Bernd Ternes
Berlin, Anfang 2017
Antworten auf die gestellten Fragen.
Fragen
1. Wie können wir auf Grund der politischen Philosophie des Giorgio
Agamben den Begriff der „kommenden Gemeinschaft“ verstehen? Worin besteht das
„exzentrische Paradoxon“?
Antwort:
Wie
immer bei ausgreifenden Begriffen auf vielfältige Weise. Eine Weise, die ich
stark machen würde, ist die, Agambens Gemeinschaftsbegriff fürs Erste als
optimistische Begreifbarmachung der Zukunft des vergesellschafteten Einzelnen
zu sehen – als starke Alternative zu tribalistischen, segmentierten bis hin zu
anomischen Organisationsweisen der „Masse Mensch“. Die letztgenannten
„Systembildungen“ sind im Kern reaktiv-reaktionär, undialektisch-faschistisch
und verhaftet in einer ödipalen Beziehung zum großen Sozialisationsvehikel
„Staat“ resp. weiterhin unter dem binären Zwangssystem „Herr-Knecht“
reglementiert. Agambens Begriff der Gemeinschaft hingegen meint nicht die
parasitäre, den Zerfall von Gesellschaft verwertende und ausbeutende Organisation
(etwa: Mafia in postkatatrophalen Gesellschaften, Clans in poststaatlichen
Gesellschaften); auch meint er nicht, wie ich denke, die Reanimierung der
Gemeinschaft-Gesellschaft-Dichotomie, wie sie von Ferdinand Tönnies vor bald
130 Jahren wirkmächtig kreiert und in der Folge maßgebend für konservative
Kritik an der Moderne und ihren Eigenwerten wurde. Vielmehr versucht Agamben
die historische Formation der Menschenformung Europas, Subjektivierung,
abzusprengen von allen Formen identitäts- und anerkennungspolitischer
Produktion des homo sapiens als Person. Diese zukünftige Person in einer
kommenden Gemeinschaft müßte – aus einer heutigen mainstream-Perspektive betrachtet – als depraviert, exkludiert,
depersonalisiert, alieniert, kurz: als Rand, als „verfemter Teil“, als das
„Ausgeschlossene“, das „radikal Andere“ beschrieben werden. Da Agamben indes
all diese Attribute und Substantivierungen plausibel für das materiale und
ideelle Zentrum der Verfaßtheit heutiger kapitalistischer Gesellschaften in
Anschlag zu bringen vermag (vergleichbar der postmodernen These, dass das
Unaufgeklärteste die Aufklärung selbst geworden sei), verkehrt sich indes die
Zuschreibung: der depersonalisierte, nicht in Identitäts- und
Anerkennungskämpfen materiell und bewußtseinsideologisch geformte Mensch wird
zum Fluchtpunkt – wenn auch nicht zum Heil, zur Erlösung oder zum Bewahrer
einer anthropologischen Wahrheit, die im normalen gesellschaftlichen
Funktionieren schon längst zerstört worden sei (vergleichbar der kurzzeitigen
Überzeugung Foucaults, dass „die Geisteskranken“ Bewahrer seien des
Menschlichen in einer Gesellschaft).
Agambens
Begriff der Singularität ist begriffsgeschichtlich eher in der Ästhetik zu
verorten. Agambens Gemeinschaft schließt die Tür zum Projekt der Aufklärung
(als Selbstermächtigungsprojekt mit der ratioiden „Steuerzentrale“
Selbstbewußtsein), er schließt auch die Tür zum Projekt der Moderne (als
Projekt der Ubiquität des Unternehmersubjekts); aber er überschreitet auch
nicht die Schwelle der Tür, hinter der eine Renaturalisierung, eine
Rekreaturalität (vulgo „Mensch“) betrieben wird. Agambens Begriff von
Gemeinschaft ist, so denke ich, anzusiedeln zwischen der
beobachtungsphilosophischen Kennzeichnung eines Objektes durch Ranulph
Glanville, dergestalt, dass ein Objekt weder beobachtet noch beobachtet wird,
und der gegenwärtig sich Kontur verschaffenden Sozialtechnologie namens „Big
Data“, in der jegliche Erscheinungsweisen von sozialen Gruppierungen in statistische
übersetzt werden – und also keinen Begriff von Gesellschaft mehr brauchen scheinen
(allenfalls den Begriff der Dromologie und den des Akzidentiellen).
2. Ist es angemessen zu sagen, dass Agamben die Frage der Gemeinschaft
als politische Kategorie untersucht? Warum?
Ich
denke, man muß hier bejahen und verneinen.
a) Es ist angemessen, da Agamben nicht auf
soziobiologische, systemtheoretische, fundamentalontologische Diskurse
zurückgreift, um daraus anpolitisierte oder derivatiöse Begrifflichkeiten zu
bilden. Agamben hält fest an der Einsicht, dass Menschen, vor allem in
Gesellschaft und Gemeinschaft organisierte Menschen, gegenwartsfähig sein
müssen, also Entitäten sind, auf die Zeit anzuwenden ist. Zeit indes, ist sie
mehr als reine Chronologie/ Chronometrie, bedarf des Ereignisses, also der
Möglichkeit von Gegenwart, die wiederum Voraussetzung ist dafür, dass Zukunft
ungewiß ist (sprich: nicht vollständig zu genealogisieren). Während für das psychosoziale Wesen Mensch der
Sinnbegriff diese Dimension von Zukunft ermöglicht, ist es für den
vergesellschafteten Menschen das Politische, das diese Offenheit erst entwirft.
Agambens Frage nach der zukünftigen Gemeinschaftsform des Menschengeschlechts
beerbt daher in meinen Augen sowohl Marxens Sicht auf die noch bestehende
„uneigentliche Geschichte des Menschen“, solange die Produktions- und
Reproduktionsform einem kapitalistischen Regime gehorcht, wie auch Heideggers
Sicht auf die noch herrschende „Seinsvergessenheit“ des Seienden der Menschen.
b) Zugleich ist es nicht angemessen, Agambens
Auseinandersetzung mit dem Begriff der Gemeinschaft als in einer politischen
Kategorialität verortete Auseinandersetzung zu deuten, da – verständlicherweise
– keinen Agenten, kein „Model“, kein Subjekt anzubieten vermag, das die
paradoxe Spannung in sich bündeln könnte, sowohl der noch in nackter Menschen-
und Identitätsformhülle befindliche als auch der sich den Identitätspolitiken
und -semantiken schon entzogen habende Mensch zu „sein“. Es ist hier in meinen
Augen die ähnliche Konstellation, wie sie bei Foucault gedeutet werden kann:
die Sandspur des Menschen, die von den Wellen zum Verschwinden gebracht wird –
wer ist es, der dies wahrzunehmen vermag: der verschwundene Mensch. Indes
bleibt zu sagen, dass Agamben letztlich doch „politisch“ bleibt mit seinem
Gemeinschaftsbegriff, da er sich einer theoretischen Entfaltung desselben im
Agens enthält und es der realen Praxis des negativen Historisierens überläßt
(etwa so, wie Marx in den Grundrissen darauf besteht, dass „der“ Kommunismus
nicht theoretisch vorweggenommen, sondern sich in der Praxis synthetisieren
muß).
3. Wie weit gilt in diesem Sinne Agambens philosophisches Bemühen der
Auffindung von Kategorien für eine innovative politische Philosophie?
Von
Günther Anders stammt der Satz, dass das Denken zu bestimmten Zeiten näher an
die Wahrheit der Realität herankommt, wenn es maßlos übertreibt – eben weil
das, was real ist, sich an keine Grenzen hält, auch nicht an solche der
Unterscheidungstheorie oder der sprachlichen Einholung (à la TLP-Wittgenstein).
Ich sehe Agambens politische Philosophie in dieser Tradition Anders‘ oder auch
in der Baudrillards. Allerdings würde ich seine Innovation weniger in der
Horizonterweiterung kategorialen Denkens sehen; vielmehr sehe ich in seinen
Texturen, Tiefenanalysen und Interferenzen eine epistemologische
Horizontbildung, die, akzeptiert man sie, in etwa das leistet, was die
Psychoanalyse Freuds als neue epistemologische „Währung“ geleistet hat:
Einsicht vermitteln in die noch komplexere Syndromatik und Symptomatik der
Verfassung organisierter Menschen – und damit eine erschwerte Prüfung all der
Ideen und politischen Visionen, die auf die Befreiung, auf die Emanzipation,
auf die Menschwerdung des Menschen zielen.
4. Wie weit ist dieser Gedanke der „kommenden Gemeinschaft“ mit der
„kommenden Politik“ und der Idee der Profanation verbunden?
So
wie ich den Begriff der Profanation verstehe, ist er eine andere Bezeichnung
des Umstandes, dass in der Herausbildung moderner Gesellschaften vormals
macht-, gemeinschafts- und sanktionsbildende Topoi/ Symbole/ Praktiken
privatisiert werden. Säkularisierung ist, denke ich, eine der prominentesten
Profanierungsdimensionen – der mythische Reichtum des Religiösen bleibt
privatisiert zugänglich bei gleichzeitiger Ausdünnung des Heiligen in der
Gesellschaft (oder, wenn man es kritisch wenden möchte: bei gleichzeitiger
Verschiebung des Heiligen in die Hüllen des Szientismus). Agamben geht indes
über diesen prominenten Kandidaten hinaus mit seiner Begrifflichkeit
„Profanation“; auch hier sehe ich wieder Parallelen zu Freuds Projekt der Umschrift der conditio humana. Indes:
Agambens kommende Gemeinschaft müsset sich (in meiner Lesart) derart stark von
der eigenen Vergangenheit/ den eigenen Vergangenheiten gelöst, unabhängig
gemacht haben, dass Profanationen eigentlich nur noch voluntaristische oder
stochastische Dignität haben können. Allenfalls können sie herhalten für die
Funktion des Platzhalters der verwaisten Stelle, die vormals das Geschäft der
Historisierung innehatte: sich sowohl von seiner eigenen Vergangenheit
(kulturell adäquat) abhängig zu machen (bis ins 19. Jahrhundert maßgebend), resp.
sich von der eigenen Vergangenheit des
Sich-von-der-Vergangenheit-unabhängig-Machens abhängig zu machen (ab dem 20.
Jahrhundert).
5. Können wir andererseits die „kommende Gemeinschaft“ als diejenige
verstehen, in der wir in der Lage sind, uns unsere „eigene Lebensform“ zu
geben? Warum?
Ich
gehe davon aus, dass die Agambensche Form kommender Gemeinschaftlichkeit eine
Form „besitzen“ müßte, wie sie Vilém Flusser immer wieder indirekt zum Ausdruck
brachte: als ephemeres, instantanes, immanentes, das Wegsein stärker als das
Dasein anspielendes Existenzial. Dies verbietet es meines Erachtens, von einer
Eigenheit der Form der Menschen auszugehen. Agamben hebt letztlich die
Unendlichkeit des Menschen darin auf, dass es bei ihm, dem Menschen,
äußerstenfalls beim Werden bleibt. Das human being betrifft tatsächlich nur unsere gegenwärtige psychosoziale
und auch psychopolitische Konstitution; Agamben ist es darum zu tun, so denke
ich, auch für diese Formhüllen des Menschen ein human becoming zu denken.
Anders verhält es sich, so man die Formen der Organisation von Beziehungen
zwischen Menschen in den Blick nimmt. Hier scheint es humanevolutionäre
Endformen zu geben (etwa „Gerechtigkeit“ im Sinne Derridas, oder auch das
Marxsche Individuum als Gattungswesen).
6. Welche Bedeutung haben Paulus‘ Schriften für die Konstruktion der
Idee der „kommenden Gemeinschaft“?
In
der Lesart Jacob Taubes, der die Gesetzeskritik im Römerbrief Paulus‘ stark
macht, keine große Bedeutung. Ich gehen davon aus, dass die policy-Dimension des
Gesetzes, das Recht, historisch eher als Anomalie zu betrachten ist – schon
jetzt können wir sehen, dass Gesetzeskritik immer größere Bereiche verliert an
die rein kapitalistische Marktgemeinschaft und an die technisch-hermetischen
Kommunikationsverhältnisse elektronischer Verdinglichung sozialer, damit
letztlich politisch verhandelbarer Bedürfnisse.
In
der Dimension der „negativen Verinnerlichung“ des Messianismus als
gescheiterter, als gleichsam oberste Profanierung überhaupt, die „vorerst
temporär“ das Verwirklichen/ Einlösen/ Erlösen in die Dimension des
Sich-Enthaltens, des Nicht-Verwirklichens, des Nicht-Ausdrückens, des
Negativ-Bleibens evakuiert, könnte meines Erachtens Paulus‘ politische
Theologie als Stütze, als Referenz für eine Rahmenorientierung kommender
Vergemeinschaftung in den Blick kommen. Ich selbst würde allerdings darin keine
starke Hilfe sehen können.
7. Wie hat Walter Benjamin die Begriffe Gemeinschaft und Messianismus
beeinflusst, welche Agambens Philosophie durchziehen?
Nach
meiner Lesart eher nicht maßgebend. Was bei Benjamin im kabbalistischen Begriff
des Tikkun, der Wiederherstellung und Ausbesserung des zerschlagenen Seins der
Dinge/ Gefäße/ des Lichts als messianische Aufgabe zwar nicht dem Engel der
Geschichte zukommt, aber mit dem Ausgangspunkt der Katastrophe der
zerschlagenen Welt weiterhin als messianische Aufgabe besteht, da, wie Benjamin
sagt, die Vergangenheit einen zeitlichen Index mit sich führt, durch den auf
die Erlösung verwiesen wird, bleibt ihm evident, dass das Gattungswesen namens
Mensch in seiner Zeit weiterhin eine messianische Kraft mitführt, die
ermöglicht, dass das Unabgegoltene der Vergangenheit Referenz der Gegenwart
IST. Ob wir wollen oder nicht. Ich denke, bei Agamben ist der Messianismus doch
stärker dezisionistischer Dignität – hierin drückt sich meines Erachtens
Agambens Integration rechter Philosophie aus (vor allem die der Nazis Heidegger
und Schmitt). Agambens Gemeinschaft bleibt, wenn man es so sagen darf, in der
Zerstörung (als katastrophale Voraussetzung der Erlösung), die als Zerstörung
einen anderen ontologischen Aggregatzustand annimmt: die Zerstreuung.
Ich
denke, Agambens prospektiver Gemeinschaftsbegriff bezieht seine Kontur nicht
aus dem Gedankenuniversum Benjamins.
8. Wie können wir in der Perspektive der politischen Philosophie
Agambens die nicht zu übersehende Nähe zwischen den Totalitarismen und
Demokratie verstehen?
Wenn
man es einfach sagen dürfte: indem man nochmals Luciano Canforas „La
democrazia. Storia di un’indeologia“ (dt.: Kurze Geschichte der Demokratie. Von
Athen bis zur EU) aus dem Jahre 2004 liest. Canfora wie auch Agamben weisen
historisch-materialistisch wie philosophiepolitisch nach, dass es materialiter
keinen Schied zwischen demokratischer und nichtdemokratischer Gewalt gibt. Was
es gibt, ist der Spielraum, den die Demokratie läßt: demos als Projekt, die
Lebensverhältnisse nichtgewaltsam, nichtunterdrückend gestalten zu können,
Offenheit als Struktur der Verfaßtheit von Gesellschaft als Attraktor der
gesellschaftlichen und dann vor allem rechtlichen Semantik zu etablieren.
Agamben wie Canfora bestehen in einer linken Lesart darauf, dass Carl Schmitts
Provokation, mit dem Institut der Menschenrechte ließe sich noch bestialischer
Politik betreiben, berechtigt ist. Nur ist beider Horizont nicht der Faschismus
wie bei Schmitt, sondern das Insistieren darauf, dass die gegenwärtige
Erscheinungsweise der gesellschaftlichen Organisation von Leid, Ungerechtigkeit
und Herrschaft als Formhülle zu verstehen ist, die potentiell abzustreifen ist
– wenn auch in äußerst komplexer Weise (auch hier kann man eine Reverenz an
Marx ausmachen, der gleichsam das Abstreifmotiv bemühte bei der Frage, wie das
Proletariat aus seiner bisherigen Verdinglichungsmenschenform ins befreite
Reich der Lebensfristung überwechseln könne). Kurz: Agamben führt in die
zentrale Frage, ob es im „Paradigma“ der Demokratie als Idee etwas gibt, das nicht als Derivat der perfekteren Form
von Herrschaft (gegenüber der Disziplinargesellschaft) bedeutet werden muß –
das also, jetzt sehr abstrakt gesprochen, ermöglicht, das Unabgegoltene der
Vergangenheit als Gegenwart verfügbar zu machen, die selbst nicht Vergangenheit
werden kann, sondern im Ereignis zu sich kommt. Der alles dominierende
Widerspruch hierbei ist, dass diese „temporale“ Textur schon längst passiert,
und zwar in einem psychoanalytisch aufzuschlüsselnden Sozialcharakter des
Kapitalismus, dem alle Gegenwart immer nur Simulation einer Vergangenheit sein
kann, die selbst niemals Gegenwart gewesen ist (wir wären hier bei Derridas
Supplement angelangt).
9. Welche Bedeutung haben das Projekt Homo sacer und auch das gesamte Werk Agambens für die heutige
Debatte über die politische Philosophie?
Meines
Erachtens eine leider zu geringe; soweit ich es überblicken vermag, gehört
Agamben zumindest für das universitäre geisteswissenschaftliche Denken zu einer
aussterbenden Spezies. Der „Terror“ des Pragmatismus/ Neo-Positivismus, der
Anwendungsorientierungssucht, der schnellen Lösungen delegitimiert ein Denken,
das in tatsächlich umspannenden Zeitachsen zu erkennen vermag, was, wer und wie
Menschen nicht sind. Gerade in einer
Zeit, in der viele mit Selbstverständlichkeit einem intellektuellen Opfer das
Wort reden (à la Napoleon: Die Zeit des Romans ende, die Zeit der Geschichte
beginne mit ihm), also in einem invertierten Sinn Julien Bendas „Verrat“ (1929)
praktizieren, ist es wichtiger denn je, beim Negativen zu verweilen. Agambens
stupendes Panorama der Negativierung des Nichts (nach Virilio der Eigenwert der
europäischen Zivilisation), also die Enthüllung, die Entblößung „des Menschen“
als einen, der durch die Texturhüllen der Aufklärung und der Moderne beschrieben
und gerade dadurch bargemacht worden ist (im Doppelsinne zu verstehen), sollte
allen, die an der gegenwärtigen „Emanzipation der Gesellschaft vom Menschen“
arbeiten, Pflichtlektüre sein. Doch das ist ein utopischer Wunsch.
10. Möchten Sie sonst etwas hinzufügen, das noch nicht berührt worden
ist?
Vielleicht
dies: Mit Agamben ist es einfacher, dem Gedanken zu folgen, dass das
Soziale mittlerweile in eine „Ableitungsposition“ gerutscht ist. Gemeint ist
damit eine Verrückung der grundlegenden Mechanismen der Vergesellschaftung,
zumindest eine Komplexierung derselben. Nicht mehr rückt, um es in der Sprache
des deutschen Idealismus und des Marxismus zu sagen, das Tote (analysierte Welt
bei Hegel, tote Arbeit bei Marx) aus der Perspektive des Lebens („Leben des
Geistes“, lebendige Arbeit) in den Blick, sondern letzteres aus der Perspektive
des Toten – also des vergegenständlicht-verdinglicht-abstrakten Kondensats
vergangener Arbeit, Zeit, Handlungen, Leiden. Das mutet selbst verrückt an;
wird indes entwirrt werden können, so man den Begriff der Leblosigkeit als „neue“ Daseinsdimension exzentrisch paradoxer
Verfaßtheit von Gesellschaft akzeptiert, der nichts vom Gedanken des Seins zum
Tode hält, ihm aber nicht auszuweichen vermag und damit, pointiert gesagt, dem
Ausspruch Viktor von Weizsäckers axiomatisch folgt, nämlich: Leben heißt,
leidenschaftlich nicht tot zu sein. – Diese negative „Philosophie des Lebens“
folgt der negativen Anthropologie, die ihrerseits der negativen Dialektik
weiterhin als Denkpeilung verpflichtet ist. Für diese spricht weiterhin, fast
allein auf weiter Flur, Agamben.
Bernd Ternes
Berlin
[1] Hans Peter Weber, Wie spät ist es?, in: menschen formen (Hg.), menschen formen, Berlin 2000, p10.
[2] Besonders deutlich wird dies gegenwärtig an den Front- und Allianzbildungen rund ums Thema Anthropotechniken. Viele Kritiker vertreten hier einen lebenskonservativen Standpunkt alleine deswegen, weil sie nicht auf der Seite derjenigen stehen wollen, die in einer möglichen weiteren Emanzipation der Menschen von Natur etwa durch Einsatz pränataler Genomveränderungen vordringlich nur einen weiteren Markt sehen, der Gewinne verspricht. Siehe zum Teilbereich der Genomanalyse die glänzende, sich für eindeutige Kritik entschieden habende diskurstheoretische Studie von Andreas Lösch, Genomprojekt und Moderne. Soziologische Analysen des bioethischen Diskurses, FFM/ New York 2001.
[3] Beide Sätze sind die Überschriften der Abschnitte V und VI des fünften Buches seines Werkes „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791), Neuausgabe Bodenheim 1995, p143 + p146.