligionisierung
genuin sozialer Konflikte nicht klein ist, scheint sich den meisten
Nachdenkenden doch die Resignation darüber festgesetzt zu haben, daß man gegen
Komplexität nicht protestieren, daß man Komplexität nicht komplex kritisieren
kann, ohne entweder Komplexität zu eliminieren oder die Kritik zu entwaffnen.
Diejenigen, die Nietzsches Affirmation resp. die poststrukturalistische
Variante einer nicht-positiven Affirmation (G. Deleuze)
anzunehmen fähig sind, also die Modi gegen,
wider und über in ihren Weltinbeziehungssetzungsbaukasten
entkräften konnten (Subjekt-Objekt-Konstellation, Widerspruchsverhältnis,
Weltaufhebungstheorie), werden wohl kaum darunter leiden, daß ihnen das
transzendente Verhältnis zur Welt - ich alleine hier, die ganze Welt dort -
abhanden gekommen ist. Diejenigen aber, die, jetzt subjekttheoretisch gewendet,
nicht damit zufrieden sind, sich bloß vorzukommen (als etwas Vorkommendes unter
vielen), sondern die weiterhin daran festhalten, vor sich zu kommen (als
Realisation des eigentlichen Zusichkommens), dies
aber, jetzt gesellschaftstheoretisch gewendet, nicht mehr so ohne weiteres
können, weil sie schon in einer Gesellschaft leben, die selbst den Platz Gottes
eingenommen hat, eines beobachtbaren Gottes allerdings, der seine vormalige
Unbeobachtbarkeit als Attribut abgezogen hat und in den Akt des Beobachtens
selbst hineinverlegt, so daß der Beobachter selbst derjenige geworden ist, der
das göttliche Attribut (Unbeobachtbarsein) besitzt, diejenigen also, denen das
Teuflische entzogen wurde durch die moderne Gesellschaft, müssen auf eine Alternative
zum Teuflischen ausweichen und zugleich in Kauf nehmen, selbst nicht mehr Subjekt
der teuflischen Eigenschaft zu sein, sondern diese Eigenschaft einem nun
wirklich ominösen Macht- und Wirkzentrum zu überantworten: eben dem Bösen. Das
Böse ist nichts anderes als Effekt der Arbeits- und Willenlosigkeit diabolischen
Wahrnehmens und Weltverhaltens. Nicht weil man teuflisch in der Welt mit der
Welt umgeht, gibt es Böses in der Welt, sondern anders: Weil man nicht mehr
teuflische Verhältnisse eingehen kann (Verhältnisse des Handelns, Erklärens,
Annehmens), also keine Verhältnisse des Gegenübers, eben deswegen erscheint das
Böse; zumeist nicht als melancholischer Seufzer einer alleingelassenen und
verrottenden Transzendenz, sondern vielmehr rasend, wütend, unfassbar und
tödlich.[14]
IV
Es verhält sich demnach,
wenn es denn stimmte, nicht so, wie Florian Rötzer schreibt, daß das Böse in
eins mit der Verdrängung subjektivischer, animistischer, magischer, kurz: nichtrationaler Weltinbeziehungssetzungsmatrizen gleichsam mitverschwindet:
"Kappt man den Willen ab, der hinter den Ereignissen steht, die man als
böse empfindet, dann scheint man auch das Böse zu zerstören: Übrig bleiben Unfälle,
Katastrophen, Zufälle, Schicksalhaftes, etwas, womit man sich einrichten muß
oder das man durch irgendwelche präventive Eingriffe verhindern kann".[15] Exakt dies: Unfälle, Katastrophen, Zufälle, Schicksalhaftes,
Unwahrscheinliches, Nebenfolgendes, Invertiertes, Unscharfes usw. bedürfen wohl
probabilistisch imprägnierter, stochastisch geschulter,
operationalistisch verfahrender, vergessenkönnender
und der eigenen Zeitlichkeit eingedenk sein könnender "Bewußtseine"
als die eigentliche Verkörperung von Kulturtechnik im Ausgang des
20.Jahrhunderts.[16] Wie es aussieht, herrscht hier eklatanter Mangel vor.
Zumindest ist es plausibel anzunehmen, daß die durch die Aufklärung vorgenommene
Weltent-dämonisierung in eins mit einer Weltprofanisierung nicht zu einer Emergenz
neuer nachhaltiger Verarbeitungsmuster beigetragen hat, sondern zwischen diesen
beiden Polen wie unter Zwang zu oszillieren beginnt. Denn nichts anderes meint
die neuerliche Rede über das Böse oder vom Bösen, als daß die transparente,
entdämonisierte, kontingente, von Bösem
dekontaminierte Welt das eigentliche masterpiece des Bösen sei.[17]
Wie wäre das zu verstehen,
also der Umstand, daß alle Anstrengungen, die unternommen wurden, um das Böse
(als Stellvertreter fürs Irrationale, Unerklärbare, Unberechenbare, Nichtmonetarisierbare) zu reduzieren, zu eliminieren, zu
transformieren, sich nun zu entpuppen scheinen als Agenten eben des Bekämpften,
das - und das wäre ebenfalls ein starkes Attribut des Bösen - umso mehr wächst
und Macht annimmt, je umfassender es vernichtet werden soll? Vielleicht so:
In vielen Kulturen herrschte
innerhalb der Tradition der zu überliefernden Weltdeutungsmuster ein
sogenanntes dualistisches Prinzip vor. Dieses Prinzip unterschied den
Gegenstand Welt zumeist in zwei klar voneinander getrennte, aber eng innerhalb
einer Unterscheidungseinheit beieinanderliegende Bereiche, Welten, Kategorien.
In der altiranischen Kultur etwa, und dort besonders im sogenannten Mazdaismus, unterschied man die Kosmologie in zwei Schöpfungen:
Die gute Schöpfung verantwortete Ahura Mazda, die
böse oder schlechte verantwortete Ahriman.[18] Beide stehen in einem agonalen
Verhältnis zueinander. Und auch wenn die Hilfe der Frommen die Voraussetzung
ist für den Sieg des guten Ahrumazda, war in dieser
Mythologie doch eindeutig, daß das (personifizierte) Böse auf ein vorübergehendes,
auf ein in der Zeit stattfindendes Phänomen zu beschränken war, und daher nicht
gedeutet wurde als ein der Zeit inhärent anhaftendes Merkmal. Das Gute, wie grausam
und stark das Böse auch sei, geht in den Kampf hinein im Bewußtsein, letztlich
doch zu siegen, ja eigentlich schon gesiegt zu haben und nun nur noch der
Ausführung zu bedürfen (wie bekannt ist dies immer noch das Bauprinzip der
Film-Unterhaltungsindustrie). Von daher ist es gerechtfertigt, hier, beim Mazdaismus, aber auch in den christlichen bzw.
säkularisierten Theologien/Theorien, davon auszugehen, daß es sich nicht nur um
einen dualistischen Monotheismus handelte, sondern weitergehend zu folgern, daß
immer da, wo Dualismus eine zentrale Matrize für Erzählungen, Erklärungen und
Deutungen abgibt, es sich immer auch um Monotheismus handelt.
Wie auch immer: Das Böse
wurde hier als etwas aufgefasst, das keine eigentliche Bindungskraft, keine
eigentliche Strukturhaftung mit der Welt und der Zeit auszubilden vermag, also
als ein vorübergehendes, zutiefst zeitliches Ereignis letzlich
doch nur in die Welt einbricht, anstatt eine nie zu eliminierende Bedingung zur
Ermöglichung von Welt zu sein. Diese Fassung des Bösen als letzthin Ephemeres
hatte zur Bedingung, daß die gute Schöpfung, von der aus agiert, gefasst und
gekämpft wurde, sich einer zeitlichkeitsresistenten Verfassung versichern
konnte, die nicht nur transzendenten Status hatte, sondern durch die
Autosuggestion des bloßen Verteidigens (der guten Schöpfung gegen das Böse) und
des antiimperialen Gestus (als Zeichen dafür, daß man
nicht auf anderes angewiesen ist für eine evidente Existenzvergewisserung)
immer schon dort sich angekommen wähnen konnte, wohin sie aufzubrechen suchte.[19] Man könnte auch sagen, daß das Gute sich selbst als
nicht mehr ganz reibungslose Emanation eines Agens zu verstehen hatte, das
nicht mehr wie bisher die Frage unstellbar sein ließ,
von was es selbst Ausfluß ist; um von der Befragbarkeit
(und also Infragestellbarkeit) des Grundes des Guten
abzulenken, bewies sich das Gute fortwährend als begründet, indem das Böse auf
den Plan trat und das Gute zum Handeln zwang. Daß sich dieser Handlungszwang
mittlerweile, nachdem das Böse von den modernen Programmen der Rationalisierung
als dezimiert eingeschätzt wird (und allenfalls noch in besonderen Fällen von
Amok, Anomie, Idiosynkrasie sich einer Gestaltwerdung
versichern könne), so ausnimmt wie ein ängstlicher Hausbesitzer, der jeden Moment
mit einem nicht mehr einbrechenden Einbrecher rechnet, um einerseits seine hochgezüchteten
Abwehr- und Kontrollanlagen zu rechtfertigen, und um andererseits sich nicht einzugestehen,
daß er, der Hausbesitzer, schon längst sein eigener Einbrecher geworden ist,
schon längst den Einbrecher im eigenen Hause (und, viel gravierender, in der eigenen
Imagination) hat, kurz: daß heute das vermeintlich Gute sich mimetisch der
Zeit- und Erscheinungsweise des vormals nur vorübergehend in der Welt
aufhaltenden Bösen angenähert hat[20], also auch nicht mehr an Evidenz der Gewißheit und
Evidenz der Existenz besitzt, als das vorübergehende Reagieren auf
vorübergehende Lagen hergibt, also selbst Ereignis geworden ist, das passiert,
und nicht mehr etwas ist, innerhalb dessen etwas passiert, dem gegenüber die
Struktur indifferent bleiben kann: das, so denke ich, kennzeichnet die Lage des
Nachdenkens über die Selbstbeschreibungen der spätmodernen Gesellschaften im
Hinblick auf die Unterscheidung gut/böse.
V
Nach Spinoza[21] definiert sich der Begriff Substanz als dasjenige, was
in sich und durch sich vorgestellt wird und nicht eines anderen Gegenstandes
bedarf; der Begriff Attribut ist nach ihm dasjenige, was der Verstand von der
Substanz erfasst als das, was ihr Wesen ausmacht; und Gott ist ihm die
unbedingt unendliche Substanz, welche aus unendlich vielen Attributen besteht,
die ihrerseits jeweils eine ewige und unendliche Wesenheit ausdrücken.[22] Nachdem der Mensch von Gott abgefallen ist in die
Immanenz und damit der Möglichkeit verlustig ging, an der unendlichen Substanz
Gottes weiterhin kognitiv-attributiv teilzunehmen, zugleich aber sein Verstandesvermögen
der Attributenschau (als Wesenswahrnehmung des
Göttlichen) noch intakt blieb bzw. intakt gehalten wurde, konnte sich die
Annahme durchsetzen, daß es etwas zu bedeuten hat, wenn weiterhin das
Denkwerkzeug zur Bestimmung des Wesens von Substanz zuhanden blieb, wenn auch
unwiderrufbar getrennt von der Substanz. Es konnte bedeuten, daß der strafende
Gott es für richtig hielt, den Menschen klar zu machen, wie unbrauchbar, wie
hilflos, wie unvollständig und uneigenständig sie sind, indem sie durch die
weiter vorhandenen Vermögen immer wieder daran erinnert werden, daß ihnen das
Entscheidende für ihre Existenz fehlt (die Tradition des abwesenden Gottes). Es
konnte aber auch bedeuten, daß das Attributieren nun
selbst Substanz geworden ist, und es also darauf ankomme, für die Substanz gewordene
Attribution nun ihrerseits ein Vermögen zu
entwickeln, daß das Wesen dieser neuen Substanz verstandesmäßig oder sonstwie
erfaßt. Da dieses Schattenspiel einer Transzendenz, wie sie vorher in und durch
die Beziehung des Menschen zu Gott sich ausdrückte, nun allerdings in einer
Welt stattfinden mußte, die keinen Raum mehr für Transzendenz übrig ließ, es
sich also um ein ausschließliches und nicht mehr durch göttlichen
Substanzanschluß verunsichtbartes Selbstverhältnis
des Menschen handelte, das sich seiner eigenen Unabhängigkeit versichern mußte,
dafür aber bloß auf ein Repertoire zurückgreifen konnte, das ausschließlich die
andere Seite, nämlich Gott, als unabhängig versicherte und im Gleichzug das
Selbstverhältnis des Menschen als abhängiges bezeugte, entstand ein Dilemma,
das vielleicht bis hinein in Hegels Herr-Knecht-Dialektik
das eigentliche Maß abgegeben hat. Das Dilemma bestand und besteht darin, eine unwiederruflich beendete Abhängigkeit dadurch zu retten,
indem man sich von der neu entstandenden
Unabhängigkeit abhängig macht. Damit diese neue Abhängigkeit von der Unabhängigkeit
sich sowohl unterscheidet von der vormaligen einfachen Art als auch
´Wesensmerkmale´ der alten Art wieder-holt, muß
gewährleistet sein, daß der Unterschied der neuen zur alten Abhängigkeit darin
besteht, daß die Verhältnisse und Beziehungen neuer Abhängigkeit frei gewählt
werden konnten, als auch gewährleistet sein, daß die Beziehungen und
Verhältnisse neuer Abhängigkeit notwendige und nicht der Willkür zugängliche Abhängigkeiten
sind. Denn wenn der Mensch Gott spielt und dabei merkt, daß es egal ist, was
und wen und wie er als spielender Gott aussucht, um sich in Verbindung zu
setzen, wird er merken, daß es dem verlorenengegangenen Gott mit dem Menschen
wohl auch so gegangen sein könnte: Die Liebe Gottes für die Menschen verlöre
die Gewißheit, daß es Gott wirklich um die Menschen ging. Das Verhältnis
Gott-Mensch bekäme eine internes Gefüge wie das des
Verhältnisses zwischen Abstraktion und Material. Kurz: Die Rettung der
transzendenten Beziehung des Menschen mit Gott durch wiederholende und wieder-holende
Inauguration der verlorenden Position Gottes durch
sich selbst forcierte den Verdacht, daß es dem unendlichen, notwendigen und
allumfassenden Gott mit seiner Liebe nie eigentlich notwendig um den Menschen gehen
konnte. Die versuchte Rettung einer göttlichen Obdacht,
eines göttlichen Beobachtetwerdens war nichts anderes
als eine performativ angelegte, feingliedrige, mimetisch flankierte Analyse und
Dekonstruktion der Transzendenz von Gott.
Denen das wehtut, daß sie es
waren, die das, was sie wieder-holen wollten, wohl
endgültig aufgelöst haben (die Innenschau Gottes über den Umweg der Aussenschau), denen mag das Böse wirklich begegnet sein;
denen mag, psychoanalytisch gesagt, das Böse in solch einer Situation der
Selbstaufklärung wirklich gut tun. - Vielleicht können auch nur solche Menschen
im alltagssprachlichen Sinne böse werden.
VI
Die Zeiten, in denen der
arme Teufel verspottet wurde (allerdings nicht von der Kirche), und die, in
denen dem Teufel (als Prinzip des beobachtenden Unterscheidens schlechthin) Symphatien nachgetragen wurden, laufen wohl aus.[23] Der Reiz, von ihm zu lernen, ist verflogen. Man läßt
sich, eingebettet im Wissen ob der Banalität des Bösen und der Bösartigkeit
alltäglicher Banalitäten, meist nur noch von ihm unterhalten.[24] Die Fragen und Kämpfe, die sich in den letzten
Jahrhunderten daran rieben, was die "menschliche Natur" ist, was von
ihr zu bekämpfen ist und was zu bedienen, und der Versuch, es selbst als
menschliche, besser: vergesellschaftete Natur des Menschen auszugeben, daß er
Anteile seiner Natur bekämpft, erliegen immer mehr einem Nicht-begründet-werden-Können.
Das verführt zur Renaissance des Kurzen
Prozesses. Man kann wieder, eben weil sich die Kraftlosigkeit der Maßstäbe für ethisches Codieren kondensiert
haben und eigentlich nur noch subjektloses systemisches Agieren sich heraus-stellt, man kann wieder mit dem einen Finger auf die
zeigen, die böse sind (das Oligopol der Ölkonzerne, das Oligopol der
Welternährungsgrundlagen, das Oligopol der Rüstungs- und Medienindustrie), eben
weil man unwiederruflich weiß, daß drei Finger auf
den Zeigenden zeigen. Man kann wieder sagen, Rache habe in der modernen
Gesellschaft nichts zu suchen, ebensowenig wie rituelles Opfern, Rechtsprechung
nach Gutdünken usw., ohne anzugeben, warum, weil man weiß, daß das Vorhandensein
oder Nichtvorhandensein solcher Formen sich nicht nach ethischen Texten richtet
(zeitresistente und informationsverfallresistente Verfassungs- und Menschrechtstexte).[25] ´Die Welt schreitet in den Fakten fort, nicht in den
Gedanken´ - diese Gestalt eines kurzen Prozesses scheint mir enormen Zulauf zu
bekommen, Zulauf von denen, die nicht verstanden haben, was das Böse ist:
Effekt einer Substantivierung, die ihrerseits Effekt ist einer Substanzlosigkeit
von Attributen. Oder einfach: Das Böse
ist die nicht zugelassene Indiskretion
des Lebens. Vielleicht zuckt das Böse in Gestalt der unzähligen Diskurse
zur Zeit deswegen wie ein angeschossenes Tier, weil die gesellschaftliche
Abstraktion seit gut 15 Jahren dabei ist, auf erweiteter Stufenleiter das
indiskrete Leben durch digitale Diskretion anzugreifen. Vielleicht wird aber
auch einfach die Argumentationsfigur immer schwerer durchsetzbar, nach der die
´Verhältnisse die Musik machen´[26], weil man bei der Frage hängen bleibt, wieso es immer
und immer wieder solche Verhältnisse gibt.
[1] Siehe
nur: W.v.Rahden/ A.Schuller
(Hg.): Die andere Kraft. Zur Renaissance
des Bösen, Berlin 1993; C.Colpe/ W.Schmitdt-Biggemann (Hg.): Das Böse. Eine historische Phänomenologie des Unerklärlichen, FFM
1993; auf jeglichen Artikel verzichtend siehe den Aufsatz Böse von F.Rötzer in: Ch.Wulf
(Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische
Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, p927-938; als gute Einführung in die
Variante des teuflisch Bösen siehe A.di Nola: Der Teufel.
Wesen, Wirkung, Geschichte, (dt.) 2.Aufl., München 1994.
[2]
"´Gegen die Menschen gibt es nur ein Mittel, den Sozialismus, und den kann
man für die nächsten Jahrzehnte leider auch nicht mehr weiterempfehlen´",
so zitiert sich Peter Rühmkorf selbst in seinem
Tagebuch (Tabu I. Tagebücher 1989-1991, Reinbek 1995,
p273).
[3] Baudrillard geht hier weiter und nimmt für alle
überintegrierten Systeme soetwas an wie die
Vollendung Marxscher Verelendungstheorie; bei einem bestimmten Sättigungsgrad
schlagen die Systeme ins Bösartige um und übernehmen selbst ihre eigene
Zerrüttung und Zerstörung; ders., Transparenz des Bösen, Berlin 1992, p72.
[4] So
die abschließende Frage von Jürgen Kaube in einer
Rezension über die oben erwähnte Lech-Veranstaltung, in: FAZ, 25.9.1997 (Wenn Männer zu sehr destillieren).
[5] Um
die Mitte des 19.Jahrhunderts, also zur Zeit der Blüte
naturwissenschaftlich-positivistischen Denkens, das der dämonischen Bilderwelt
endgültig Absage erteilen wollte, reaktivierte der römische Pontifikat die
Bedeutung des Teufels, um eine Sicherheit des Dogmas und des Glaubens
zurückzugewinnen, die von vielen Seiten bedroht worden war. "Wäre Satan
eine real existierende Gestalt, dann hätte ihm nichts weniger als das Vorgehen
der Päpste großzügigen Dienst und feierliche Anerkennung angedeihen
lassen", so Alfonso di Nola (a.a.O., p424). -
Wer aber kann heute ein richtiggehendes Interesse daran haben, das Böse,
Teuflische usw. wieder in die Waagschale gesellschaftlicher Werte zu werfen,
außer den Modernisten?
[6] Daß
es sich dabei um eine systemische Eigenschaft der Verbreitungsmedienbetriebe
(Zeitungen, Fernsehen, Radio) handelt, die nicht anders können, als ihren immer
schneller werdenden Informationsvernichtungsprozeß durch immer
unwahrscheinlichere Informationen auszugleichen und zu verstärken, scheint
evident. Daß allerdings noch alle Informierten ´dran sind´ bzw. in einem
religiösen Zusammenhang stehen, scheint mir unklar. Siehe aber Dietmar Kamper (Bildstörungen.
Im Orbit des Imaginären, Ostfildern [bei Stuttgart] 1994, p82): "Die informatio war
der Prozeß, in dem sich Gott mit der Seele vermählte. Ein gut informierter
Mensch war ein Heiliger oder ein religiöser Mensch. Das Wort hat sich dann
daraus abgelöst und ist heute unter anderen Randbedingungen ein anderes Wort
geworden, aber es behält immer noch diesen Zusammenhang."
[7] Daß
der Distanz ermöglichende Modus des "Über-etwas-Redens"
heute allerorten überstrapaziert wird, weil sich eine Ahnung einstellt, daß bei
Wegfall eben dieser Distanz das Grauen, das Böse, die Komplexität sich zeigt,
scheint mir evident. Für den Begriff Komplexität fasst Dirk Baecker
es so zusammen (Postheroisches
Management. Ein Vademecum, Berlin 1994, p23):
"Wir reden viel über unsere Schwierigkeiten, eine Sprache über komplexe Phänomene zu finden. Aber
wir reden kaum über die vielleicht noch größere Schwierigkeit, in komplexen Situationen die richtigen
Worte und Handlungen zu finden." - Siehe zur möglichen Unhintergehbarkeit
des Über-etwas-Redens Emmanuel Lévinas,
Ethik und Unendliches, Graz/Wien
1986, p67.
[8]
Selbst Willem van Reijen sieht in der Dominanz des
Marktes die zynische Rückkehr der Transzendenz manifestiert und beschreibt die
Lage so: "Der Versuch, alle Geheimnisse des ´Wertes´ zu eliminieren, indem
man den Markt als großen Regulator einsetzt, enthüllt sich immer mehr nicht nur
als Einbruch der Transzendenz, sondern als Einbruch des Bösen. Wir setzen uns
nicht (harmloses Sakrileg) an die Stelle des christlichen Schöpfergottes, der
immerhin noch, in der Theodizee, für die Existenz des
Bösen zur Rechenschaft gezogen werden konnte, sondern gebärden uns, nachdem uns
die Kunst, ´es nicht gewesen zu sein´, abhanden gekommen ist, wie der böse,
gnostische Gott, der eine Welt schafft, in der (Spitze der Perversion) die
Menschen an einen guten Gott glauben"; ders., Zerreißprobe: die Postmoderne in der Moderne,
in: Zeitschrift für kritische Theorie, 5/1997, p101-115: p103. - Der letzte,
der mit Transzendenz jenseits der Habermas´schen
Fassung Positives verbindet, scheint Gilles Deleuze
gewesen zu sein; siehe nur: Ders., Logik des Sinns,
FFM 1993, p134-135.
[9] Das
ist natürlich zu allgemein gesagt. Für Alfonso di Nola
etwa ist es kein Zufall, daß "in der christlichen Dämonologie
der Teufel sich in der Trägheit und in der Melancholie verkörpert, im Leiden
des Selbst, das sich der Vitalität verweigert" (ders., Der Teufel. Wesen, Wirkung, Geschichte (dt.), 2.Aufl., München 1990
[Org. 1987], p21). Der Teufel hier also alles andere als jemand, der durch ein
überwältigendes Ereignis überhaupt erst erschaffen wird (allerdings bedingt
durch die psychologische Perspektive di Nolas). Für
die Vielfältigkeit der Bedeutungen, Figuren und Funktionen des Bösen,
Dämonischen, Teuflischen etc. siehe di Nola.
[10]
Natürlich wurde Gott beobachtet in seinen Taten, seinem Wirken, in seiner
Offenbarung, in seinen Zeichen, zuletzt im Menschen selbst. Aber eben unter der
Vorausetzung einer radikal verstandenen
Unsichtbarkeit des Gotteswesens. So etwa Augustinus: "Die Menschen aber können
fragen [im Gegensatz zum Tiere; B.T.], auf daß sie ´Gottes unsichtbares Wesen
an den Werken der Schöpfung ersehen und erkennen´"; ders., Confessiones, geschrieben 397/98,
dt. V. Wilhelm Thimme, 8.Aufl., München 1997, p252f.
- Ich danke Herbert Neidhöfer für den Einwand.
[11]
Diejenigen hingegen, die als Alternative zum zweiten Einsatz der Schlange (und
damit zum zweiten Einsatz der weissagenden Kassandra) lieber nochmal vom Baum der Erkenntnis essen wollen, also nicht
Teufels-, sondern Theorieeintreibung betreiben möchten, können leicht übersehen,
daß ihre Alternative nicht weniger teuflisch ausfallen kann; ein Theor nämlich "war derjenige, der das Orakel von
Delphi befragte oder damit beauftragt war, den Göttern ein Opfer zu
darzubringen", so Raoul Schrott (Die
Musen. Fragmente einer Sprache der Dichtung, München 1997, p17).
[12]
"´Wenn man aufhört, an Gott zu glauben, muß man an den Menschen glauben´,
sagt Safranski, und vielleicht sei der radikale Biologist
Hitler der modernste, weil gottfernste aller Denker", so Harald
Martenstein unter dem Titel Bös zu sein
bedarf es wenig in der Münchner
Abendzeitung vom 23.09.1997.
[13] Ders., Die
Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde, FFM
1997, Teilbd.2, p848. Luhmanns Auslassungen über Protestbewegungen gehören zu
den wenigen Stellen innerhalb seines Gedankenkosmos, an denen man merkt, daß er
sich nicht richtig auskennt in der Materie; vielleicht sind es aber auch
Auslassungen, bei denen er, ganz gegen seine Gewohnheit, mehr als ihm guttut
auf persönliche Erfahrungen (der Kränkung?) zurückgreift.
[14] Bar irgendartlichen Mythisierens oder Anrufens esoterischer
Mächte, sondern weiterhin gesellschafts-theoretischen Erklärungsrahmen
annehmend, ist dennoch "das Böse" am transparentesten geworden in
diesem weiterhin nicht verstandenden Vorgang, in dem
aus Nachbarn Juden wurden.
[15]
Florian Rötzer, Böse, in: Ch.Wulf (Hg.): Vom
Menschen..., a.a.O., p927.
[16] Man
kann diese Fassung der Bedingungen jetzt erforderlicher Kulturtechniken des
Bewußtseins stärker hervorheben, wenn man sich dasjenige zu eigen macht und für
immer mehr Menschen als ihr Unbehagen bestimmend ansieht, was Kurt Tucholsky in
diesem Satz ausdrückt: "Es gibt keine Schuld. Es gibt nur den Ablauf der
Zeit." (Ders., Schnipsel; hg.
v. W.Hering u. H.Urban,
erweit. Ausg., Reinbek 1995, p292 (Nr.2519)). Sich bei allem, was man tut, doch
ausschließlich als jemand zu verstehen, der nur dem Ablauf der Zeit beiwohnt,
macht, wenn man fürs Warten keinen Grund mehr hat (das war eine der
wesentlichen Funktionen der Religion: das Warten begründen), verrückt, böse,
depressiv. Ob man diese Folgen empirisch oder eher logisch aus der
Zeitablaufexistenz zu ziehen hat, vermag ich nicht zu sagen. - Bei Eugen Rosenstock-Huessy ist das, was oben im Text als notwendige
Kulturtechnik beschrieben wird, religiös eingebettet: "Und der ehrt die
Götter, der die Zeiten unterscheidet. Denn nur dann kann jede Zeit hervorgehen,
nachdem sich die andere Zeit verhüllt hat. [..] Denn nur, was aufhört, gewesen zu sein, kann gegenwärtig werden. Nur was
aufhört, gegenwärtig zu sein, kann zukünftig werden." (ders.,
Das Wagnis der Sprache. Ein
aufzufindender Papyrus, hg. v. W.Gärtner, M.Gormann-Thelen u. W.L.Hohmann,
Essen 1997, p49.)
[17] Man
kennt diese Argumentationsfigur: Nicht der Gesetzesbrecher ist der wirkliche
Verbrecher, sondern der, der das Gesetz setzt; nicht das nachgemachte Geld ist
Falschgeld, sondern das Geld, das nachgemacht wird. Hier also: Nicht das
erscheinende Böse innerhalb vieler, auch guter Erscheinungen ist böse, sondern
das, was jegliche Erscheinung des Bösen verunmöglicht. Allerdings gilt für alle
nichttheologischen Toleranzler gegenüber dem Bösen
das, was di Nola für die kirchlich organisierte
Teufelsideologie sagt: "Die Rückkehr zum Teufel bewirkt eine Art Trägheit
und Betäubung des Bewußtseins, die dazu beiträgt, daß die realen Gründe für
Verfolgung, Gewalttätigkeit und Gemetzel auf die Ebene der Fantasie abgeschoben
werden" (di Nola, Der Teufel, a.a.O., p433).
[18]
"Der Gegensatz gut-böse, Ahuramazda-Ahriman,
erklärt sich in erster Linie aus der Auseinandersetzung zwischen Ariern und
Nichtariern, zwischen Anbetern der Deva und Anhängern des mazdaistischen
Gesetzes, vor allem in bezug auf das agrargesellschaftliche Symbol des
mißhandelten Ochsen und auf die Verheerungen der Felder. Mit anderen Worten:
die von den Bauern und Viehzüchtern aufgestellte ethisch-soziale Ordnung wird
ständig von den Nomaden und von denjenigen gefährdet, die keine Ackerbauern und
Viehzüchter sind"; so di Nolas (a.a.O., p54f.)
materialistische Herleitung der mazdaischen
Mythologie.
[19] Man
könnte auch sagen, daß es nur fürs Gute soetwas gibt
wie Dispositionen für Unterbrechungen, Abweichungen, Inversionen, Abstürze
einmal in Gang gesetzter Prozesse; denn diese passieren nicht in der Gegenwart,
sondern immer nur in der vergegenwärtigten zukünftigen Gegenwart, die ja
eigentlich keine Zukunft mehr ist, da sie in der gegenwärtigen Gegenwart längst
als vorweggenommene nur noch als vergangene Gegenwart erscheinen soll; so wie,
nun Chiasma bildend, die gegenwärtige Gegenwart
ihrerseits verschwindet in die vergegenwärtigte zukünftige Gegenwart, da
erstere Gegenwart ja nur als Ausführung der zukünftigen, und die zukünftige
Gegenwart ja nur als gegenwärtige gilt, um eins zu erreichen: daß die Zeit
still steht, daß es keine Überraschungen mehr gibt, daß alles so bleibt, wie es
ist, daß die Zukunft eine Untermenge der Gegenwart wird (mit der telematischen Infrastruktur des vernetzten Computers
scheint die Aufhebung vieler Weltdimensionen in die Virtualität und damit in
die Raum- und Zeitenfernungslosigkeit genau dieses
Bedürfnis nach einer chiasmatischen Entleerung von Gegenwart
und Zukunft fortzusetzen). - Daß der Marxismus zwar im Unterprogramm die Gegenwart
zur Untermenge einer Zukunft machen wollte, im Hauptprogramm jedoch auch
Gegenwart und Zukunft sich gegenseitig als jeweils leeren Menge voraussetzte,
verstärkt den Verdacht, daß er mehr als angenommen von religiös-moralischen
Schichten seinen Treibstoff bezog.
[20]
Dieses Operationalisieren vormals großflächiger
Einheiten in zeitlich diskrete kleinere Einheiten, dieses vorübergehend auf
vorübergehende Zustände vorübergehend Reagieren zeigt sich
gesellschaftspenetrierend in der Ökonomie, die in den letzten 10 Jahren eine
weitere Konsolidierung des alten Marxschen Satzes, daß alle Ökonomie letztlich
Ökonomie der Zeit sein, durchführte (die sog. just in time-production). Aber auch an
den Begriffen wie Kontaktgesellschaft (versus
Kontraktgesellschaft), Pointcasting (versus Broadcasting),
Erlebnisgesellschaft (versus Arbeitsgesellschaft),
und an der Auflösung eher statischer Bindungen (der Arbeitszeit, der
Intimbeziehungen, der Wohnorte) und organisierter Einheiten (Gewerkschaften,
Parteien, Überzeugungen) ist ablesbar, daß vormals stabile, verläßliche
Strukturen ihr resistentes Verhältnis gegenüber Zeitlichkeit auflösen und man
sich immer mehr von Fall zu Fall, von Ereignis zu Ereignis, von Zeit zu Zeit,
von Kombination, Auflösung und Rekombination, von momentaner Gebundenheit statt
kollektiver, allgemeiner Verbundenheit über die Zeit rettet.
[21]
Benedict de Spinoza, Ethik, nach geometrischer Methode dargestellt. Nach der Übersetzung
v. J.H.v. Kirchmann neu hg. v. Alexander Heine, Essen
(o.J.), p13.
[22] Diese
Beschreibung soll zurückgehen bis zu dem Pauluswort Römer I, 20, in dem bezeugt
wird, daß Gottes unsichtbares Wesen (invisibilia dei)
an den Werken seiner Schöpfung geistig erschaut werden kann (intellecta conspiciuntur).
[23] Siehe
Niklas Luhmann, Die Unterscheidung Gottes,
in: ders.: Soziologische
Aufklärung, Bd.4: Beiträge zur
funktionalen Differenzierung der Gesellschaft, 2.Aufl., Opladen
1994, p236-253.
[24] Dabei
hat es den Anschein, als ob sich das Rezeptionsverhalten gegenüber den modernen
Inszenierungen des Horrors nicht wesentlich von dem des späten 19.Jahrhunderts
unterscheidet: das Monströse, Abartige dort - der gefesselt-faszinierte
Leser hier, dazwischen eine unüberbrückbare Kluft. Viele moderne Horrorfilme
versuchen damit zu brechen, indem sie das Böse meist in etablierten
Mittelstandsschichten ein- und ausbrechen lassen. Aber so recht will die
angebotene Doppelidentifikation nicht gelingen.
[25] Wie vielleicht bekannt ist diese Einstellung,
nämlich die Moderne zu retten, aber die universalistischen Ansprüche an eine
Rationalität aufzugeben, maßgebend von Richard Rorty
in das intellektuelle Gespäch eingeführt wurden.
[26]
"Die nach dem Zusammenbruch des Kommunismus plötzlich überall vertretene
Meinung, daß der Mensch von Grund auf böse sei, übersieht in ihrer
generalisierenden Großspurigkeit, daß sich ein potentieller KZ-Kommandant u.a.U. auch zum IG-Farben-Lageristen hätte hochdienen können
und ein DDR-Agentenführer zu einem 1a-Kaufhausdedektiv. In jedem einzelnen Fall
machen letzten Endes die Verhältnisse die Musik, und die Gedankenfigur eines unaustilgbaren barbarischen Erbes ist wo nicht selbst
barbarisch, so doch Teil einer Ideologie, die immer nur lamentieren, aber nicht
die kleinste Kleinigkeit zum Besseren verändert sehen möchte", so Peter Rühmkorf (a.a.O., p408).