„Nach Dannen, ins erste Futur“.
Zum Tode von Dietmar Kamper
Bernd Ternes
Zwölf Tage nach Dietmar
Kampers 65. Geburtstag erschien in der taz
eine recht eigenartige Rezension Fritz von Klingengräffs.
Sie betraf den veröffentlichten Festband zu Kampers Geburtstag. Herr von Klingengräff sprach davon, daß ‚im Netz der Freundschaften
die Söhne und Brüder den 65-Jährigen zu Tode feiern’. Zwölf Tage nach dem Erscheinen
dieser Rezension verstarb Dietmar Kamper wirklich.
Die
letzten 12 Monate, schon gekennzeichnet durch die Erkrankung, waren nicht nur bestimmt
durch ein „Warten auf den Schmerz“ – so der Titel eines vivisektionierenden
Protokolls, das Dietmar Kamper mit einer Offenheit
anfertigte, daß es einem den Atem nimmt. Sie waren auch erfüllt durch die
Fortsetzung der Radikalität, mit der Kamper nicht zu
denken pflegte, sondern tatsächlich dachte: Versuche, als Geistesmensch noch
einmal erwachsen zu werden, und zwar im Raum; erste, weitausholende Versuche,
„die Dinge zum Sprechen zu bringen, die Chiasmata in
den Metaphern aufzuwecken, dem Traum die Vorhand zu überlassen“, was sich in
einem umfangreichen Manuskript mit dem Titel Nach Dannen, ins erste Futur Gestalt
gab; erste Versuche, das über Jahrzehnte gesammelte Material zur Geschichte der
Inquisition und der Ketzer in eine große Abhandlung mit dem Arbeitstitel Der
Augenblick des Ketzers zu überführen; erste Versuche, den Spannungsbogen der
Historischen Anthropologie, dem er sich 30 Jahre lang theoretisch aussetzte –
stichpunktartig markierbar durch: ‚Leben des Körpers’ (Prähistorie:
Übergang von Ritus zu Mythos; Mimesis); ‚Tod des Körpers’ – ‚Leben der Sprache’
(Zivilisationsgeschichte: Abstraktionsprozeß; Differenz von Realität und
Symbol); ‚Tod der Sprache’ (Posthistorie: Übergang von der Phantasie zur
Maschine; Simulation) – diesen Bogen also erweitert und erneut grundlegend zu
denken, und zwar im Begriff der exzentrischen Paradoxie, einen Begriff, den es
so noch nicht ‚gibt’, von dem man nur sagen kann, daß er die „exzentrische
Positionalität“ des Menschen (Plessner) erweitern,
einlösen oder vielleicht ablösen könnte; Versuche, ernst zu machen mit der
Einsicht, daß nur das, „was sich sprachlich selbst verschlingt, ausgesagt
werden kann“, um damit eine Dringlichkeit des Querschnitts zwischen Autobiographie
und Historischer Anthropologie an sich zu probieren, die vor allem eins zu
leisten hat: „sein eigenes Verschwinden zu zeigen“, wie es Kamper
im Vorwort seines letzten Buches Horizontwechsel formulierte. Die Konsequenzen,
die eine solche Bataille'sche „Reise ans Ende des dem
Menschen Möglichen“ mit sich bringt, sind weitreichend: „Keine Harmlosigkeit
mehr, keine Stereotypie der Unschuld. Sorry.“ Den
Untergrund dafür gab ein Satz von Nietzsche, ein Satz, der, so scheint es mir,
das Aushalten eines Jahrzehnte andauernden, das Denken aussetzenden Chiasmas (KörperDenken) mit dem
lakonischen Eingeständnis des notwendigen Gescheitertseins
berührt: „Ich bin ein Wortemacher: was liegt an
Worten? was liegt an mir?“ Oder, wie Kamper sagte:
„Auch am Fuße der Buchstaben gibt es weiterhin nur Buchstaben“. Wie kein anderer
Philosoph und Soziologie spürte er radikal formulierend den paradoxalen
Wirkungen nach, die eine cartesianisch-christologische
Ontologie anrichtete, indem sie den menschlichen Leib aus dem Feld des Rationalen
exkludierte und ihn gleichzeitig den abstrakten
Regimes umso unerbittlicher unterwarf; spürte er dem
Imaginären nach, das umso totaler wird, je mehr der
Geist den Körper machtvoll zu vergessen und zu verleugnen sucht; spürte er den
Aussichtslosigkeiten der Versuche nach, dem Körper eine eigene Rationalität und
Darstellungswürde zu geben. Dietmar Kamper erwähnte
oft den borromäischen Knoten als Sinnbild dafür, wie
überhaupt noch Denken passieren könne. Und er verwendete ebendiesen Knoten, denkend:
Die Anstrengung liegt darin, drei Fäden zu drei Fadenringen so zu verknoten,
daß sie zwar ineinander verschlungen sind, aber so, daß beim Durchschneiden
eines Ringes die beiden anderen frei sind. Noch schwieriger wird es, einen
solchen Knoten mit einer beliebigen Anzahl von Fadenringen herzustellen. Denn
er müßte, sobald wir nur einen Faden durchschneiden, alle anderen Ringe ohne
Ausnahme freigeben. Hält man sich an dieses Komplexe, dann stößt die Vorstellungskraft
schnell an ihre Grenzen. Man ist der Schwierigkeit ausgesetzt,
Nicht-Darstellbares darstellen, Unmögliches möglich machen zu wollen. Genau dem
setzte sich das Denken Kampers immer aus. Es war ein ausgesetztes Denken der Aisthesis zwischen Abstraktion und Imagination, das unter
großen Anstrengungen der Unmöglichkeit die Treue hielt, „für das Ende der
Bilder ein Bild“ zu finden; das aber gleichsam nicht hinter Lacans
Überzeugung zurück ging, nach der jedes Gelächter eine Befreiung von einem Bild
ist.
„Was liegt an Worten?
was liegt an mir?“ Es lag viel an Dietmar Kamper. Und
er hat viele Worte gemacht. Man braucht 52 Buchseiten, um aufzuzählen, was und
wieviel er geschrieben hat. Er war Kopf des Interdiziplinären
Zentrums für Historische Anthropologie, das der Freien Universität Berlin
angegliedert ist, wo er seit 1979 als Professor lehrte; er gab die Zeitschriften
Tumult und Paragrana mit heraus, die Buchreihe Logik
und Leidenschaft, bestritt bis zu 50 außeruniversitäre Veranstaltungen im Jahr,
ob als Redner oder Initiator; sein Netz der Freundschaften mit lebenden und
toten Hören und Sagern war unermeßlich, wie auch
seine Fähigkeit, zu moderieren; er diplomierte, promovierte und habilitierte soviele Studierende wie kein anderer: und blieb darin das,
was die meisten Akademiker nicht mehr zustande brachten, nämlich: freundlich
und frei von Zynismus. Daß Dietmar Kamper – ein Gelehrter
sans phrase und damit
eklatanter Kontrast zum Gros verbeamteter Akademiker – an einer Institution wie
der Universität anzutreffen war, ist nicht der Universität geschuldet, sondern
einem Beharrungsvermögen Kampers, einem Beharrungsvermögen, das niemals hartnäckig
wurde. Es sind viele Studierende und Zeitgenossen, für die er einer der wenigen
war, zu denen man überhaupt noch gehen konnte, so man sich dem Abenteuer der
Verzweiflung und dem Abgrund des Denkens aussetzen wollte. Es war ein Denken,
Zuhören und Reden, das Lacan und Marx, Adorno und
Augustinus, Cioran und Hegel, Bataille und Hölderlin,
Heidegger und Kant als Material verband zu einem Wissen, das die Spannung hielt
zwischen gegenwärtiger Zeit und den Bedingungen zur Ermöglichung von Historie.
Weit jenseits eines Sichnützlichmachens für
gesellschaftliche Verkehre, und weit jenseits einer esoterischen Wächterschaft der ‚leeren Stelle’ Mensch, versuchte Kampers
Historische Anthropologie die Zukünftigkeit der Menschen vor (theoretischer,
soziologischer, biotechnischer) Durchdringung mit gegenwärtigen Menschenformen
zu bewahren. Sie sollte Zukunft bewahren dadurch, daß sowohl weiterhin ein
historisches Wandlungskontinuum für Menschen der Zukunft als auch eine
jederzeit mögliche Ablösung der Zukunft von ihren Historien denkbar bleiben.
Mit dieser Geschichtsfassung bliebe es ihr möglich, die Geschichte der Produktion
von Geschichtslosigkeit nicht rigide historisieren zu müssen; und es bliebe ihr
möglich, Geschichte selbst als Anwendungsfall von Nonhistorizität zu denken.
Denn
weiterhin gilt: „Das Leben lebt nicht“. Menschen fehlt das Organ zum Leben auch
nach erfolgreicher Ontogenese. Und: Menschen sind weiterhin unvergleichbar, da
alleine auf der Erde. Daraus folgt, besser auf irgend Besetzung/Beschriftung
der Menschen zu verzichten denn eine differenzlose Bezeichnung dafür, was
Menschen sind, einzuführen.
Dietmar Kamper war überzeugt, daß jeder Mensch zaubern kann; er
darf es nur nicht wollen. Dietmar Kamper konnte
zaubern, weil er nicht anders konnte.