Bernd Ternes
Auszug der Habilitation (2003)
„Der Mensch
wird sich im Funktionieren selbst von der intelligentesten Maschine immer durch
den Rausch des Funktionierens und seine Lust unterscheiden“
Jean Baudrillard, Transparenz
des Bösen,
dt., Berlin 1992, p61
„Nur was sich sprachlich
selbst verschlingt, kann ausgesagt werden. Das ist der unvordenkliche Ruck von
der Metastase zum Chiasma. Was einen Hiatus zum Freisprechen ergibt“
Dietmar Kamper, Horizontwechsel,
München 2001, p8
Schenkt
man der Etymologie Glauben und geht von einer Wortverwandtschaft zwischen
„dezent“ und „dóxa“ aus[1],
dann könnte man trotz Skepsis gegenüber etymologischen
Verwandtschaftsstiftungen schnell den Umkehrschluß ziehen, daß pará-dóxa es
eher mit Indezenz zu tun hat. Das legt schon die Bedeutung von griech. pará-doxos
nahe: ‚unerwartet, sonderbar’. Paradoxes ist unschicklich, es ‚schickt sich
nicht’ selbst, es scheint eine andere Weltmasse zu besitzen, die es träger,
intransparent macht (im Vergleich zum Geschick[ten]); es wird also auch erheblich
umständlicher bzw. mit weniger Selbstverständlichkeit empfangen. Paradoxes
kommt nicht an, es kommt jedoch einfach daher und ist da; wenngleich es
zuweilen eleganter und geschickter daherkommt denn dezent Annehmbares. Auf
jeden Fall erscheint Paradoxes grausamer als das der Doxa Genehme, wenngleich
weniger grausam denn Wahrheit. Grausamkeit galt und gilt mancherorts als
genuine Eigenschaft der Wahrheit, deren Stelle innerhalb der Troika Wahres/
Schönes/ Gutes das Paradox zunehmend einzunehmen gewillt ist; und dies nicht
nur in der Wissenschaft, sondern gleichsam zunehmend in den kommunikativen
Einsichten kommunikativen Handelns (Ethik) sowie schon seit längerem in der
Ästhetik; allerdings abnehmend in der Liebe, dem ausgewiesenen Feld paradoxaler
Seinsweise. Infolgedessen übernimmt das Para nicht nur den Radius der Wahrheit
(zuletzt nur noch für die Ontologie des Satzes, für die formalpragmatischen
Bedingungen des argumentativen Sprechens sowie für die metapherologische
Dimension der Wortbedeutungen ausgewiesen; Wittgenstein, Habermas, Nietzsche),
sondern transgrediert – man möchte sagen: – überall hinein und hinaus. Dabei
hat Luhmann zwar recht, wenn er sagt, daß die zunehmende Paradoxierung der
Zivilisation noch wenig zur Zivilisierung der Paradoxien beigetragen hat[2];
aber es stimmt ebenfalls, daß die durch Paradoxierung entstehende Grausamkeit
weit weniger tödlich erscheint denn die durch Wahrheit erzeugte. Oder spricht
hier schon ein anästhetisiertes Bewußtsein, das nicht mehr oder vielleicht auch
noch nicht mitbekommt, daß der Schmerz durch Wahrheit – ‚es ist wahr, daß p’ oder
‚es ist wahr, daß nicht p’; also Ausschließung – größer wird, wenn nun paradox
gilt: ‚es ist wahr, daß p’ und ‚es ist wahr, daß nicht p’ (bzw. ‚es ist
wahr, daß p’ und ‚es ist falsch, daß p’)?[3]
In der
klassischen Logik wird Paradoxie beschrieben als Widerstreit zweier oder
mehrerer scheinbar wahrer oder beweisbarer Aussagen, die jedoch zusammengenommen
einen logischen Widerspruch darzustellen scheinen und so den Eindruck der
Sinnwidrigkeit erwecken. – Dieses ‚Zusammennehmen’ scheint also Paradoxie zu
produzieren. Deutlich wird das am sogenannten unmöglichen Dreizack:
Die
allgemeine Beschreibung für dieses Unmögliche des Dreizacks lautet: Die
‚Projektion’ scheinbar dreidimensionaler ‚Gegenstände’ auf die zweidimensionale
Ebene kann zu paradoxen Wahrnehmungen und Interpretationen führen, wenn unser
Gehirn widersprüchlich erscheinende Einzelinformationen zu einem stimmigen
Gesamtbild zusammenfügen will. Notabene: ein dreidimensionales Gesamtbild
innerhalb der Zweidimensionalität! Mit großzügiger ‚pars pro toto’-Haltung
könnte man versucht sein zu sagen, daß paradoxienerzeugende Projektionen per se
‚Abfallprodukte’ jeder Abstraktion sind, die eine multidimensionale
„Wirklichkeit“ in eine minderdimensionale Wirklichkeit übersetzt. Paradoxie
erscheint dann als eine Art zeitgenössisches Phlogiston der Medien- und Dimensionenübersetzungsmodi;
und es wird wie bei der Phlogistontheorie (Georg Ernst Stahls) nur eine Frage
der Zeit sein, bis man eine Theorie entweichender Paradoxie durch die
Entdeckung anderer Vorgänge der „geschichtlichen Oxidation“ aussetzt und damit
annulliert.[4]
Noch
eindeutiger wird das ‚Danebengehen’ durch Selbstbezüglichkeit bei der von Georg
Cantor eingeführten und durch Gottlob Frege logisierten Mengenlehre. Mengen
sind Zusammenfassungen unterscheidbarer Einheiten zu einem Ganzen. Bertrand
Russell fand dann heraus, daß die Mengenlehre widersprüchlich sei. Gibt man
nämlich die Menge aller Mengen an, die sich nicht selbst als Element enthalten
(die sogenannte Russellmenge), dann kann man nicht mehr angeben, was zur Menge
gehört und was nicht – um dem zu entgehen, erfand man eine Ordonanz von Aussagenklassen,
die durch ebendiese strikt getrennt wurden; und man aktivierte eine Blindheit,
die die Frage, in welche Klasse der Akt des Zuweisens von Aussagen in entweder
die eine oder die andere Klasse gehört, tunlichst verunsichtbarte. – Man merkt,
daß hier noch das Problem west, das bereits an Kant angelegt werden kann: So
wie man bei ihm die Frage stellen kann, zu welcher Seite die Unterscheidung
empirisch/ transzendental geschlagen werden muß (ist die Unterscheidung
empirisch oder ist sie transzendental?), so kommt bei allen Unternehmungen, die
logisch und mathematisch eine Ordnung erstellen wollen, die weder der Ordnung
noch dem Chaos entspringt, die Frage auf den Status der Performanz des Ordnens,
Kategorisierens, Unterscheidens, kurz: die Frage auf das schwierige Verhältnis
der Selbst- und Fremdreferenz im Referieren selbst; und bleibt unbeantwortet,
weil sie nur noch beobachtbar ist als etwas, das nicht beobachtbar ist resp.
nicht zu beobachten ist.[5]
Man kann
zumindest für bestimmte geisteswissenschaftliche Vokabularien annehmen, daß die
Arbeit von Russell und Whitehead, nämlich bestimmte Aussagen
zu verbieten, um Paradoxien zu vermeiden, heutzutage nicht viele Nachahmer
findet. Eher sucht man geradezu die Paradoxie,
stiftet gar eine gebrochene Wahrheit in ihr, im Sinne von: Da, wo es
paradox ist, da ist man auf etwas gestoßen, das wahrlich wirklich ist. Man kann
gar von einer Art antizenon’schen Zeit sprechen: Zenon von Eleas Paradoxien
– das Dichotomieparadoxon, das Paradoxon
von Achilles und der Schildkröte, das Paradoxon vom fliegenden Pfeil und das
Paradoxon von den Reihen in Bewegung – sollten ja die Weltauffassung von
Parmenides erhärten und die Realität von Vielheit und Bewegung widerlegen, indem
sie aus der Annahme, daß Vielheit und Bewegung real seien, paradoxe Konsequenzen
ableiteten. Zenon verwendete diese Paradoxien also als Grundlage indirekter Beweise,
um zu zeigen, daß etwas, was ist, nicht gleichzeitig etwas ist, was es nicht
ist. – Davon sind wir heute weit entfernt. Eingeübt durch den Begriff der
Hegel’schen und dann Marx’schen Dialektik, der in die Immanenz der Geschichte
‚hinabstieg’ und dort Widersprüche und Paradoxien ausmachte, dies allerdings in
der festen Überzeugung, es handele sich hier um Vorübergehendes, um Inkaufzunehmendes;
und ebenfalls eingeübt durch den soziologischen Systembegriff, der daran
anschließend nur noch die ‚geschichtsmetaphysischen’ Foci eines teleologisch
abgesicherten Beginns einer eigentlichen Geschichte menschlicher Gesellschaften
(klassenlose Gesellschaft) und eines Endes geschichtlicher Arbeit (Vernichtung
der Zukunft) wie abgestorbene Hüllen abzuziehen brauchte, um Systeme als ohne
Vernunft funktionierend zu beschreiben, befinden wir uns gegenwärtig in einer
Zeit, in der selbst die letzten, schon weitgehend akademistisch ausgearbeiteten
‚Alternativen’ zum Zerfall „der“ Welt, nämlich die Lebenswelt-Theorien, kaum
langsamer dem Zerfall geweiht sind.[6]
Eine
Inflationierung des Begriffs Paradoxie hat seit gut 20 Jahren statt, so als
gelte es, das Paradoxieverbot zu verbieten[7]; als gelte es, Begriffe
wie Sein, Dialektik, Grund von Erklärungslasten zu befreien, um diese Lasten in
den Begriff Paradoxie zu versenken.[8] Die Gesellschaft des
beginnenden 21. Jahrhunderts steht, so könnte man großformatig sagen, vor ihrer selbstproduzierten Sphinx, d.i. die
Paradoxie der Einheit des Unterschiedenen; die Paradoxie stellt flächendeckend
die Beobachtung, die sich auf sie beziehen und sie bezeichnen will, „in der
Form einer Kurzzeitoszillation still. Sie ergibt keine Anschlußfähigkeit,
sondern kursiert in sich selbst.“[9] Man könnte
sich dieses Kursieren auch vorstellen als ein immer mächtiger werdendes Rotieren,
das startet, nachdem die Vergesellschaftung der Einsicht, daß man das Glück
nicht außerhalb der Gesetze finden kann (Balzac), komplettiert wurde durch die
Einsicht, es auch nicht innerhalb der Gesetze zu finden.
In der Mathematik hat man den Ausweg in der Erfindung imaginärer Zahlen
gefunden. Da
jede reelle Zahl, ob positiv oder negativ, mit sich selbst multipliziert,
positiv ist, dürfte es Wurzeln aus negativen Zahlen gar nicht geben.[10] Trotzdem haben die
Mathematiker einen Weg gefunden, mit solchen Wurzeln umzugehen. Sie haben
einfach eine neue Zahlengruppe eingeführt - die sogenannten imaginären Zahlen;
und sie haben Spencer Brown, um zumindest kurzfristig dem Gelingen des
Täuschens auf Zeit (Peter Fuchs) zuzuarbeiten. Denn, so Paul Bazunu: „Mathematik
ist der Inbegriff von Exaktheit, Klarheit, Sicherheit und Korrektheit. Es muss
ein Schock für diese Kultur gewesen sein, festzustellen, dass, wenn man sie
beobachtet, Mathematik eine paradoxe Veranstaltung ist. Der Rückgriff auf die
Spencer Brown-Logik mag eine Reaktion auf den durch die Gödelschen Ergebnisse
ausgelösten Schock sein“[11].
Spencer Brown-Logik, so Bazunu, bietet Sicherheit der Argumentation in paradoxen
Situationen; und sie erlaubt, wie Dirk Baecker schreibt, Formen zu identifizieren,
„die auch im Chaotischen noch eine Ordnung erkennen lassen.“[12]
In der
‚nachlogischen’ Logik hat man für die ansteigende Logikresistenz des Lebens[13] (oder muß man sagen: für die abnehmende
Lebensresistenz der Logik?) den Ausweg in die Verzeitlichung gefunden – an sich
zeitimmune Bedingungsverhältnisse werden temporalisiert und dadurch vorüber-gehend
entparadoxiert.[14] Damit ermöglicht man Handlungsfähigkeit auch noch
„hinter“ dem Horizont klassisch erkannter Widersprüche, Antinomien und Paradoxien;
und man erweitert damit ein eher kognitives Verhältnis zu den Erfordernissen
von Welt – aber man handelt sich auch erhebliche Probleme ein, die Societas
betreffend, denn: Was bei der Fragmentierung des Vernunft- und Kulturbegriffs
noch halbwegs funktionierte – die Berücksichtigung verschiedener
Rationalitäten, verschiedener Kulturkontexte, kurz: Pluralismus –, das stellt
das Denken und das soziale Handeln bei der Temporalisierung von Zeit (für die
Verzeitlichung von Logik) vor erhebliche Schwierigkeiten: Wie sollen
Verläßlichkeit, Nachvollziehbarkeit, Gebundenheit (also: tonos und nomos)
noch erreicht werden, wenn nun auch noch die jeweilige zeitliche Verfassung
jeweiliger sozialer Komponenten berücksichtigt wird? Man denke nur an die
Schwierigkeiten im Umgang mit launischen, volatilen Menschen, um zu ermessen,
welche Komplexität entsteht, berücksichtigt man die jeweilige Eigenzeit der jeweiligen
Welt des jeweils anderen (Systems). Eugen Rosenstock-Huessy wußte von der
Schwierigkeit, wenn die Zeiten zu viele und zu schnell werden für die konventionelle
Distinktion in vorher und nachher bzw. für Distinktionen, die auf Zeitimmunität
gebaut waren: „Und der ehrt die Götter, der die Zeiten unterscheidet. Denn nur
dann kann jede Zeit hervorgehen, nachdem sich die andere Zeit verhüllt hat.
[..] Denn nur, was aufhört, gewesen zu
sein, kann gegenwärtig werden. Nur was aufhört, gegenwärtig zu sein, kann
zukünftig werden.“[15]
Rosenstock-Huessy antwortet hier, so könnte man sagen, schon implizit einer von
Gleichzeitigkeit angefressenen Wirklichkeit, einer Gleichzeitigkeit mithin, die
„das Wesen“ einer Temporalisierung (nicht nur der Logik) darstellt; und die
wohl nicht mehr mit den Sonden großformatiger gesellschaftlicher Artefakte,
seien es Institutionen, Organisationen, Nationen usw., aufgespürt werden kann.
Gleichzeitigkeiten,
die sich nicht mehr hinter einem Kampf verbergen lassen, der darum geführt
wird, ihnen entweder Kontingenz oder Beliebigkeit unwiderruflich zuzuschreiben,
können zwecks Komplexitätsreduktion in Tautologien eingebunden werden. Diesen
Schritt vorbereitet hat ohne Zweifel die Differenzphilosophie resp. das politische
Ideologem des Pluralismus. Es scheint den meisten Beobachtern (ich schließe
mich da ein) erst nachträglich aufgegangen zu sein, daß die „Freilassung“ der
Beziehungen zwischen sachlicher, sozialer und zeitlicher Dimension gesellschaftlicher
Sinnproduktion und Sinndestruktion nicht einer Hermeneutik fürs Nichtidentische
zuarbeitete – wie es zu erhoffen war –, sondern vielmehr einer modernisierten
Hermetik des Identischen Vorschub leistete; einer keinesfalls nur operativen
Hermetik, die gerade noch über das Medium der (Gleich-)Zeitigkeit das
Statthaben anderer Identitätshermetiken registriert und zu akzeptieren bereit
ist, daß auch das Nichtidentische mit sich identisch ist.[16]
Tautologien sind
vermutlich die andere Seite der Paradoxien, vorausgesetzt, Paradoxie und
Tautologie bilden eine Unterscheidungseinheit, die selbst weder paradox noch
tautologisch genannt werden kann. Tautologien sind in der sozio‚logischen’ Matrix
bisher noch weitgehend abgedeckt durch die doppelte Negation[17],
auch wenn diese nicht mehr aus der Immanenz der Positivität auszubrechen
vermag, wie Guy Debord es beschreibt. Debord sieht seinen zentralen Begriff
„Spektakel“ sowohl als Positivität der Negation des Lebens, und das heißt: das
negierte Leben selbst wird positiv (und damit zumindest theoretisch negierbar);
er sieht aber gleichsam im Spektakel eine tiefsitzende Tautologie, der nichts,
absolut nichts mehr anhaben könne: „Das Spektakel stellt sich als eine
ungeheuere, unbestreitbare und unerreichbare Positivität dar. Es sagt nichts
mehr als: »Was erscheint, das ist gut; was gut ist, das erscheint.« Die durch
das Spektakel prinzipiell geforderte Haltung ist diese passive Hinnahme, die es
schon durch seine Art, unwiderlegbar zu erscheinen, durch sein Monopol des
Scheins faktisch erwirkt hat.“[18]
Tautologisch ist gesellschaftliche Wirklichkeit genau dann, wenn es keinen
Unterschied mehr macht, ob etwas einen Unterschied macht oder nicht – und zwar
nicht bezogen auf einen personalen oder sozialen Beobachter (soziale Systeme),
sondern bezogen auf die „Sache“ Wirklichkeit[19],
die nicht mehr nur auch, sondern durch und durch Ware geworden ist.
Ebendiese Eliminierung des Negativen durch vollständige Positivierung
der Negation von Leben (Debord) ‚satzontologisch’ eingeholt hat Wittgenstein.
Für Wittgenstein sind Tautologien
Extremfälle für Elementarsätze, die, indem sie bedingungslos wahr sind, nicht
falsch sein können, also keinen negativen Reflexionswert haben, also die
Unterscheidung wahr/ falsch sprengen bzw. marginalisieren: „Die Tautologie hat
keine Wahrheitsbedingungen, denn sie ist bedingungslos wahr.“[20]
Für erfahrene Rinsai-Zen-Buddhisten,
die die Bedingungslosigkeit noch auf die Dimension des Sinns/ Unsinns
auszudehnen gelernt haben, wären die Fragen, ob Tautologien in ‚ihrem’ Subjekt
des Aussagens paradox und ob Paradoxien in ‚ihrem’ Subjekt der Aussage
tautologisch sind, wohl auch als Koan gebrauchbar; in allen anderen und zudem
dezidiert nichtbuddhistischen Diskursen scheint hingegen die Aufrechterhaltung
einer Grenze zwischen Paradoxie und Tautologie mehr als notwendig zu sein[21]
– und zwar notwendig nicht fürs spezielle Unterscheiden, was paradox und was
tautologisch ist, sondern vielmehr notwendig fürs Aufrechterhalten des Unterscheidenkönnens
überhaupt.[22]
Dieses Aufrechterhalten ist sogar noch in der wohl weitestgehenden Fassung
eines Denkens, das sich keine Illusionen über Illusionen mehr machen will,
nämlich in der Fassung Baudrillards[23],
aufzufinden. Bei ihm heißen Paradoxie und Tautologie ‚Weiterführung des Nichts’
und ‚integrale Realität’. Er schreibt zum Abschluß seines Buches Das
perfekte Verbrechen dies: „[W]ir befinden uns vor einem doppelten Versuch:
der einer Vollendung der Welt, einer integralen Realität – und der einer
Weiterführung des Nichts (in den dieses Buch gehört). Beide sind zum Scheitern verurteilt.
Doch während das Scheitern eines Versuchs der Vollendung zwangsweise negativ
ist, ist das Scheitern eines Versuchs der Vernichtung zwangsweise lebenswichtig
und positiv. [...] Wenn das System darin scheitert, alles zu sein, dann wird
nichts von ihm bleiben. Wenn das Denken darin scheitert, nichts zu sein, dann
wird etwas von ihm bleiben.“ Will man also das Nichts weiterführen, dann habe
man nicht die Vollendung des Systems zu „wählen“, die paradoxerweise zur Vernichtung
führt, sondern sich im ‚Gegenteil’ für die Vernichtung zu entscheiden, die paradoxerweise
(solange sie ein Verbrechen ist) einen Rest, ein Nichtvernichtetes übrig läßt:
eben ein Nichts und nicht nichts. Und obwohl beide Vernichtungen in sich widersprüchlich
und aufeinanderbezogen paradox sind, bleiben sie, so Baudrillard, auch
tautologisch, da beide nur Variationen des Scheiterns sind, so daß das
Scheitern durch Vollendung und durch Verbrechen dasselbe bedeutet – und das ist
paradox und/ oder tautologisch. Baudrillard will auf einen Rest hinaus, der
übrigbleibt, der aber nicht aus einer ‚Materialität’ des Scheiterns abgeleitet
werden kann, auch nicht aus dem Prozeß des Scheiterns selbst. Das ist
folgerichtig, denn Scheitern gehört schon zum Betrieb, vielleicht gar schon zum
Konstituentien-Ensemble eines Systems.[24]
Aber wo kommt es her, das Überbleibsel, sprich: das Nichts als dasjenige, das
übrig bleibt? Wäre es zu verstehen als Effekt der Arbeit der Negation des
negierten Lebens, das nach Debord volle Positivität geworden ist? Und ist also
mit der doppelten Negation buchstäblich jede Positivität, die noch beansprucht,
was anderes denn negiertes Leben zu sein, eliminiert? Und ist damit ‚reine’
Negativität erzeugt, die weder in der Reflexion noch im Reflektierten noch im
Reflektierenden Halt findet? Ist das Nichts nun im Traum?[25]
Oder gar ein Träumen geworden, eine reine erkenntnislose Kontemplation im Sinne
Deleuzes? – Oder ist man hier an eine Stelle gelangt, an der man laut
auszurufen hat: Körper(-geschichte), übernehmen Sie!?[26]
Baudrillards Arbeit am und zum Nichts als Statthalter eines
Wirklichseins (des anderen des anderen), das nicht die Vernichtung durch
Tautologie, Indifferenz und auch Paradoxie forciert, sondern das als Bleibendes
das Substrat für die Möglichkeit des anders Weitergehens abgibt, ist weit aus
der Arbeit des Symbolischen gefallen, hat sich diabolisch gemacht, hält einen
kaum für möglich zu haltenden Abstand zur „Logik der Differenzen“[27],
und formuliert eine Perspektive, die der Exzentrik des Paradoxen sehr nahe zu
kommen scheint, nämlich: „Es gibt zwei Arten, die Entfremdung hinter sich zu
lassen: entweder über Aufhebung der Entfremdung und über Wiederaneignung des
Selbst – langweilig, und ohne große Hoffnung heutzutage. Oder über den anderen
Pol, den des absolut Anderen, des absoluten Exotismus. Die Alternative liegt im
exponentiellen Anderswo, das virtuell als etwas total Exzentrisches definiert
wird. Man darf sich mit der Entfremdung nicht abfinden, man muß zum anderen des
Anderen durchstoßen, zur radikalen Andersheit.“[28]
Der Andere, das Andere, die Andersheit, so Baudrillard, sind im entscheidenden
Sinne die ‚Instanz’, die einem erlaubt, sich nicht endlos zu wiederholen.
Hier, an diesem Punkt, an dem das Nichts, die Exzentrik, der/ das Andere
als letzte oder einzige Wirklichkeitsformate bestimmt werden, die ein
leidenschaftliches Nichttotsein (Viktor von Weizsäcker) garantieren, gibt es,
ausgehend vom Begriff der exzentrischen Paradoxie, eine skeptische Beschreibung
der Bedingungen des Nichttotseins; zumindest eine Beschreibung, in der es nicht
möglich ist, die Quasi-Forderungen Baudrillards („Nie man selbst sein, aber
auch nicht entfremdet: sich von außen in die Gestalt des Anderen einschreiben,
in seine fremde [..] Form, in diese geheime Figur, die die ereignishaften Vorgänge
ebenso anleitet wie die einzelnen Existenzen“)[29]
auch nur zu stellen. Das, was in der exzentrischen Paradoxie bleibt, ist das
Leblose.[30] Denn
nicht nur ist in den kapitalistischen Gesellschaften die Möglichkeit abhanden
gekommen, daß sich das Subjekt innerhalb der Initiation dadurch konstituiert,
daß es sich auflöst; auch abhanden gekommen ist die Möglichkeit, daß sich das
Subjekt auflöst genau dann, wenn es sich in konsumistischen
Ware-Geld-Beziehungsgestalten konstituiert.[31]
Nämliches läßt sich sagen zum Verhältnis zwischen dem Anderen und der
Wiederholung: Nicht nur ist in der total transgredierten ökonomischen Paradoxie
der Verknappungssteigerung und des Bedürfnisses nach Bedürfnisunbefriedigtheit
die Möglichkeit des Rausches als Gestalt der Ek-stasis verloren gegangen; auch
die Möglichkeit, in der Sucht durch permanente Wiederholung (des Kaufens,
Zusichnehmens, Betäubens etc.), verstanden als selbstlaufendes Kompensat für
den Verlust an Intensität, zumindest eine Erinnerung an den symbolischen Tod
aufrechtzuhalten[32], ist
dahin. „Nichts Niemand Nirgends Nie!: Nichts Niemand Nirgends Nie!: (die
Dreschmaschine rüttelte schtändig dazwischen, wir konnten sagen & denken
was wir wollten. Also lieber bloß zukukken.)“ – diese ersten Worte aus Arno
Schmidts Kaff auch Mare Crisium (1960) passen auch weiterhin als Szene
gegenwärtiger Existenz. Nur ist die Entscheidung, lieber bloß zuzuschauen, wie
auch die Möglichkeit, bloß zuzuschauen[33],
verschwunden. Was das heißt, im Rückblick festzustellen, daß man sagen & denken
konnte, was man wollte, festzustellen, daß es keinen Unterschied mehr macht, ob
man noch eines symbolischen Todes stirbt oder nicht, festzustellen, daß Leblosigkeit
sowohl nichts mit dem Tod als auch nichts mit dem Leben zu tun hat, könnte,
soziologischer in Form gebracht, am folgenden Kontrast-Zitat erkennbar sein.
Darin bündelt Philipp Sarasin eines der letzten Illusionssyndrome betreffs
eines wissenschaftlichen (sozialen) Weltbildes, um die Behauptung einer
Körpergeschichte plausibel zu machen. Er schreibt:
„Zentral [..] ist die Vorstellung, dass die Dinge in der Welt - die
‚natürlichen’, noch mehr aber die Artefakte - durch die sprachvermittelten
Prozesse der Bezeichnung, der Wahrnehmung und der Bedeutungszuschreibung sowie
ihrer Produktion und Verteilung erst zu Dingen in unserer sozialen Wirklichkeit
werden. Keines dieser Objekte ist ‚vorher’ schon da, existiert ‚für sich’ und
will bloß entdeckt werden, sondern wird grundsätzlich durch menschliche
Aktivität - Sprache und materielle Praktiken – ‚konstruiert’, das heißt als
erkennbares hergestellt.“[34]
Exzentrisch paradoxiert wäre es nun nicht mehr
möglich, von den diesen Aussagen unterliegenden Implikaten auszugehen, daß
soziale Wirklichkeit ‚für sich’ existiert (während alle anderen Dinge erst
durch Signifizierung, Wahrnehmung, Zuschreibung, Produktion und Distribution
Teile ebendieser sozialen Wirklichkeit werden); wäre es nicht mehr möglich,
davon auszugehen, daß Konstruieren und Herstellen ‚soziale Dinge’ sind, die
selbst nicht konstruiert, also selbst schlicht gegeben sind; und schließlich
wäre es nicht mehr möglich, menschliche Aktivität (Sprache, Arbeit,
Kommunikation) als eine Art Zentrum zu situieren, von dem aus die Vorstellungen
über soziale Wirklichkeit und diese Wirklichkeit selbst ihren Ausgang nehmen.
Die Produktionsmetapher (und vielleicht auch schon die Systemmetapher)[35],
die eindeutig den Akt der Aneignung und damit den Prozeß der Umwandlung (und
vielleicht gar die Möglichkeit besseren Lebens)[36]
mitkonnotiert, ist exzentrisch paradox gewendet Ausweis der Leblosigkeit ebendieser
‚menschlichen Aktivität’: und dies alles andere als im Sinne eines ‚Seins zum
Tode’, und auch nicht im Sinne eines (sich) verzehrenden Verausgabens; sondern
vielmehr im Sinne eines – zeitlichen?, geschichtlichen?, sozialen? –
Augenblicks der Erschöpfung des angeeigneten Weltmaterials und der Aneignung
selbst, eines Augenblicks, der nicht mehr vergehen will, der sich hält, der
sich ausbreitet, der sich in andere Zeit-, Welt- und Menschverhältnisse
‚hineinevakuiert’ hat[37],
kurz: im Sinne eines Augenblicks, der alles andere außer sich unterläßt.[38]
Die Zeit, in der jede Differenz sich oktroyierte – „[j]ede Differenz ist eine
sich-oktroyierende Differenz“[39]
– scheint abgeschlossen: Es ist der Augenblick, der sich geschichtlich durch
Differenzierung in die Zeitform Gegenwart hineinzwängte, dabei die
Gegenwärtigkeit der Gegenwart aus der Zeit drängte, und nun, nach der Differenzwerdung
von Welt (besser: nach dem Aus der Ausdifferenzierung)[40],
Differenz zu etwas Opakem, Monolithischem, Hermetischem modelt; und dies
passiert unter der Vorgabe der absoluten Positivität einer Abwesenheit, nämlich
der Abwesenheit einer Differenz zur Differenz (vulgo: Différance resp.
Paradoxie), also unter der – pragmatisch gesehen – Vorgabe, daß das Fehlen des
Unterschiedes zum unterscheidenden Unterscheiden eben der Unterschied zum
Unterscheiden ‚ist“: als Nicht-Sein, als Leere, als nichts oder als Nichts.[41]
Man hat diesem „Augenblick“, wenn ich es recht sehe, ‚geschichtspolitisch’
verschiedene Namen und Begriffe gegeben: marxistisch orientiert als vorerst
endgültiger Sieg der Produktionsverhältnisse über die Produktivkräfte (und
damit als vorerst endgültige Exklusion der Beziehungen zwischen Menschen aus
dem gesellschaftliche Synthesis konstituierenden Kreis); bürgerlich orientiert
als vorerst endgültiger Sieg der Technik über die Kultur (Gehlen’sches posthistoire).
Man könnte auch, einen anderen Anschnitt wählend, sagen, daß in diesem
„Augenblick“ ein Žižek’sches Subjekt – das Subjekt ist „der aus den Fugen
geratene Exzeß, das heißt der paradoxe Punkt, an dem ausgerechnet ein extremer
Exzeß, ein Element, das herausragt, die Grundlage der Universalität bildet“[42]
– versiegt. Der paradoxe Punkt, der das Subjekt/ der Exzeß war und dadurch die
Ordnung aufrecht halten konnte, ist nun exzentrisch paradox geworden und damit
nicht mehr zu gebrauchen für eine Fassung des (transzendentalen) Subjekts, das
„aus der großen Kette des Seins herausragt, ein Loch, eine Lücke in der Ordnung
der Wirklichkeit“[43].
Vorbei! Die Löcher sind verschwunden, aber noch da, wenngleich wohl
nicht mehr im Sein, nicht mehr im Subjekt, nicht mehr im Denken. Man kann sie
sehen, aber nicht mehr durch sie hindurch: offene Stellen im Geschlossenen, die
vielleicht Erinnerungen wecken, Erinnerungen daran, was es bedeutete und wie es
sich anfühlte, als Eindringen Rauskommen war.
Man kann diesen beinahe metaphysisch-sexuellen Duktus
durchaus lassen und soziologischer formulieren. Peter Fuchs etwa sieht in
systemtheoretischer Perspektive, „daß die
weltgesellschaftliche Kommunikation dazu übergeht, ihre Adressen im
Selbstkontakt zu fabrizieren. Das tut sie in einem gewissen Sinne immer,
insofern die Adresse eine kommunikative Konstruktion ist, aber die Konstruktion
kann mehr und mehr darauf verzichten, einen empirischen Gegenhalt zu haben. Das
System beginnt, sich seine Umwelt zu erfinden. Und die nicht erfundene Umwelt
(das reale Bewußtsein) kann herumkaspern, soviel es will, es wird immer weniger
berücksichtigt. Ich will dieses Phänomen versuchsweise das Phänomen der
Hyperautonomie der Gesellschaft nennen, das Phänomen der Hyperautonomie der
Funktionssysteme. Ich könnte auch sagen: das Phänomen der großen Entkopplung
von empirischem Bewußtsein und der Konstruktion sozialer Adressen.“[44]
In dem Maße also, wie die aus
der Mondialität herausgebrochene mundane Welt sich zu emanzipieren sucht von
den Bedingungen des Erd-Planeten, emanzipiert sich die mundane Welt von den
einstmals in sie hineingefallenen Menschen. Und diese Emanzipation der
Gesellschaft von Menschen benutzt sowohl Integration als auch Desintegration
der in die Innen-Umwelt des Gesellschaftssystems hineingefallenen Menschen, um
sie herausfallen zu lassen. Wie dem auch
sei: Unterstellt man eine Art Fraktalität in den Beziehungsformen der mundanen
und der mondialen Welt, dann wäre das Herausfallen dieses eigenartigen
Artefakts Welt aus der Erde und das Herausfallen des ebenso unbegreiflichen Artefakts
Mensch sowohl aus der Natur wie aus der Gesellschaft nichts mehr, was einen Unterschied
ums Ganze bildete. Ek-sistenz des Menschen als Substanz des Menschen könnte
dann, so die Vermutung, nicht mehr behauptet werden. Dafür aber exzentrische
Paradoxie? Kann man die offenen Stellen im Geschlossenen, also die herausgefallenen
hineingefallenen Menschen, auffassen als soziologische Wesen, die, um mit Namen
zu markieren, Einsichten Fernando Pessoas, Emile Michel Ciorans, Franz Kafkas
und Peter Fuchs‘ nicht mehr nur lesen, sondern leben, das aber leblos im Sinne
Debords[45]?
Auch hier stellt sich wieder das Problem der Vorstellung – und wieder die
Versuchung, auf Literatur zurückzugreifen: In einem kurzen Notat namens „Prometheus“
von 1918 erwähnt Kafka vier Sagen, die von Prometheus berichten. Nach der
ersten, mittlerweile klassisch gewordenen Sage folgen die eigentlich
interessanten Varianten zwei und drei: „Nach der zweiten drückte sich
Prometheus im Schmerz vor den zuhackenden Schnäbeln immer tiefer in den Felsen,
bis er mit ihm eins wurde. Nach der dritten wurde in den Jahrtausenden sein
Verrat vergessen, die Götter vergaßen, die Adler, er selbst.“[46]
Nach dem Erwähnen der vierten Sage – alles, die Götter, die Adler, sogar die
Wundschließung wurden müde – schreibt Kafka: „Blieb das unerklärliche
Felsgebirge. – Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären. Da sie aus
einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“[47]
Der Fels gewordene Prometheus und die durch Vergessen
‚Fels’ gewordene Geschichte des Verrats und der Identität Prometheus’ lassen
zuletzt nur noch das Felsgebirge übrig[48]:
als einfache, physiologische Natur wie auch als[49]
schon leicht pragmatisierte Natur[50],
die zuerst einer intervenierenden, dann intermittierten, und schließlich einer sich
von sich selbst exemtionierenden Geschichte ausgesetzt war – mithin als erneute, erhöhte, erweiterte
Unerklärlichkeit. Eine Unerklärlichkeit, die sich immun zeigt gegenüber dem
Unterschied, aufgeklärt zu werden oder unaufgeklärt zu bleiben; und die die
Frage nach dem Menschen, dem Menschlichen auf eine extreme Bahn zu bringen
scheint, so Dietmar Kamper: „Während Schicksal für Geschichte und
(anthropologische) Differenz steht, hat Zufall mehr mit Natur und
(menschlicher) Identität zu tun. Das folgt in etwa der Chronologie des 18. und
19. Jahrhunderts. Historisch war also der zweite Term vor dem ersten da. Die
Polarität entstand vor dem Pol, der sich auflehnte. Schicksal ist die
pathetische Selbstzuschreibung von Geschichte; Zufall ist Ausdruck einer kalkulierten
Unterwürfigkeit unter die Gesetze der Evolution. Die Akronyme (Hochworte)
gelten auch nebeneinander und in manchen zufälligen Überkreuzungen. Gefährlich
wird die Mischung erst durch die „schicksalhafte“ Kontamination von Geschichte
und Natur, wie sie im 20. Jahrhundert immer wieder und immer entschiedener versucht
wurde. Das entsprechende Hochwort heißt Leben. Es erschließt sich seit Nietzsche
nur noch in einem ‚Denken der Gefahr’.“[51]
– Der unerklärliche Fels heutzutage ist der vorerst noch spekulative Horizont,
der produziertes Leben denken läßt (und nicht mehr nur triviale bis historische
Automaten, gezüchtete/ gemendelte Organismen und dergleichen mehr). Die Gefahr,
die im Spiel ist, ist überlebensgroß, denn das, was sich mit der
Lebensproduktion anschickt – dauerte es auch noch 10 bis 15 Generationen –, ist
eindeutig nicht mehr im historischen Grobschnitt der Aneignung zuerst des
Produkts, dann des Produzenten und schließlich der Produktion selbst zu fassen.
Vielmehr wird hier ein neuer Grobschnitt eingeführt: mit unabsehbaren Konsequenzen
für das, was Geschichte, was Natur, was Leben heißt. Man tut nicht schlecht
daran, sich diese Grobschneidung so umfangreich wie nur möglich zu denken, auch
wenn zu dem Behufe Historie Referenz bleibt (wie entkommt man der Versuchung,
sich an der Beispiellosigkeit der Neuzeit ein Beispiel nehmen?). Wenn etwa
Gadamer schreibt, daß es im 17. Jahrhundert zu einer entscheidenden Wende im
Verhältnis von Philosophie und Wissenschaft kam[52],
die einen elementaren Hiatus, eine Schicksalswende im Weltverhältnis des
Menschen zeitigte, nämlich: „Bisher war die menschliche Erfindungskraft mehr
einer Ausfüllung von Räumen zugute gekommen, die die Natur freigelassen hatte.
Jetzt kündigte sich eine Zeit an, in der die menschliche Könnerschaft die Natur
zu künstlichen Produkten umzuarbeiten lernte und unsere Welt in eine einzige
große Werkstatt industrieller Arbeit verwandelte, ein beispielloser
Fortschritt, der uns langsam in die Nachbarschaft neuer Gefahrenzonen führt“[53]
– so könnte man die zeitgenössische Gegenwart situiert sehen in den eben
genannten Gefahrenzonen, einen Hiatus mitführend zwischen der Umarbeitung der
Natur zu künstlichen Produkten auf der einen und der künstlichen
Produktion von Natur auf der anderen Seite. Geschichte wird geschnitten (im
Sinne von: aus dem Wege gehen), um ins Leben zu schneiden (im Sinne von:
Vivisektion). Daß zur Zeit der Eindruck herrscht, Vivisektion am organlosen
körperschaftlichen Leben und Visualisierung der ‚Welt’ (remember Heideggers
Satz von der Bildwerdung der Welt als wesentlicher Zug der Neuzeit) laufen sich
gegenseitig die Ränge ab, ist vielleicht nur dem Unvermögen geschuldet,
zwischen der Produktion von Vergessen und der Produktion von Leben keinen
inhärenten Zusammenhang auszumachen. Der Zusammenhang bestünde darin, daß
Visualisierung das Unsichtbare vernichtet und damit der Lebens-Produktion den
Einlaß ins unkörperliche Bild erleichtert.
Oder behutsamer formuliert: Die Entwicklung einer
„Abkehr von anthropozentrischen und körperbasierten gesellschaftlichen
Leitbildern (und deren Ersetzung durch diverse ‚Netzwerk’- und ‚System’-Metaphern)“,
sowie die Entwicklung, „in deren Folge der menschliche Körper wieder massiv in
den Mittelpunkt von Staat und Gesellschaft rückt (Reproduktionstechnologien,
Gentechnik)“[54],
gehören inhärent zusammen. In einer mir nicht klaren Weise finden sich
ätherische Virtualität und chthonische Körperlichkeit ein; und nichts erinnert
daran, daß die mit den Göttern um den Himmel ziehenden Seelen ihr Gefieder nun
endgültig verloren haben, auf die Erde fielen und sich dort mit den Körpern
vereinigten (Platon)... .
Spätestens in erotischen Verhältnissen wird man
gewahr, welche sexuelle, gemütsbildende und formschaffende Kraft das „Erkennen“
des Nichtsichtbaren birgt. Sehen, was man nicht sieht, entzieht die Spannung,
den Tonos einer Beziehung der vollständigen Obhut des Blickes und des
Bildmachens. In guten Momenten gar erweisen sich das Sehen und das Sichtbare
als bloße, zutragende Außenstellen des Spürens und des Unsichtbaren: der Blick
und das Erblickte können Gäste sein eines Gebers, für den man immer noch keinen
recht treffenden Namen hat finden können: angezogener/anziehender Körper?;
verkörperte Sphäre?; rigoroser Eros (Hans Peter Weber)? Nur da, wo ich ausschließlich
sehe, was ich sehe (Pornographie), passiert alles weitere an Sex, Gemütsbildung
und Gestalt in voller Unterordnung gegenüber der visualisierten Sichtbarkeit.
Merleau-Pontys Buch Das Sichtbare und das Unsichtbare ist dem schwer
bedenkbaren Verhältnis dieser beiden Welten nachgegangen, durchs Fleisch, durch
den Leib und durch die Berührung hindurch.[55]
Vor allem aber ist ihm auf den ersten Blick gelungen, die materialen, fast
schon existentialen Grenzen einer grenzenlos sich ausbreitenden „Versichtbarung“,
sprich: einer sich ausbreitenden Überführung von Welt ins Bild, anzugeben:
Grenzen, die sich durch das Triumvirat Fleisch, Körper, Leib ‚ergeben’ und die
der nun Hunderte von Jahren anhaltenden Kettenreaktion von und zwischen Wissen
und Sehen eine Endlichkeit zu verpassen suchen.
Dieses explosive Wirklichkeitsverständnis von Wissen
und Sehen (Abstraktion und Sichtbarkeit) wird gemeinhin virulent in dem
abendländischen und von der griechischen Tradition weiterhin beherrschten
Begriff des Wissens: Wissen ist das, was ich gesehen habe. „Wir haben ein
Wissen von etwas, wenn wir es gesehen
haben und von daher nicht noch einmal hinschauen müssen. Dieses Verständnis
von Wissen impliziert also die Nichtveränderung des beobachteten Objekts. Von
daher leitet sich auch das Ziel abendländischer Wissenschaft ab, das Sein zu erkennen,
indem man auf das Unveränderliche fokussiert und Konstanten aufzudecken sucht.
Die Realität als der Bereich, dem wir wirkliches Sein zuschreiben, hängt von
daher von unserer Erwartung ab, daß das Beobachtete sich nicht verändert.“[56]
Dieser Grundzug des Feststellens wirklichen Seins (und eben auch Nichtseins)
durch Imagination, Visualisierung und Abstraktion ist noch bei der neusten Form
von ‚Bildproduktion’, der virtuellen, anzutreffen.[57]
Zwar ist nun in der virtuellen Bilderraumwelt rein gar nichts mehr
unveränderlich und fest, da ja jetzt die Dreidimensionalität imaginierenden Bilderflächen
die Anpassungsprozesse der Akkommodation und Assimilation übernommen haben
(besser gesagt: natürlich die Computer), die sonst ein sich bewegendes Subjekt
in der (nicht nur) dreidimensionalen Wirklichkeit tätigt. Und also geht es auch
nicht mehr um ein Feststellen einer feststehenden Objektwelt, die bleibt, auch
wenn ich nicht bleibe („Horizont“). Und es geht auch nicht mehr darum, wegsehen
zu können von der Welt, nachdem man sich sehend davon überzeugt hat, daß sie so
ist, wie man es sah. Aber, und darin sehe ich die ausgereifte, quasi sich in
sich aufhebende Form des Weltverhältnisses beobachtenden Feststellens: Die
digitalen Bilder im virtuellen Raum erlauben es nicht mehr, wegzusehen: Man
kann, ist man denn ausgestattet mit dataglove
und head mounted display[58],
in der Interaktion mit 3D-Umgebungen und 3D-Objekten nur noch beobachten, jetzt
nicht verstanden als Verunmöglichung des Riechens, Berührens usw., sondern als
Verunmöglichung des Unsichtbaren, des Nichthinschauens, des Blickabwendens, des
Changierens dessen, was Figur, was Hintergrund der angeschauten Welt ist.[59]
Das Feststellen der Realität nichtveränderter Objekte macht also so etwas durch
wie einen Sprung von Quantität zu Qualität: Dasjenige, was bis dato gesehen
werden konnte und deswegen als etwas aufgefasst wurde, das jenseits des Operationsradius
des Sehens ‘ist’, wird jetzt in den Operationsradius des Sehens eingezogen. Es
existiert nicht mehr als etwas, zu dem das beobachtende Subjekt sich verhalten
muß in der Art, daß es sich erfährt in einer Beziehung mit etwas, in der es nur
einen Teil ausmacht, also nur Bestandteil ist, und dementsprechend verbunden
ist mit etwas, was es nie weiß, was es nie einnehmen und erreichen kann.[60]
Der operative Konstruktivismus hatte daraus noch Konsequenzen gezogen und
gesagt, daß kognitive Systeme nicht zu unterscheiden vermögen zwischen den Bedingungen
der Existenz von Realobjekten und den Bedingungen ihrer Erkenntnis, weil ihnen
kein erkenntnisunabhängiger Zugriff auf ebendiese Realobjekte zur Verfügung
stehen würde.[61]
Nichts desto trotz blieb das Unverfügbare, das Andere als Umwelt bzw. als
Horizont anerkannt. In der sog. Interaktion mit 3D-imaginierenden Bildern ist
diese Unterscheidung aufgelöst[62]:
Die wenn auch nur als focus imaginarius angenommene Existenz von
Realobjekten und Realumgebungen ist nun vollständig Effekt der Bedingungen zur
Ermöglichung von Verbildlichung sehender Erkenntnis; ist nun vollständig in die
Realität der Verbildlichung der Bedingungen des Erkennens eingezogen. Anders
formuliert: Das ausgerüstete Subjekt okkupiert in Gänze den Bereich des
Beobachtetwerdenkönnens, es selbst „wird“ das, was sonst das ist, in und mit
dem es ist, nämlich Welt, Horizont, Umwelt, und bleibt zugleich dasjenige, das
beobachtet, sieht, erkennt. Das Beobachtete und der Beobachter sind eins
geworden, wenngleich auf der Ebene visueller Aisthesis noch Verschiedenheit
imaginiert werden kann (solange man nicht bemerkt, daß man gar nicht mehr die
Möglichkeit hat, nicht zu sehen). Ist man im Sehen dieser Bilder, also in der
Interaktion mit 3D-Umgebungen, dann ist das ausgeschlossen, was sonst als
theoretischer Kniff möglich ist: Das sog. re-entry.[63]
Der Wiedereintritt: in was hinein sollte er auch noch
passieren, nachdem das Unsichtbare unsichtbar geworden ist (Derivat der
unvollständig gewordenen Unvollständigkeit)? Was heißt das aber nun fürs
hiesige Schreiben? Wäre die waghalsige These noch aufrecht zu halten, daß theoretisches
Sehen, zwar die emphatisch aufgeladenen foci wie Wahrheit, Glück und Gottesnähe
abgesprengt habend, aber dennoch daran festhält, nicht getäuscht werden zu
wollen, auch nicht von sich selbst[64],
während das okulare, nur noch Sichtbares sehende Sehen diesen Anspruch aufgegeben
hat, sich jenseits dieser ‚kleinen Zeit, in der das Licht noch bei den Menschen
ist’, aufgehoben wähnt, also längst ein von Finsternis überfallenes Sehen
geworden ist, das nun nur noch die Realität der Bilder wahrzunehmen fähig ist[65],
eine Realität, in der die Unterscheidung zwischen Wahrem und Falschem verpufft
und also auch ein Wissen darum, daß es so etwas wie Täuschung überhaupt gibt
(das wäre dann das Aufgeben der Negation als Reflexionswert jeder positiven
Bestimmung und damit das Aufgeben eines konstituierenden Teils der Sprache,
denn nur in ihr ist die Positivierung von Negativitäten möglich[66];
vgl. Hegels Versuch, im Negativen Welt zu bauen)? Ist dieses Nicht-getäuscht-werden-Wollen der
Theorie noch sinnreich zu gebrauchen, um die Möglichkeit des Täuschens bzw. der
Illusion (als Gegenbegriff zur Simulation) selbst zu bewahren, die ja
ihrerseits wieder die Möglichkeit eines Jenseits
oder eines Dahinter der Bilder eröffnet?[67]
Exzentrisch paradox geantwortet muß man zweimal
verneinen. Aber was sind exzentrisch paradox gewordene Verneinungen? Oder
besser: Wo können solche Verneinungen überhaupt noch anzutreffen und
anzubringen sein, wenn die Behauptung zuträfe, daß sogar die Zeit des
Noch-nicht des Unsichtbaren, also der Moment, in dem Unsichtbares bloß ein noch
nicht Sichtbares geworden ist, hinter uns liegt? Man also nicht mehr auf das
Undarstellbare resp. Nichtdargestellte und auch nicht mehr auf das
Unbezeichenbare resp. das Nichtbezeichnete zurückgreifen kann, wie es philosophische
Postmoderne und philosophische Psychoanalyse taten und noch tun?
Die Zeit der Moderne aufzufassen als eine, in der die
Positionen exzentrisch geworden sind durch Konzentration der Negationen; die
Zeit der Postmoderne aufzufassen als eine, in der die Negationen exzentrisch
wurden durch Konzentration der Paradoxien: beide Auffassungen gehen noch an.
Aber welche Zeit ist es, in der die Paradoxien exzentrisch werden durch Konzentration
von was? Ist es weiterhin noch Konzentration? Ist es noch eine bestimmbare
Zeit? Und mit welcher jeweiligen „con-sequi“ bzw. „para-sequi“ ist zu rechnen,
hat man nun Körper, Zeit, Soziales und Sachliches exzentrisch paradox ‚im
Blick’?
Eine
marginale Antwort darauf beginnt wieder mit einem Bild: Im Roman Outsider in Amsterdam von Janwillem van de Wetering[68] erzählt
van Meteren von einem Papua, dem er einen Spiegel gab, folgendes: „[...] Er sah
in den Spiegel und mußte lachen. Ich fragte ihn, warum er lache. Er sagte, er
habe einen Spaßvogel gesehen, der im Wasser wohne.“ – „Was geschieht, wenn man
von einer Gruppe von Papuas ein Foto macht und es ihnen zeigt?“, fragte de
Gier. Van Meteren lächelte. „Du hast es verstanden, wie? Wem man das Foto auch
zeigt, er wird immer alle seine Freunde erkennen.“ – „Bis auf einen Mann“,
sagte de Gier, „auf dem Foto steht immer einer, der ihm fremd ist.“
Die erkenntnistheoretische und
ethische Utopie, die van de Wetering hier gleichsam ethnologisch versteckt, ist
zu gleichen Teilen anziehend und unmöglich. Aber spannender ist vielleicht eine
weitere Dimension, die Vorstellung betreffend, daß einer Gruppe Papua das von
ihnen gemachte Photo gezeigt wird, nämlich: die Dimension einer ungewollten
Komplexierung der Fragen nach der Wirklichkeitsbeziehung zwischen medialer und
erlebter Welt und nach dem Status von sichtbarer und unsichtbarer Welt.
Angenommen, es sind vier Papua auf dem Bild, und diese vier Papuas haben das
Bild vor Augen, und man selbst steht dabei und fragt, was auf dem Bild zu sehen
ist. Die Antwort darauf müßte zusammengefasst lauten: Jeder hat alle anderen
gesehen, keiner hat sich gesehen. Ginge man vom atomistischen Prinzip aus, wäre
die Antwort: Auf dem Bild ist niemand zu sehen. Ginge man vom holistischen
Prinzip aus, wäre die Antwort: Auf dem Bild ist das Ganze zu sehen, das Ganze
als "Mehr" denn seine Einzelteile. Die Stelle, von der aus das
"Mehr" des Ganzen zu sehen ist, ist nicht auf dem Bild zu sehen; das
ganze Bild ergibt sich erst aus dem Ensemble
der sich nicht erkennenden jeweiligen Anderen, die die anderen erkennen. D.h.:
Das ganze Bild existierte allenfalls für einen Beobachter als ein ganzes Bild;
für die Im-Bilde-Seienden existierte kein ganzes Bild. Exzentrisch paradox
gedacht gäbe es nun diesen Beobachter nicht mehr: auch er ist ins Bild
gefallen. Von den verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen, die das Photo mit den
vier Papua und die das Photo Ansehenden annehmen kann – der Beobachter sieht
alle vier auf dem Photo; alle vier sehen kumuliert alle anderen außer sich
selbst; jeder der vier Papua sieht sich nicht: dieses Nichtsehen analytisch
kumuliert bedeutete, daß nichts auf dem Photo zu sehen ist –, wäre die letzte
Wirklichkeitsdimension der Wirklichkeit exzentrischer Paradoxie gemäß. Leichter
‚vorstellbar’ ist dieser Gedanke, wenn man den Begriff der Spiegelung für
Wirklichkeits- und Sichtbarkeitsverhältnisse einsetzt. Luhmann sagt:
„Spricht man von Spiegelung,
dann mag man in gewissem Umfange noch einrechnen, daß die Spiegel, die sich
wechselseitig spiegeln, vergrößern oder verkleinern oder sonstwie verzerren,
eine ‚subjektive’ Komponente mit ins Spiel bringen. Die Metapher wird jedoch in
dem Maße inadäquat, als die selbstbezügliche Selektion zunimmt; und sie wird
vor allem dann inadäquat, wenn man bedenkt, daß der Zerrspiegel die Verzerrung
des anderen Spiegels nicht miterfaßt. Das heißt: wenn man diese Metapher auf
die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferentiell operierenden Systemen
übernimmt, dann löst sie sich auf. Die Spiegel zerbrechen. (...) Kurz: es wird
fragwürdig, wie man überhaupt noch die Einheit einer Beziehung denken kann, die
eine Mehrheit selbstreferentieller Systeme liiert.“[69] Es fällt
nicht schwer, hier, an dieser Stelle, Batailles Liaison zwischen dem Subjekt
als Nichtwissen und dem Objekt als Unbekanntes in Erinnerung zu rufen. Es fällt
auch nicht schwer, hier an das Träumen zu denken als ‚Fortsetzerin’ des Denkens
von/in Paradoxien (Träumen also als Methode, mit exzentrischer Paradoxie umzugehen).
Die so geschichtsmächtige und so
gewaltsame Scheide zwischen transparenter und intransparenter Komplexität, also
die Aufklärung als Illumination und als Verdunkelung, erweist sich hier selbst
als Bestandteil der Verdunkelung. Es stellt sich heraus, daß es nur vordergründig
um ‚Licht ins Dunkel’ ging; hintergründig ging es um das Abschaffen des Dunkels[70] und also
um die Abschaffung der Nicht- bzw. Unsichtbarkeit. Was aber ist dann noch zu sehen,
wenn man nicht mehr sieht, was man nicht sieht? Was also passiert, wenn nicht
mehr beobachtet werden kann, daß etwas nicht beobachtet werden kann? – Träumen?
Das, was in der
Daseinskonstitution und Identifizierung durchs Geld den Stellenwert des nicht
Warenhaften und Geldhaften und Preishaften bekam und entweder originär der
Imagination oder dem Traum subordiniert wurde, ist innerhalb des Rahmens der
Körperfunktionsausscheidung und der technologischen Substitution der
materielle Körperschmerz, die materielle Körperkränkung gewesen (also die Kränkung
des Geistes durch den Körper). Mit der nun wohl beginnenden Vollständigkeit
technologischer Substitutionen durch die körperintrinsische Aus- oder auch Einscheidung
des Kognitiven scheint der neu entstehende Regelkreis „Auge-Hirn-Netz“ nicht
mehr angewiesen zu sein auf ein je körperliches Medium (als Verkörperung des
Unsichtbaren). Die mögliche Totalität des Selbstkontaktes des Geistes entweder
mit sich (to be connected, to be networked) oder direkt mit kreatürlicher
Natur (Gebärmutter, Gene) hebt die Genesis, also den Schmerz und die Kränkung,
auf, und wandelt sie um in ein distanzermöglichendes Verhältnis, in ein
Verhältnis, in das erinnernd oder auch spielerisch eingegangen werden kann –
und heutzutage in Ansätzen schon eingegangen wird (Visualisierung der
Imagination, Internet). Dies wird noch weitgehend über das Sehen/ Beobachten
bewerkstelligt. Doch nur solange, wie das visualisierte bzw. mediale Imaginäre
weiterhin als abgespaltene Form der Einbildungskraft und der transzendentalen
Synthesis der Sinnlichkeit gilt.[71]
Also solange, wie der ‚Visualismus’ in einer parasitären Beziehung zur
Unsichtbarkeit kreierenden Einbildungskraft steht. Erst wenn sich dies
Verhältnis umkehren sollte – und der Begriff der exzentrischen Paradoxie hat
auch die Aufgabe, dies denkbar zu machen –, also erst wenn die Einbildungskraft
als abgespaltene Form einer technologischen Subsitution sinnlicher Synthesis
erscheint, hört Unsichtbarkeit als eine der prominentesten Figurationen des
nicht reflexiv hergestellten Negativen auf. Und damit auch – so die These –
eine Versichtbarung von Welt für die Modi des Sehens und Beobachtens. Etwas zu
sehen bedeutete dann nur noch eine Variante der Blindheit.[72]
Vielleicht wäre hier die Stelle gegeben, an der Erwin Chargaffs Satz, daß ein
lebendes Wesen nicht das Leben erforschen könne, und wir heute an der
Grenzlinie zwischen dem Erforschbaren und Nichterforschbaren angekommen sind,
seine Brisanz erhält: Wir erleben ja zur Zeit die ersten Versuche der
‚Verschiebung’ einer bestimmten Grenzlinie, die die gesellschaftskulturell
zugelassene Produktion menschlichen Lebens von der unzulässigen Konstruktion
trennte.[73]
Die exzentrisch paradoxe „Kategorie“ des Leblosen wäre genau als die Ausweichbegrifflichkeit
zu denken: Je forcierter Wissenschaft, Technik und auch Ethik sich erneut um
den Begriff Leben gruppieren, desto einfacher wird sich wohl die Vorstellung
gesellschaftlich durchsetzen, daß Leblosigkeit kein „Zustand“ sei, der zur
Verzweiflung Anlaß gibt.
„Es gäbe Gründe zum Verzweifeln, doch die Existenz
kann nicht verzweifeln“, sagte Jean-Luc Godard im Gespräch mit Youssef
Ishaghpour[74].
Exzentrische Paradoxie wäre nun ebendies: die verzweifelte Existenz der Zeit
des Begreifenwollens verzweifelter Existenz. Und sie wäre in geringen Anteilen
auch schon dies: die hoffnungsfrohe Existenz. Denn: nach dem positivierten
Nichts und dem negativierten Nichts, nach dem leeren Nichts und dem „nichtsigen
Nichts“ (Ludger Lütkehaus) ist es einfach so: Daß weiterhin alles verändert
werden will, wenn sich nur etwas ändert!
[1] Siehe Duden, Bd.7: Das Herkunftswörterbuch, Mannheim u.a. 1989, p124 +509.
[2] Niklas Luhmann, Sthenographie, in: Derselbe u.a.: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?, München 21992, p119-137, hier: p120. – „Unterhalb“ des Paradoxen ist man da weit optimistischer. Siehe Michael Walzer, Über Toleranz. Von der Zivilisation der Differenz, dt., Berlin 1998; hier wird Differenz und Identität noch zusammengedacht.
[3] Es muß allerdings nicht auf Anästhesie hinauslaufen; man kann auch die Arbeit Gilles Deleuzes heranzuziehen suchen, die auf nicht-triviale Weise einer Annährung ans Paradoxale des Werdens verpflichtet ist und dabei dem Schmerz und der Grausamkeit nicht allzuviel Beachtung schenkt.
[4] Die von Johann Joachim Becher 1667 begründete und von G.E. Stahl 1697 systematisierte Phlogistontheorie behauptete Phlogiston als entscheidend notwendiger Bestandteil in allen brennbaren Körpern, der während der Verbrennung dann entweicht. Mit dieser Theorie sollten alle heute als Oxidationserscheinungen bezeichneten Vorgänge unter einem allgemeinen einheitlichen Gesichtspunkt theoretisch geordnet werden. Mit der Entdeckung des Sauerstoffs verlor die Theorie ab 1775 an Bedeutung; heute ist sie nur noch wissenschaftshistorisch relevant. Siehe Brockhaus Naturwissenschaften und Technik, 5 Bde, Wiesbaden 1983, hier: Bd.4, p75.
[5] Diese Unterscheidung in Nichtbeobachtenkönnen und Nichtbeobachtensollen markiert die Differenz von Auffassungen, die Blindheit entweder als Faktizität oder als Geltung verwirklicht sehen. Für den radikalen Konstruktivismus etwa ist Blindheit Fakt, für die Theorie kommunikativen Handelns hingegen geltungsbedürftige Konvention.
[6] „Zur Rhetorik von ‚Lebenswelt’ gehört auch, daß sie suggeriert, es sei auf dem Grunde doch noch – und wieder erreichbar – die eine Welt, die man nur leben müsse, um in ihr zu leben“, sagt Hans Blumenberg, Wirklichkeiten, in denen wir leben, Stuttgart 1981, p4. Von einer zeitgemäßeren Variante berichtet Joachim Müller-Jung in der FAZ vom 25.09.2001 (Noch eine Allianz, p49): An der Boston University fand im September eine Veranstaltung statt, die „eine Art Charta der Gattungsethik“ zur Sicherung der menschlichen Natur erarbeitete. „’Konvention zur Erhaltung der menschlichen Spezies’ ist die Skizze für eine globale bioethische Konvention überschrieben.“
[7] So haben die Informationstechnologien schon ihre eigenen 10 Paradoxien (Paradox der Zeit, des Raumes, der Kompetenz, der Produktivität, der Beschäftigung, der Polarisierung, des Datenschutzes, der Regierbarkeit, der Entscheidung und des Preises; zusammengestellt aus finnischen Entwicklungsplänen zur Informationsgesellschaft von J. Rantaanen, Direktor des Finnischen Instituts für Arbeits- und Unfallschutz in Helsinki, zitiert nach: Gerhard Bosch: Die Auswirkungen der neuen Informationstechnologien auf die Beschäftigung. Eine Technik sucht Anwendungen. In: WSI-Mitteilungen 3/97, p150 ff.).
[8] Ein Höhepunkt der Versenkung bei Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FFM 1995, p57: Der Beobachter wird sich eingestehen müssen, „daß die Paradoxie sogar in mathematischen und erst recht in logischen Operationen als der blinde Fleck vorausgesetzt ist, der alles Unterscheiden, also alles Beobachten erst ermöglicht.“
[9] Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., p73f.
[10] Die Quadratwurzel aus minus eins wäre die Zahl, die mit sich selbst multipliziert minus eins ergibt. Bei positiven Zahlen ist die Sache leicht. Die Wurzel aus vier ist zwei beziehungsweise minus zwei. Denn zwei mal zwei ist vier, und minus zwei mal minus zwei ebenfalls. Die Wurzel aus vier ist also zwei - beziehungsweise minus zwei. Ebenso ist die Wurzel aus eins gleich plus eins oder minus eins. Problematisch wird es aber bei der Wurzel aus minus eins.
[11] Paul Bazunu, Über Berechenbarkeit, die ‚Laws of Form’ und die Gödelschen Ergebnisse, in: menschen formen (Hg.), menschen formen, a.a.O., p124-151, hier: p150.
[12] Derselbe (Hg.), Probleme der Form, FFM 1993, (Einleitung), p9-21, hier: p9.
[13] „Die Logik ist zwar unerschütterlich. Aber einem Menschen, der leben will, hält sie nicht stand“ – so Franz Kafka. Dank an Dietmar Kamper für den Hinweis.
[14] Eine Paradoxie ist eine logische Angelegenheit. Ein Wenn-dann gerät
sozusagen in Widerspruch mit einem anderen Wenn-dann. Wenn der Barbier, der
alle Männer rasiert, die sich nicht selbst rasieren, sich selbst rasiert, dann
rasiert er sich einerseits nicht, andererseits aber doch. Bei einer Abfolge von
Ursache und Wirkung löst sich die Paradoxie jedoch auf. Hier werden wenn
und dann zeitlich verstanden, und durch den Faktor Zeit kann eine
Wirkung ihrer eigenen Ursache entgegenwirken oder sie sogar aufheben.
[15] Derselbe, Das Wagnis der Sprache. Ein aufzufindender Papyrus, hg. v. W. Gärtner, M. Gormann-Thelen u. W.L. Hohmann, Essen 1997, p49.
[16] Nietzsches dritte Verneinung nach den beiden „Es giebt keinen Stoff“ und „Es giebt keinen Raum“, nämlich „Ursache und Wirkung giebt es auch nicht“, sowie seine Behauptung, „Die Vorgänge, die wirklich miteinander zusammenhängen, müssen absolut gleichzeitig verlaufen“ – diese Verneinungen und diese Behauptung haben heute nichts mehr von der freimachenden Geste, die bei Nietzsche förmlich zu spüren ist. Siehe Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente 1882-1884 (hg. v. Giorgio Colli & Mazzino Montinari), Bd.10 der KSA, München 1988, p663f.
[17] Im Sinne von: Daß etwas das ist, was es ist, rührt daher, daß es nicht das ist, was es nicht ist.
[18] Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., p17.
[19] Das klingt sehr kryptisch, ist es vielleicht auch. Dazu Whitehead: „Die Wirklichkeiten des Universums sind Erlebensprozesse, und jeder dieser Prozesse ist ein individuelles Faktum. Das Universum im ganzen ist die in ständigem Fortschritt begriffene Gesamtheit dieser Prozesse. Die aristotelische Lehre, daß alles Bewirken der Aktualität angehört, wird hier akzeptiert, ebenso Platons Diktum, daß das Seiende überhaupt nichts anderes ist als das, ‚was etwas bewirken kann’, was – mit anderen Worten – ‚einen Unterschied an der Sache hervorbringt’. ‚Etwas sein’ heißt also, als Faktor bei der Analyse wirklicher Vorgänge entdeckbar sein.“ (Alfred North Whitehead, Abenteuer der Ideen, dt., FFM 1971, Seite 348-362 abgedruckt in: Rüdiger Bubner (Hg.), Geschichte der Philosophie in Text und Darstellung, Bd.8: 20. Jahrhundert, Stuttgart 1981, zitierte Stelle dort auf p166.) Tautologisches ist nicht mehr entdeckbar, weil es nicht mehr im oben verstandenen Sinne „ist“.
[20] Ludwig Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, Satz 4.461. Siehe auch die nicht an Logik orientierte Studie von Stephan Grotz, Vom Umgang mit Tautologien: Martin Heidegger und Roman Jakobson, Hamburg 2000.
[21] Diese Grenze wird auch noch durch das Spencer-Brown’sche re-entry bestätigt, auch wenn der Unterschied nur noch als zeitlicher existiert.
[22] Da, wo Differenz nicht mehr gehalten werden kann, einfach weil Ungetrenntheit und Ununterschiedenheit nicht mehr durch die Trennungspraxis des Menschen uneinsichtig gehalten werden können, kehrt das Monströse in die Welt. Siehe dazu den aufschlußreichen Text von Andreas Langensiepen, Zum Monströsen. Die Abkehr vom Monströsen?, Manuskript, Berlin 2001.
[23] Derselbe, Das perfekte Verbrechen, dt., München 1996; folgendes Zitat p228.
[24] Die Positivität der Umwelt (verstanden als Restposten des ‚Anderen’) ist dem System einzig gegenwärtig als Abwesenheit ihrer Abwesenheit; Welthaftigkeit der Umwelt kann nur vom Wegsein, nicht vom Dasein aus dem System zur Verfügung stehen. Scheitern, also In-Stücke-Gehen der Begriffssysteme, ist dem System nicht mehr als Möglichkeit möglich; es scheitert als realisiertes System, es ist System als realisiertes Scheitern. Sollte es aufhören zu scheitern, stürbe es (während das Ende konventionellen Scheiterns einen ja oft wieder ins Leben zurückschlägt). Siehe Verf., Invasive Introspektion, a.a.O., p74.
[25] Die sichtbare Welt ist keine Wirklichkeit mehr und die unsichtbare Welt ist kein Traum mehr, sagte einmal William Butler Yeats. Ist die nicht mehr unsichtbare Traumwelt nun paradoxal, also sowohl sichtbar als auch unsichtbar?
[26] Im Sinne von: Die Bildung der fünf Sinne sei auch weiterhin die Arbeit der ganzen bisherigen Weltgeschichte (Karl Marx), und es käme jetzt darauf an, Leib- und Sinnengeschichte zu entwerfen, nach der Historie des Sinns.
[27] Jean Baudrillard, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, dt., Berlin 1992, z.B. p143-159 (Das Melodram der Differenz).
[28] Baudrillard, Transparenz des Bösen, a.a.O., p199.
[29] Baudrillard, Transparenz des Bösen, a.a.O., p200.
[30] Ich bin mir der Schwierigkeit bewußt, angeben zu müssen, von wo und von was aus Leblosigkeit überhaupt festgestellt werden kann.
[31] Siehe zu diesem Unterschied bezogen auf das Syndrom Sucht, das jeder Erfahrung eines symbolischen Todes qua Initiation blockiert, Bernhard Vief, Sucht, in: Christoph Wulf (Hg.): Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie, Weinheim/Basel 1997, p891-905, hier: p902.
[32] Für Bernhard Vief (Sucht, in: a.a.O., p902) geht mit der Ablösung des Initiationsmodells durch das Konsummodell die Unmöglichkeit einher, den rituellen Tod zu vollziehen und das Subjekt einer Grenze auszusetzen, an der er verwandelt wird; der „symbolische Tod bleibt aus bzw. wird ‚übersprungen’. Damit wird der Rausch entwertet“, die Ekstase schrumpft auf eine suchtförmige Aktualisierung von Sicherheit und Wiederholung. – Aber auch diese, Sicherheit und Wiederholung, sind exzentrisch paradox geworden, d.h.: nicht mehr endlos wiederholbar. Die Libido-Ökonomie der Konsumgesellschaft funktioniert nicht mehr gemäß der Marx’schen Feststellung, daß die Produktion das Bedürfnis nach Konsum erst schafft, nach den Objekten, die sie produziert (gegenteiliger Meinung ist weiterhin Slavoj Žižek, Alles fiktiv. Hundert Jahre Jacques Lacan, in: Süddeutsche Zeitung, 12.04.01).
[33] Das wäre vergleichbar mit Baudrillards gegenwartsdiagnostischem Bild, die Moderne befinde sich im Zustand nach der Orgie.
[34] Philipp Sarasin, Englischer Schritt, französischer Takt. Nach Foucault: Körpergeschichte als postmoderne Politikgeschichte, in: Frankfurter Rundschau, 10.04.2001. Siehe auch den Essay von Bruno Latour, Ein Experiment von uns und mit uns allen, in: Die Zeit, 16/2001, 12.04.01, in dem weitgehende Folgerungen für „die Natur“, die politisches Tier wird, und für „die Kultur“, die hybrid wird, gezogen werden.
[35]
Peter Fuchs’ Buch Die Metapher des Systems. Studien zu der allgemein
leitenden Frage, wie sich der Tänzer vom Tanz unterscheiden lasse
(Weilerswist 2001) scheint in glänzend turbulenter Denkweise diesem Versuch
gewidmet zu sein: einen zerrütteten System-(theorie)begriff – und nicht etwa
Systeme, die es gibt – metaphorisch zu kurieren, damit es zumindest mit einem
durchkreuzten und gebarrten System (SYSTEM) weitergehen kann
(p247).
[36] So, auf die Technik bezogen, Wolfgang Schirmacher, Ereignis Technik, a.a.O., p230: „Je achtsamer und verfeinerter unsere Techniken werden, umso leichter leben wir. Die Grobheit der gegenwärtigen Technik läßt ihre sachgemäße Form nicht ahnen.“
[37] Wenn man will, kann man in dieser Beschreibung dieses Augenblicks die schlechte Alternative zur Deleuze’schen Zwischen-Zeit der absoluten Immanenz des ‚ein Leben’ sehen. Allerdings spricht Deleuze vom Leben aus, während hier von der Leblosigkeit aus zu sprechen versucht wird.
[38] Siehe dazu im soziologischen Format Hans Geser, Elemente zu einer soziologischen Theorie des Unterlassens, in: KZfSS, 4/1986, p643-669, der den Grenzen nachgeht, die Manifestationen daran hindern, durch die selektive Leistung der Wirklichkeitskonstruktion ‚Dasein’ und ‚Sosein’ zu erhalten; und der erste Annährungen versucht an den Gedanken, daß Nichtereignisse nicht mehr ausschließlich auf der Folie vorgängig konstituierter gemeinsamer Erwartungs- und Alternativenhorizonte sich „ereignen“ (besser: enteignen).
[39] Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., p285.
[40] „[...] ist demnach die Bestimmung von Grenzen das wichtigste Erfordernis der Ausdifferenzierung von Grenzen. Grenzen können als hinreichend bestimmt gelten, wenn offen bleibende Probleme des Grenzverlaufs [..] nach innen und außen mit systemeigenen Mitteln behandelt werden können [...] – so Luhmann (Soziale Systeme, a.a.O., p54).
[41] Respektive: Nichts Niemand Nirgends Nie, die modernen Stätten zerissener Ontologie, des verlorenen ‚Du’, des entfernten Ortes und der unmöglichen Gegenwart. – ‚Schreibpraktisch’ faßt Andreas Langensiepen diese Lage fürs Denken des Unerträglichen so: „ – geraten wir doch in eine ununterscheidbare (und unbeschreibliche) Lage (es wird jetzt vorübergehend kompliziert:), in der das, daß es ‚darum geht’, zugleich das ist, daß es ‚darum herum geht’, – wenn das, ‚worum es geht’, darum herum geht, und wenn es darum, ‚worum es geht’, herum geht, wenn es auf Wegen geht, die Umwege sind“ (derselbe, Das Unerträgliche. Zur Tragweite einer Kritik der Gesellschaft, Diplomarbeit, Berlin 2001, p58).
[42] Slavoj Žižek, Liebe Deinen Nächsten? Nein, danke! Die Sackgasse des Sozialen in der Postmoderne, dt., Berlin 1999, p35.
[43] Slavoj Žižek, ebenda, p34.
[44] Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft. Eine Neubrandenburger Vorlesung, Opladen 1997, p141f.
[45] „Das Spektakel überhaupt ist, als konkrete Verkehrung des Lebens, die eigenständige Bewegung des Unlebendigen“, so Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels, a.a.O., p13).
[46] Franz Kafka, Sämtliche Erzählungen, hg. von Paul Raabe, FFM 161983, p306.
[47] ebenda.
[48] Veranschaulichend könnte man hier an die Empfindungen denken, die Ulrich Sonnemann ergriffen, als er vom Flugzeug aus die skyline Manhattans sah als etwas der Erde, nicht mehr der Welt Zugehöriges; oder an die künstlerische Be- und Verarbeitung von Luftaufnahmen der italienischen Stadt Arezzo durch Nanaé Suzuki (dieselbe, Augenflug, [mit Texten diverser Autoren], Bonn 1999). Ulrich Raulff schreibt dazu, nah an Kafkas Prometheus-Text liegend (ebenda, p13-14, hier: p14): „Ist die aus der Erde emporgestiegene Stadt eben dabei, wieder hinabzutauchen? Hat eine vorübergehende Sonnenfinsternis sie augenblicklich in ein Schattenreich verwandelt? Ist es das Phlegma des Mondes, das auf ihr lastet? Goethe, in »Maximen und Reflexionen«: ‚Steine sind stumme Lehrer; sie machen den Beobachter stumm, und das Beste, was man von ihnen lernt, ist nicht mitzuteilen.’“
[49] Also nicht mehr: Als ob, die große Sentenz des endenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts. Siehe Hans Vaihinger, Die Philosophie des Als Ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Posititivismus, Neudruck der 9./10. Aufl. 1927, Aalen 1986.
[50] Will sagen: Nicht mehr an steht eine physiologische Anthropologie, die fragt, was Natur aus den Menschen macht; und auch eine pragmatische Anthropologie, die fragt, was Menschen aus (ihrer) Natur machen, bildet hier nicht mehr den gegenwärtigen Horizont. Vielmehr müßte man fragen, was die Natur mithilfe der Menschen aus sich gemacht hat bzw. im Machen begriffen ist. War die Frage immer: Was ‚schleppt’ der Mensch an Natur mit?, so könnte man jetzt fragen: Was schleppt die Natur an Mensch mit/weiter?
[51] Dietmar Kamper, Der Mensch als Schicksal, Zufall und Gefahr. Historische Anthropologie, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript.
[52] „Der ganze reiche Schatz kulturellen Überlieferungswissens, das sich in Religion und Kunst und Literatur und in allen möglichen anderen Künsten und Könnerschaften der Medizin, der Himmelskunde, der Philologie und der Redekunst ausgefaltet hatte, sieht sich im 17.Jahrhundert mit einer neuen Idee von Wissen konfrontiert“ (derselbe, Das Erbe Europas. Beiträge, FFM 1989, p16).
[53] Gadamer, a.a.O., p16f.
[54] Siehe das Konzeptpapier zum Internetprojekt Re: Leviathan. Zum 350. Jahrestag der Erstveröffentlichung von Thomas Hobbes’ Hauptwerk von Andreas L. Hofbauer & Richard Brem (eMail-Fassung; siehe auch www.cyberleviathan.com; Juli 2001).
[55] Z.B.: „Das Fleisch, von dem wir
sprechen, ist nicht die Materie. Es ist das Einrollen des Sichtbaren in den
sehenden Leib, des Berührbaren in den berührenden Leib, das sich vor allem
dann bezeugt, wenn der Leib sich selbst sieht und sich berührt, während er
gerade dabei ist, die Dinge zu sehen und zu berühren, sodaß er gleichzeitig
als berührbarer zu ihnen hinabsteigt und sie als berührender alle beherrscht
und diesen Bezug wie auch jenen Doppelbezug durch Aufklaffen oder Spaltung
seiner eigenen Masse aus sich selbst hervorholt“ (Maurice Merleau-Ponty, Das
Sichtbare und das Unsichtbare, dt., München 1994, 2.Aufl., p191).
[56] So Herausgeber Hans Rudi Fischer in seinem Vorwort zu Georg Spencer-Brown, Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft, (dt.), Heidelberg 1996 (London 1957), p7. Daß es nur unsere Erwartungen sind, die die festen Weltgegenstände ausweisen mit Realität, stimmt so nicht; jedenfalls nicht, wenn man die Forschungen Jean Piagets berücksichtigt, der die operativen Vorgänge für Konstatierung und Gestaltidentifizierung weit unterhalb von Erwartungen ansetzen läßt.
[57] Die dann vorläufige Formen in etwas milderem Licht sehen läßt. So schreibt Georg Seeßlen dem Fernsehen zwar eine strukturelle Unmöglichkeit zu, das Unsichtbare zu akzeptieren (des Fernsehens „endlose Serialität [ist] selbst Ausdruck des Noch-nicht des Unsichtbaren. Was wir jetzt noch nicht sehen, das sehen wir das nächstemal. Oder das übernächstemal“; derselbe, Ein Mediendurchfall, in: konkret, 7/2001, p62-63, hier: p63). Aber das bedeutet nichts anders, als daß das Fernsehen noch mit dem Unsichtbaren kämpfe, mehr noch: „Im Fernsehen wird das Unsichtbare mit den Mitteln des Sichtbaren ausgedrückt“ (ebenda). – Virtuelle Bilder, virtuelles Sehen drücken dagegen nur noch das Sichtbare aus/ ein!
[58] Dataglove bezeichnet einen immersiven Handschuh, der mit Sensoren ausgestattet ist, die die Bewegungen von Hand und Fingern erkennen und an sog. VR-Anwendungen weitergeben, womit das sog. Interagieren mit 3D-Umgebungen und -Objekten möglich wird; head mounted display bezeichnet einen immersiven Helm zur dreidimensionalen Betrachtung von VR-Anwendungen. Der Helm besitzt sog. headtracker, das sind Sensoren, die die Kopfbewegungen erkennen und das ausgegebene Bild je nach Kopfbewegung verändern, und für jedes Auge einen eigenen LC-Monitor. Ziel der ganzen Ausrüstung ist, sich in den erzeugten Bildern, die die Dreidimensionalität im Kopf des Betrachters erzeugen, schauend bewegen zu können.
[59] Offen bleibt nur, ob dieses Nichtwegsehenkönnen ein Erstarren ist, wie es sich einstellt, wenn man von Stheno angeschaut wird, und also die Bilderexplosion in kausalem Zusammenhang steht zur vollständigen Erstarrung des Angeschauten, der nur noch angeschaut schauen kann, also immer nie sieht, aber dafür unendlich viele verschiedene Bilder bekommt, die die Blindheit verunsichtbaren; oder ob, wie Baudrillard meint, jedes beobachtende Vehikel seinen eigenen Spiegel verschluckt hat, also nur noch sein eigenes Anschauen und Angeschautwerden zu sehen vermag, also noch wissen können kann, daß Erkennen (im alten Sinne) noch möglich ist, sich allerdings auf die andere Seite, die Außenseite, verschoben hat (Ranulph Glanvilles These, daß nur noch die Objekte beobachten können).
[60] Man denke an den einfachen Fall, einen Baum zu sehen. Man sieht den dortigen Baum hier - hier bei sich, auf seiner Netzhaut, in seinem Gehirn. Und denkt man weiter, dann beginnt oft eine Oszillation derart, ob das Dortsein des Baumes hier im Gehirn entsteht, oder das Hiersein des Baumbildes vom dortigen Baum ausgeht. Verändert sich aber das Gehirn hier in seiner Perspektive, verändern sich auch die Baumbilder hier, während der Baum dort unverändert bleibt. Aber das Unverändertbleiben des Baumes kann ich nicht mehr sehen, also nicht mehr qua Selbstreferenz meines Sehens als Fremdreferenz des Baumes vorstellen; das Unverändertbleiben oder das Unabhängigsein des Baumes von meinem Bild von ihm ist Produkt der Beziehung zwischen mir und dem Baum; und diese Beziehung gehört nicht mir - im Sinne von ‘Ich bin derjenige, der die Welt unterscheidet in Selbstreferenz und Fremdreferenz’ -, sondern ich gehöre ihr an. Dies ist eine antikonstruktivistische Aussage.
[61] Niklas Luhmann, Die Realität der Massenmedien, 2., erw. Aufl., Opladen 1996, p17.
[62] Für Baudrillard (Das perfekte Verbrechen, a.a.O., p49) wäre diese Unterscheidungslosigkeit allerdings keine nur den 3D-imaginierenden Bildern zukommende Eigenschaft, sondern in diesen bloß am Spektakulärsten ersichtlich, denn: „Wir brauchen keinen Helm und keinen Digitalanzug: unser Wille bewegt sich in der Welt schon wie in einem synthetischen Bild. Wir alle haben unseren Empfänger verschluckt [..].“
[63] Das re-entry als paradoxes Paradoxiemanagement, das den Wiedereintritt einer Unterscheidung in das von ihr Unterschiedene möglich macht - the same is the different -, ist hier deswegen nicht möglich, weil es nur für Beobachtungen zweiter Ordnung zuständig ist; das Im-Bild-Sein der VR bleibt hingegen eine Beobachtung erster Ordnung, auch wenn es (analytisch betrachtet?) eine der dritten oder vierten Ordnung ist. Auf jeden Fall kann nicht mehr gecehen werden, was nicht gesehen wird, während gesehen wird.
[64] Das heißt dann, vielleicht etwas überhöht, sich Adornos Aufforderung anzuschließen, nämlich dem Antlitz des Grauens standzuhalten, oder, Lacan ernstnehmend, Angst bekommen wollen müssen, da nur die Angst dasjenige ist, was nicht täuscht. - Die äußerst starke Gegensicht wäre die, davon auszugehen, daß jeder in irgendeinem Zusammenhang getäuscht werden will, und daß zudem das Gegenteil von Täuschung nicht Wahrheit ist, sondern vielmehr die Indifferenz gegenüber der Unterscheidung Wahrheit/Täuschung (so Herbert Neidhöfer). Siehe auch die Unterscheidung zwischen dem Sehen der Gorgonen und dem der Leere bei Niklas Luhmann, Sthenographie, in: derselbe u.a.: Beobachter. Konvergenz der Erkenntnistheorien?, 2.Aufl., München 1992, p119-137.
[65] „Mit der Abbildung der Realität durch die Fotographie meinte man gleichzeitig ein Bild dieser Wirklichkeit von objektiver Qualität zu besitzen. Im Laufe der rapiden Entwicklung elektronischer Medien, durch die Realität jederzeit abrufbar erscheint, wird dem Bild sogar ein größerer Wahrheitsgehalt zugesprochen als dem Abgebildeten selbst: das Bild der Realität wird selbst zur Realität. Und wer vermag im Zeitalter der Simulation überhaupt noch von ‚der Realität’ als Wahrnehmungskategorie sprechen?“, so im Begleittext zu Fotos von Bernhard Widmanns Ausstellung „System Immanent“, in: Das BildForum, Begleitband zur Veranstaltung „4. Internationale Fototage Herten ´97“, p108.
[66] Aber nicht nur das: Denn solange es weiterhin „symbolische Systeme gibt, die sprachlich verdichtet und sprachlich vermittelt sind, ist der einzelne Mensch davor gefeit, sich völlig, nach Art des Autismus, in sich selbst zurückzuziehen und etwa nur noch mit seinen Bildern zu leben.“ - So Dietmar Kamper in seinem Beitrag Umgang mit der Zeit. Paradoxe Wiederholungen, in: Wolfgang Kaempfer, Die Zeit und die Uhren, FFM/Leibzig 1991, p243-351, hier: p268f.
[67] Siehe hierzu Verf., Der ‚ungeheure Mantelsack meines Geistes voller Bilder’ (Augustinus). Von Beobachtung leben: In Bildern sein jenseits einer Wirklichkeit, die noch zerstreut werden könnte, in: Hans Belting & Dietmar Kamper (Hg.): Der zweite Blick. Bildgeschichte und Bildreflexion, München 2000, p121-143, hier: p127f.
[68] dt.,
Reinbek 1977, Ausg. 1994, p139.
[69] Luhmann, Soziale Systeme, a.a.O., p154.
[70] Peter Høeg, Der Plan von der Abschaffung des Dunkels, dt., München/Wien 1995. Høeg sieht die Abschaffung maßgebend darin, daß mit dem Instrument der linearen Zeit die menschliche Natur gedrängt wurde. Siehe auch zum Kampf zwischen Licht und Finsternis Sassan Ghafouri, Iran. Religion, Kultur, Staat. Eine Studie zum Werdegang einer Nation, Aachen 1999, p28ff.
[71] Dietmar Kamper, Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995, p29.
[72] Die konstruktivistische Beobachtertheorie behauptet die Blindheit als Effekt der Beobachtung erster Ordnung, von einer Beobachtung zweiter Ordnung aus gesehen (für die wiederum das nämliche gilt). Hier jedoch wird behauptet, daß keine zweite Ordnung mehr angenommen werden kann, „von“ der aus die unsichtbaren Effekte der ersten Beobachtung beobachtet werden können.
[73] Siehe zu diesen Verschiebungen die glänzende Studie von Andreas Lösch, Genomprojekt und Moderne. Soziologische Analysen des bioethischen Diskurses, FFM 2001.
[74] In: Lettre International, 60/2001, p60-74, hier: p74.