Die Explosion des Vergessens: Wie mit zwei Schlägen das Erinnern
vergessen und
Vergessenes erinnert wurde
Bernd Ternes
These 1: Durch die passierten und
geplanten „Anschläge“[1] aufs
Welthandelszentrum, das Pentagon und das Weiße Haus („wirtschaftlich-militärisch-politischer
Komplex“) ist dem „wissenden“ Westen in die Haut geritzt worden, daß sogenannte
Verlierer niemals vergessen werden, daß die westliche Zivilisation auf Bergen
von Leichen gebaut ist. Wenn es bis jetzt noch wie auch immer deformierte
Verschiebungen und Verdrängungen der grausamen Geschichte Europas und der USAmerikas gab, so werden diese mit den Schlägen am 11.
September aufhören. Die Zeit der Heuchelei in den tieferen Schichten kultureller,
politischer und audiovisueller Überlieferung und Reproduktion wird aufhören.
Man wird einsehen, daß man der übrigen Welt nichts mehr vormachen kann (in
allen Bedeutungen des Wortes „Vormacht“). Man nimmt den „Anschlag auf die
westliche Zivilisation“ an, weil man nun ultimativ unterrichtet, vielleicht
sogar befreiend bekehrt worden ist darüber, daß ebendiese Zivilisation als eine
Variante der Barbarei gilt, gar ist. Man wird die „Anschläge“ begrüßen
(natürlich nicht in den Öffentlichkeiten) als Anlaß, nun endlich einen
bestimmten Rahmen der Legitimation und des Schuldseins abzustreifen. Der passierte
„Terror“ befreit „den Westen“ von den Hemmnissen, die sich ergeben, wenn man propagieren
will, daß demokratisch-kapitalistische Gewalt besser, moralischer ist denn
irgend andere Gewalt: Mit den beiden Schlägen bekommt die „westliche
Zivilisation“ ihre Maske vom Gesicht gerissen, und was sich da zeigt, ist
nicht,
so These 2, der sich nun endgültig
entpuppende Lebenserhaltungswille einer Macht- und Wirtschaftspolitik, die je
nach ihren Interessen bestimmt, was leben, was sterben soll, was Feind, was
Freund ist. Was sich zeigt, ist vielmehr ein noch ängstlich genießendes
Gesicht, das ausdrückt: Ich bin ein Opfer. Und dieses Opfer, glänzend bedient
durch eine bedrohungsheißhungrige Journaille (die weitgehend gleichgeschaltet
agierte), hat nun nicht wie sonst nur seinen Körper (die Geschichte machen die
Sieger); es hat diesmal die Möglichkeit, eine eigene alte Geschichte
umzuschreiben, gar zu löschen. Der Sieger der Zivilisation, der Mächtigste, der
von sich vollständig Eingenommene, der beinahe die gesamte Welt nach innen
Integrierende (wie brutal auch immer) bekommt mit den Anschlägen nun die
Möglichkeit, sein eigenes Gegenteil zu werden, um wirklich alles zu sein.
Paradox: Um wirklich vollständig zu sein (also Welt zu beherrschen), bedarf es
der Unvollständigkeit. Man wir nun als Sieger Opfer spielen und dabei all die
Opfer, die das bisherige Siegen hinterließ, vergessen, vergessen dadurch, daß
man sich nun in dieselbe Reihe stellen kann.
1992 schrieben Oskar Negt
und Alexander Kluge in ihrem Buch Maßverhältnisse des Politischen (FFM,
p62-63), das sich der Renovierung des Unterscheidungsvermögens widmete,
folgendes: „Wie nie zuvor in der Geschichte dieses Jahrhunderts findet eine
merkwürdige Umverteilung in der politischen Sprache statt; vieles von dem, was
man in den letzten Jahrzehnten der Vergangenheit zuzuschlagen entschlossen und
bereit war, erlebt plötzlich eine gewaltige Aufwertung und einen geradezu
erdrückenden Realitätszuwachs: Staat, Nation, Kapital, Religion und Geld
assoziieren sich nun in einer Weise mit Freiheit, Selbstbestimmung und Demokratie,
als hätte es die Blutlinie dieser Begriffe im 20. Jahrhundert nie gegeben. Dem
Bedeutungs- und Erklärungsgewinn dieser Worte der herrschenden Gruppen entspricht
die Entleerung von Begriffen wie Solidarität, Gemeinwesen, Gemeinwirtschaft,
vernünftige gesellschaftliche Organisation. Daß die Sieger in diesem
gigantischen gesellschaftlichen Sprachspiel so gut mit ihrem Besetzungswillen vorankommen,
ist nicht zuletzt darin begründet, daß die Linke ihre Begriffe zu wenig als
Griffe zur Veränderung der Verhältnisse gebraucht hat, sie vielmehr als leblose
Substanzformeln aufbewahrt“.
Das Vergessen der Blutlinie war also
schon vor gut 10 Jahren im fortgeschrittenen Stadium, die saubergewaschenen
Begriffe erinnerten schon nicht mehr an den Akt des großen Säuberns, die
entleerten und entehrten Begriffe standen nur noch fürs Untergegangene bzw. für
eine Minimalforderung ans kapitalistische Konkurrenzprinzip.
Am 11. September 2001 haben, wie es
heißt, sogenannte islamische Extremisten daran erinnert, daß es diese Blutlinie
gibt, daß Demokratie, Freiheit, Selbstbestimmung im westlich-kapitalistischen
Sinne immer Effekt, immer Kombattanten von Massakern sind. Ihre Erinnerung ist
als solche allerdings in der Tat nicht zu erkennen, da ebendiese Tat das genaue
Gegenteil provoziert: Vergessen. Dadurch, daß die Gewalt, das Töten von
„Zivilisten“ so bombastisch, so tabubrechend, und zudem so eindeutig den „Terroristen“
zuzuordnen ist, entsteht eine kaum übersteigbare Wand des Vergessens, daß es
das Angegriffene ist („the american
way of life“), von dem Gewalt, Tod, Blutlinien ausgehen. Ebenso dadurch, daß
sich die Art und Weise der Gewalt in nichts von der sonst bekannten unterscheidet
(My Lai, Hiroshima), außer daß sie nicht als
völkerrechtlich anerkannte kriegerische Gewalt passierte (was von den USA sehr
schnell geändert wurde durch einen Natobeschluß: Die
Gewalt bekam den Status kriegerischer Gewalt). Kurzum: Es handelt sich hier nicht
um eine Art Nullmord im Sinne Buggerts.[2] Auch
nicht um einen ästhetischen Mord, wie es Karlheinz Stockhausen in einer ersten
euphorischen Sekunde meinte empfunden zu haben. Und gleichsam nicht um eine Art
spiegelbildliche Inszenierung clichéhafter Vorstellungen
des Verhältnisses zwischen abstraktem Rationalismus und konkretem Irrationalismus,
im Sinne von: Das, was diese WTC-Architektur mit
ihrer software (Konzentration von Firmen der kapitalistischen
Welt) abstrakt an Elend und Gewalt in der Welt produziert, wird nun konkret an
ihr (und ihrer soft- und wetware) zum Ausdruck
gebracht; also eine Art Konkretion der abstrakten
Gewalt, die nicht nur symbolisch an und in diesem Welthandelszentrum konzentriert
ist. Und auch zieht das sehr naheliegende Interpretament
nicht so recht, nach dem die Anschläge eine neue Arena der Konkurrenz ums
richtige Prinzip der Lebenserhaltung, des Überlebens aufgemacht hätten (Samuel
Huntington nennt das den Kampf der Kulturen), im Sinne von: Wer ist der Stärkere:
der, der den Tod nicht mehr fürchtet, weil es für ihn nur ein wirkliches Leben
nach dem (Märtyrer)-Tod gibt; oder der, der alles daran setzt, ein Leben vor
dem Tod zu gewinnen, und sei es auf Leben und Tod?
Das Problem, diesen Anschlag zu
verstehen, besteht darin, so explizit wie selten gezwungen zu sein, auf reales
und/oder paranoisches Nichtwissen zurückgreifen zu müssen. Nicht so sehr
Nichtwissen im Sinne von Unwissen, wer die Täter sind, wer sie unterstützt
(auch wenn dies hilflose Unternehmungen sind, Staaten als Adressen eines möglichen
Gegenangriffs auszumachen, die Terroristen unterstützen; ein Anspruch der USA,
der mittlerweile auch von der UNO abgesegnet wurde), wie zu agieren bzw. zu
reagieren sei usw. Nichtwissen besteht deswegen explizit, da nun jegliche Kriterien
fehlen, die die westlich-kapitalistische Welt noch einteilen könnte in Gebiete/
Sachen/ Menschen, die bedroht, und solche, die nicht bedroht sind. Dieses zum
Teil auch gewollte Nichtwissen (also die niemals öffentlich einzugestehende
Lust, daß es nun bitte weitere Anschläge zu geben habe) besteht schlicht darin,
davon ausgehen zu müssen, daß es keine Anläße für Gewalt
mehr geben muß, daß auch keine speziellen Menschen mehr Ziel von Gewalt sind
(Menschen, die getötet werden, sind hier tatsächlich „Kollateralschäden“),
und daß niemand weiß, wie groß die Optionen für Gewalttätigkeit werden, wenn
sich die Täter nicht mehr um ihr eigenes Leben scheren (das letztere scheint
der einzige Unterschied zu derjenigen Gewalt zu sein, der die dritte und vierte
Welt bisher ausgesetzt war durch den Kapitalismus (remember
Bophal 1984); nutzt es den Opfern, daß die
Überlebenden wissen, daß es sich entweder um ein Wirtschaftsverbrechen, ein
Kriegsverbrechen, oder um ein Gewaltverbrechen gehandelt hat?
Das Eindeutige an den Anschlägen ist, daß
sie es ausschließen, Partei zu ergreifen. Es gibt nichts, was einen entweder
auf die Seite des angegriffenen Angreifers oder auf die des angreifenden
Angegriffenen schlagen könnte. Beides gehört zusammen.[3] Was
der „Westen“ zumeist abstreitet, nämlich mit seinem Kapitalismus Werte und
Welten anderer Kultur- und Zivilisationshorizonte zu zerstören, das hat er
jetzt aufs eigene Brot geschmiert bekommen. Er reagiert genau so, wie es bestimmte
islamische Stimmen immer taten. Auch darin nun also Gleichklang. Es herrscht
Übereinstimmung, daß es jetzt nicht mehr um bestimmte Programme geht: Es geht
jetzt um die Codes. Und neben den wohl unzähligen Veränderungen, die diese
Codes (des Westens) gerade dadurch erfahren, daß sie nun bewahrt, geschützt, verteidigt
etc. werden, werden zwei Veränderungen ganz sicher passieren: „Der Westen“ erinnert sich daran, in einer Welt zu
sein, die ihm nicht ganz gehört; und er vergißt seine Geschichte des Tötens
derer, die nicht zu ihm gehören wollten.
[1] Anführungszeichen
deswegen, weil ich der Möglichkeit, daß es sich bei den Angriffen um bekannt gewesene
Angriffe handelte (wie damals in Pearl Harbour?) die
gleiche Wahrscheinlichkeit zumesse wie der Möglichkeit, daß alle relevanten
US-Behörden tatsächlich überrascht wurden. Heute (02.10.2001) ist übrigens
definitiv der sogenannte Bündnis- bzw. Beistandsfall ausgerufen worden: das
bedeutet, daß ab heute nicht mehr daran gezweifelt werden darf, ob der Angriff
von außen kam und ob man wirklich weiß, wer der/die Täter ist/sind.
[2] In Christoph Buggerts
Hörspiel Nullmord aus der Trilogie
des bürgerlichen Wahnsinns werden u.a. Menschen
beschrieben, die töten, weil sie sich schuldig fühlen. Da ist von einem
normalen Vater die Rede, der wieder mal an das Bett seines schlafenden
Töchterchens tritt, um sich 10 Minuten an dieser flach ausgestreckten, ruhig
atmenden Unschuld zu erfreuen; dem sich dann plötzlich die Frage stellt, ob er überhaupt
das Recht habe, sein schwaches, durch und durch von Subalternität
und Kleinmut zerfressenes Leben in die nächste Generation hinein zu verlängern;
der dann durch allerlei Selbstanklagen den Spiegel der Scham bis unter die
Hirnschale hinauf anschwellen läßt, sich daraufhin entscheidet, daß es so nicht
mehr weitergehen könne, aus der Küche mit einem Messer zurückkehrt zur schlafenden
Tochter, ihr mehrmals in den Hals sticht und das hervorschießende Blut in sich
aufzunehmen versucht, weil, ja weil er seine eigene Mediokrität
und Schändlichkeit in sich zurücktrinken mußte: um die Korrektur eines Makels,
nicht um ein Verbrechen habe es sich handeln sollen
[3] Passend für diesen
Zusammenhang Dietmar Kampers Auslassung über das Verhältnis Orthodoxie/Ketzer:
„Der Orthodoxe braucht den Ketzer, um sich zu festigen. Ein Mechanismus von
brutaler Einfachheit. Man lebt vom Tod des Anderen. Nach und nach erfaßt die
Brutalität auch den Ketzer, der seinerseits nach „Rechtsgläubigkeit“ verlangt,
so daß über lange Zeiten der Auseinandersetzung hin nur noch zwei Orthodoxien
im Spiel sind“ (Der Augenblick des Ketzers. Methodologische Präliminarien;
unveröff. Manuskript, Otzberg 2001).