Die Gewalt in der Gewalt des Rechts

 

Mondialität als Extramundanes im Schlepptau des Mundanen[1]

Bernd Ternes

 

 

„Haben Sie eine Weltanschauung?“

„Ach, ich schau die nicht mehr an!“

Matthias Deutschmann

 

 

Aber wo schaut er hin, der Befragte, wenn er die Welt nicht mehr anschaut? Schaut er fern, um nichts mehr zu sehen? Und: Kümmert das die Welt? Und die anderen Welten?

Das folgende geht etwas umständlich der Frage nach, ob man noch auf die Welt kommt, ob man nur in der Welt ist ohne Gegenüber, und ob die mundane Welt noch auf der mondialen Welt ist; es zieht sich auf an Einsichten von Michel Serres, Peter Fuchs, Günther Teubner, Walter Benjamin und Jaques Derrida; es zieht an bei der Frage, was sich im Verhältnis von erster Welt (die Gewalttätigkeit der Gewalt) zur zweiten Welt (die Gewalt des Rechts, gewalttätig zu sein) und von zweiter zur ersten vermutlich geändert hat; und es verzieht sich beim Gedanken, daß Mikro- und Makrostrukturen sozialer Welt mittlerweile so hermetisch, so in-sich geworden sind, daß sie „Mundialität“ (verstanden als mondial/mundan) nur noch als Katastrophe evozieren: Als Karambolage gewalttätiger Umschließung und Einschließung. Subjektloser Hilfeschrei im stummen Universum.

 

 

1

Das Bild, das sich Michel Serres für die Front seines Buches „Le Contrat Naturel“ (1990, dt. 1994) ausgesucht hat, ist nicht nur beeindruckend, sondern auch vielsprechend für das, was er zu sagen hat. Francisco de Goyas „Kampf zweier Burschen mit Stöcken“ („Fight with Cudgels“, „Hommes se battant avec des bâtons“; 1820-23) macht in der überlebensgroßen Ignoranz der Schlagenden gegenüber der Tatsache, daß sie sich ihre Köpfe einzuschlagen versuchen, während sie langsam im Treibsand bzw. Sumpf versinken, ein gleichsam überlebensgroßes Sinnbild auf, ein Sinnbild, das Serres auszufüllen sucht mit der totalen Behauptung, daß das, was bei Goya der Sumpf ist, heute die Ausmaße des Erd-Planeten angenommen hat:

„Denken Sie sich die Umwelt dieser Kämpfe weg, schauen sie nur auf die Konflikte und Auseinandersetzungen, die erfüllt von Menschen, aber entblößt von aller Gegenständlichkeit sind – und sie haben das Theater, das auf unseren Bühnen gespielt wird, die meisten unserer Erzählungen und Philosophien, die Geschichte und die Sozialwissenschaften in ihrer Gesamtheit: jenes interessante Spektakel, genannt ‚Kulturschauspiel‘. Wer aber sagt je, wo sich Herr und Knecht bekriegen?

Unsere Kultur verabscheut die Welt [orig.: Notre culture a horreur du monde; B.T.].

[...] In unsere Kultur [..] bricht sie ein: die Natur. Einst lokal – jener Fluß, jener Sumpf; heute global – der ERD-PLANET“.[2]

 

Es handelt sich jedoch nicht alleine um einen einseitigen Einbruch, den Serres feststellt. Ökologische Kommunikation, ökologische Philosophie jenseits irgend einer Naturphilosophie ruht beinahe auf dem Wissen, daß die sogenannte wissenschaftlich-technische Zivilisation sich nicht mehr nur auf die „Natur“ legt, sondern mit einer niegekannten Interventions-, Kreations- und Destruktionskapazität mittlerweile bei der klimatischen Atmosphäre[3], beim reellen morphing, bei der evolutiv generierten genetischen Informationsproduktion gelandet ist. Nicht nur die globale Natur tritt also in die Geschichte ein, sondern auch die globale Geschichte in die Natur.[4] Dieser Fall, dieses Hineinstürzen der Natur in die Geschichte, also das Einbrechen (und nicht: Einrechnen!) der mondialen Welt in die mundane Welt einerseits, das Hineinstürzen der Geschichte in die Natur, also das – nun eine wesentliche Verschiebung! – In-sich-Einbrechen der mundanen Welt in die zumindest extramundane Welt: dieser Fall sei nach Serres ein Novum in der Philosophie, also noch nicht begriffen. Und da zudem die Geschichte es auch noch nicht begriffen hat – „Die Geschichte, brodelnd, bleibt der Natur gegenüber blind“[5] –, bedürfe es eines neuen Vertrages zwischen Gesellschaftsgeschichte und Naturgeschichte, eines Vertrages, der den Hiatus zwischen beiden Geschichten ineins aufheben und aufrechterhalten soll. Es geht also um ein neues Verhältnis zwischen dem Sich-Recht-Schaffen der Gewalt der Naturgeschichte und der maßlos, planetar gewaltsam gewordenen Gewalt des Rechts der Gesellschaftsgeschichte. Denn man kommt, so scheint es, beinahe nicht umhin, den der ziel- und zweckgerichteten technologischen Zivilisation inhärenten Ausscheidungen und Defekten der Natur, der Gesellschaft und der Psyche eine Art konspirative Organisiertheit zu unterstellen, so als gäbe es nicht nur eine Akkumulation des Abfalls, sondern auch eine Emergenz, gar eine Synthese desselben[6]. Und diese erzwingt, dem Erd-Planeten einen rechtlichen Status, einen Status als Rechtssubjekt zu geben: das Ausgeschlossene muß eingeschlossen werden. Aber wie? Fakt ist, daß die gesellschaftliche Exkorporation des Todes seine höchste Stufe erreicht hat: die planetare Dimension. In dieser drängeln sich die ‚Defekte‘ mittlerweile titanenhaft. Dieser Dimension, diesem Format scheint nur noch der Blick der Rache oder aber der Blick des Rechts (auf Verträge, die die Parteien verträglich machen) gerecht werden zu können, so wie ihn Serres einnimmt. Es geht also um das Erfassen einer extrem unvergleichlichen Befindlichkeit der inneren und äußeren Ökologie der Menschengattung, und um Initiierung einer Verfassung, die Mundanität und Mondialität „verträgt“.

Dem Blick Serres‘ auf die Gewalt der Natur, die sich gewaltsam Recht verschafft, indem sie in diejenige Welt einbricht, in der Gewalt in Recht und Recht in Kriegsvertrag und Krieg sich morphisiert hat, korrespondiert ein anderer, eher systemtheoretischer Blick, den man als kausale oder auch als symptomatische Antwort auf den Vorgang der zunehmenden, meist grausamen „Erdung“ der Welt verstehen kann. Dieser systemtheoretische Blick hat nicht das Verhältnis zwischen Erd-Planeten und soziokultureller Welt vor sich, sondern das Verhältnis zwischen Kommunikation und Bewußtsein innerhalb der Welt, die als Weltgesellschaft, als weltgesellschaftliche Kommunikation verstanden wird. Und zwar scheint sich im Verhältnis von Kommunikation und Bewußtsein etwas abzuspielen, was als Wiederholung gelten kann, als Wiederholung der Blindheit der Geschichte gegenüber der Natur. Ja, vielleicht passiert hier etwas, das als letzte Abwehr der Welt verstanden werden kann, dem Einbruch der Mondialität autistisch und hermetisch geschlossen zu begegnen. Peter Fuchs beschreibt das so:

„Ich will [..] sagen, daß die weltgesellschaftliche Kommunikation dazu übergeht, ihre Adressen im Selbstkontakt zu fabrizieren. Das tut sie in einem gewissen Sinne immer, insofern die Adresse eine kommunikative Konstruktion ist, aber die Konstruktion kann mehr und mehr darauf verzichten, einen empirischen Gegenhalt zu haben. Das System beginnt, sich seine Umwelt zu erfinden. Und die nicht erfundene Umwelt (das reale Bewußtsein) kann herumkaspern, soviel es will, es wird immer weniger berücksichtigt. Ich will dieses Phänomen versuchsweise das Phänomen der Hyperautonomie der Gesellschaft nennen, das Phänomen der Hyperautonomie der Funktionssysteme. Ich könnte auch sagen: das Phänomen der großen Entkopplung von empirischem Bewußtsein und der Konstruktion sozialer Adressen.“[7]

 

Während  also – um es leicht kryptisch zu formulieren – das System namens Welt/ Geschichte/ Kultur/ Mundanität sich nicht mehr leisten kann, die Umwelt namens Umwelt/ Natur/ Mondialität als Umwelt zu behandeln und zu verschandeln, steigert im gleichen Atemzug das System namens Kommunikation seine Form, die Umwelt namens Bewußtsein als Umwelt zu behandeln, ja, es macht sich noch unabhängiger von dieser Umwelt und wird, so Fuchs, hyperautonom. Oder anders und grob vereinfachend: Das Hegelsche Lauffeuer einer Beendigung der Endlichkeit des Menschen durch Verwirklichung des Bewußtseins als unendliche Beziehung auf sich selbst[8] wird gelöscht durch die in die Geschichte einbrechende Gewalt der mondialen Welt, die die Menschen wieder daran erinnert, der Endlichkeit, der Limitation, der Geschichte, die nicht Vernunft ist, anzugehören. Zugleich aber scheint sich die Unendlichkeit in der Dimension sozialer Systeme fortzusetzen, indem diese Systeme zumindest ausprobieren, wie es ist, ohne Rekurs auf eine auch nicht mehr vorhandene Vernunft der Gesamtgesellschaft durch eine unendliche Beziehung auf sich selbst sich selbst zu reproduzieren, und dabei das Bewußtsein in eine extrem endliche, dürftige, empirische Figur verwandeln, durch die jetzt Endlichkeit schimmert in dem Maße, wie es bei Hegel dem Körper geziemte. Das Bewußtsein wird beinahe das Unbewußte der Kommunikation, so Fuchs.

Versuchte man, eine kausale Beziehung zwischen diesen beiden Bewegungen auszumachen, wäre der Ansatz, von einer Ökonomie der Beziehungskapazität von Systemen auszugehen, nicht ganz sinnlos: Man müsste dann sagen, daß in dem Maße, in dem Gesellschaft sich zwingend mehr ins Benehmen, ins Vertragen, in Verbindung mit der mondialen Welt der Dinge zu setzen hat, sich das Ausmaß des Verbindens mit der mundanen Welt der Psychen, Bewußtseine und Menschen verkleinert. Das liefe also auf ein „Entweder oder“ hinaus, bedingt durch die logische (?), soziologische (?), systemische (?) Knappheit des Mit-der-Welt-Seins: Entweder kümmert sich die aus der Mondialität herausgebrochene mundane Welt um ihr Verhältnis zur Außen-Umwelt, oder sie kümmert sich um die Integration der in die Innen-Umwelt des Gesellschaftssystems hineingefallenen Menschen. Marcuses Annahme, erst durch Versöhnung mit Natur könne überhaupt Versöhnung der Menschen miteinander passieren, fiele definitiv heraus.

Versuchte man, eine symptomatische Beziehung zwischen den oben skizzierten Bewegungen auszumachen, dann könnte man eine Perspektive der Fraktalität wählen im Sinne des Mathematikers Benoit Mandelbrot, der sich in den 60er Jahren mit Geometriken unregelmässiger Eigenschaft, also etwa Küstenlinien, Bergketten u.ä., beschäftigte, und dabei feststellte, daß sich Unregelmäßigkeiten auf jeder Ebene, in jedem Maßstab wiederholen (eine Messung der wirklichen Länge etwa der Küste Großbritanniens würde daher das Ergebnis ‚unendlich‘ liefern, da die Unregelmäßigkeit einer Küstenlinie einen immer genaueren Maßstab erforderte, bei jedem Maßstab aber die alte Unregelmäßigkeit wiederkehrte); bei genauerem Hinsehen könne man sogar nachweisen, daß sich bis ins Atomare hinein die komplexen Strukturen durchhalten. – Auch wenn es unsauber ist, hier Fraktalität zu vermuten, da Mandelbrot den Radius ebendieser außerhalb der Mathematik nur in der Natur ausmachte und nicht auf genuin mundane Vermittlungsverhältnisse oder gar auf „soziale Tatsachen“ anwendete, ist es doch, mit Whitehead im Rücken[9], plausibel denkbar, daß sich die Formen der Beziehungen zwischen Menschen und Menschen und zwischen Menschen und Gesellschaft sowie die Formen der Beziehungen zwischen Gesellschaft und mondialer Erde ein und derselben komplexen Struktur verdanken (vielleicht derjenigen Struktur der Form der Beziehung der Planeten zueinander und zum Polyversum?). Man spürt vielleicht, daß hier eine falsche Unendlichkeit der Spekulation am Werke ist. Kann man es kleiner machen? Peter Sloterdijk hat eine ähnliche Bogenspannung vorgenommen, allerdings innerhalb des Radius‘ der mundanen Welt, und mit dem entscheidenden Unterschied, die Arten und Weisen globaler Beziehungsformen als abgeleitete Formen zu betrachten, abgeleitet von dem Mikrouniversum interpersonaler Sphären.[10] Eine ähnliche Rangordnung, die das Makrologische als Ausfluß eines Mikrologischen deutet, bietet Humberto R. Maturana an.[11] Wie dem auch sei: Unterstellt man eine Art Fraktalität in den Beziehungsformen der mundanen und der mondialen Welt, dann wäre das Herausfallen dieses eigenartigen Artefakts Welt aus der Erde und das Herausfallen des ebenso unbegreiflichen Artefakts Mensch sowohl aus der Natur wie aus der Gesellschaft nichts mehr, was einen Unterschied ums Ganze bildete. Ek-sistenz des Menschen als Substanz des Menschen könnte dann nicht mehr behauptet werden. Und wenn man den Sprung vom Unterschied Natur/ Sprache zum Unterschied Gewalt/ Recht macht: könnte das also bedeuten, daß sich die Opposition zwischen Gewalt und Recht immer weniger als Unterschied, der einen Unterschied macht, halten läßt? Wenn also der Rechtsstatus des Krieges sich immer weniger unterscheiden lassen sollte von der Rechtslosigkeit objektiver Gewalt, und Serres‘ Satz, daß der Krieg uns faktisch und kraft des Rechts vor der unbegrenzten Reproduktion von Gewalt schützt[12], nicht mehr gilt: Was liegt dann vor? Ich meine: vor als Welt?

 

 

2

Liegen für diese Behauptung überhaupt Vorgänge vor, die auf Änderungen des Stellenwerts des Rechts im Verhältnis zur Gewalt eingehen, also auch auf die Rechts-Gewalt? Wenn man die philosophische Perspektive der Klärung des Woher und des Wie von Gewalt, Gesetz und Recht für einen Moment hintanstellt und eine eher soziologische einnimmt, die erst einmal innerhalb des Recht-Universums nach Verhältnisänderungen Ausschau hält, dann könnte man den Hinweisen Gunther Teubners folgen, der innerhalb des mundanen Weltrahmens eine Änderung der Rechtsquellen, der Normenhierachie und der Gewalt- und Vertragstätigkeit des Rechts vernimmt.[13]

Und zwar stellt Teubner im Rahmen der Globalisierung des Rechts ‚spontane‘ Rechtsbildungen fest, die die traditionelle Normenhierachie politisch-staat-lichen Rechts dadurch wirksam stören, daß sie massenhaft Normen eines globalen Rechts ohne Staat, ohne nationalstaatliche oder völkerrechtliche Institutionalisierung hervorbringen.[14]

„Historisch hat sich die lex mercatoria, die transnationale Rechtsordnung der Weltmärkte, als der bisher erfolgreichste Fall eines eigenständigen ‚Weltrechts‘ jenseits der inter-nationalen politischen Ordnung erwiesen. Multinationale Konzerne schließen miteinander Verträge, die sie keiner nationalen Gerichtsbarkeit und keinem nationalen materiellen Recht mehr unterstellen. Sie vereinbaren, ihre Verträge einer von nationalen Rechten unabhängigen Schiedsgerichtsbarkeit zu unterstellen, die ihrerseits Normen eines ‚transnationalen Handelsrechts‘ anwenden soll. [...] Doch geht die Bedeutung des Rechts ohne Staat weit über das reine Handelsrecht hinaus. In ‚relativer Autonomie‘ gegenüber dem Nationalstaat wie gegenüber der internationalen Politik bilden sich heute unterschiedliche Sektoren der Weltgesellschaft aus, die globale Rechtsordnungen eigener Art aus sich heraustreiben. [...] Der Unterschied zwischen hochglobalisierten gesellschaftlichen Teilsystemen, besonders der Wirtschaft, und einer nur internationalisierten, aber nicht ausreichend globalisierten Politik bringt das Rechtssystem in eine institutionelle Schieflage.“[15]

 

Diese Schieflage, so abschließend Teubner, drücke sich darin aus, daß das Rechtssystem nicht mehr souverän Macht und Machtmißbrauch kontrollieren könne (war das ihre Augabe, ihre Funktion?), da sich polykontexturales Recht von „blinden“ Umwelten beherrschen lasse, für die die politische Souveränität zur Herrschaft keine Gefahr mehr darstellt, quasi abgehängt worden ist, und nun nur noch „selbstzerstörerische Tendenzen kollidierender Diskurse“ (Teubner) etwas Sicht in die blinden Umwelten hineintragen; wenn überhaupt.

Man könnte das nun in eine etwas andere Terminologie übersetzen und zu folgender Paraphrase kommen: Die maßgebend kapitalistisch mobilisierte Globalisierung des Rechts führt zu einer Änderung im Verhältnis der beiden das Recht betreffenden Gewalten, der rechtsetzenden und der rechterhaltenden Gewalt: das Recht verliert die Gewalt, die Gewalt des Rechts monopolistisch zu setzen (Rechtsstaatsmonopol als Schutz der Gewalt, ausschließlich Recht und damit Unrecht zu setzen). Das (europäische) Recht verliert damit an Autorität, „die individuelle Gewalt zu verbieten und sie in dem Maße zu verurteilen, in dem sie nicht dieses oder jenes Gesetz bedroht, sondern die ‚Rechtsordnung‘ selber.“[16] Im Law’s Empire, selbst gegründet auf Gewalt, entstehen rechtsgewalttätige Unabhängigkeitsbewegungen, deren Gewalt nicht mehr – gesamtgesellschaftlich gesehen, wie immer das auch gehen soll – Gewalt ist im Sinne der force de loi, sondern nun etwas mehr von dem beinhaltet, was die Gewalt als violance meint.[17] Könnte man sagen, daß das, was Bewußtsein fürs Kommunikationssystem und das Kommunikationssystem fürs Bewußtsein zu werden beginnt, sich im Verhältnis des staatsrechtlichen Rechts zum globalweltgesellschaftlichen Recht und ungedreht wiederholt? Wenn Bewußtsein das Unbewußte der Kommunikation bedeuten könnte, könnte dann die staatsrechtliche force-Gewalt für das global institutionalisierte Recht ein blinder Fleck werden, so wie in anderer Richtung eben dieses globale Recht zur violance wird fürs staatsrechtliche?

Dieses etwas umständliche Fragen will auf folgendes hinaus: Nämlich so zu tun, als ob das Verhältnis von Gerechtigkeit und Recht (inklusive ihrer beiden Gewaltmodi) so zu denken ist wie das Verhältnis von mondialer zur mundanen Welt. Gerechtigkeit macht die Gewalt der Setzung und Sprechung von Recht befragbar[18]; sie erzwingt, daß die Gewalt des Rechts niemals vom System Recht eingeholt werden kann, was ja dazu führte, daß das gesetzte Recht seine eigene Setzung immer als rechtens durchsetzen würde. In diesem Sinne wäre Gerechtigkeit, wie Derrida sagt, eine Heimsuchung des Rechts, eine Provokation, eine moralische (?), menschliche (?), göttliche (?) Sperre, die verhindert, daß sich Recht hyperautonomisiert und so tut, als gäbe es kein Recht mehr außerhalb ihrer selbst. Wenn nun aber mit der Globalisierung des Rechts die Gewalt der Rechtsetzung sich in den blinden Subsystemen zu vollziehen scheint, in Subsystemen, die also Recht schaffen und praktizieren außerhalb der gesellschaftshistorisch hegemonialen Autoritäts- und Gewaltform namens Staat, aber genau deswegen nicht mehr mit Gerechtigkeit provoziert, konfrontiert und kritisiert werden können, d.h.: wenn sich bei dieserart Recht die Unterscheidung zwischen der Gerechtigkeit des Rechts als Rechtssprechung und –setzung einerseits und der Gerechtigkeit des Rechts als Recht (dieses oder jenes Gesetz) andererseits nicht mehr halten läßt: dann touchiert diese neue Gewalt der Rechtsbildung[19] eine Gewalt, die nicht mehr in mundanen Kategorien alleine (altmodisch: „Sittlichkeit“) zu fassen ist. Verschränkte man diese „makrostrukturelle“ Behauptung der Gerechtigkeitsaustreibung zudem noch mit der Behauptung, auch „mikrostrukturell“ sei Gerechtigkeit auf dem besten Weg zu verschwinden[20]: Kann man dann noch ignorieren, daß mit der Globalisierung als Etikett und mit der Ausfransung von sozialen Systemen als Realität soetwas passiert wie eine ‚mimetische‘ Wiederholung des Außen/ Innen-Schemas Mondialität/ Mundanität, nur daß jetzt das Außen selbst in die Mundanität eingemeindet ist und sich als Quintessenz des Innen zu verstehen sucht? Oder anders und nochmals kryptischer, staccato: Die Weltarmut in der Welt, die sich durch partnerlose Punkte (Bewußtseine) und ein beliebiges Ringsum[21] auszeichnet, heftet sich nun abstrakter an die Welt selbst; die Weltarmut innerhalb des In-der-Welt-Seins ergänzt sich durch eine Weltarmut der Welt selbst im Modus des Auf-der-Welt-Seins, wobei die Welt, auf die die Welt „kommt“, der ERD-PLANET ist; das menschliche In-der-Welt-Sein wie das weltliche Auf-der-Welt-Sein führen zu einer Aufsprengung haltgebender Beziehungssetzungen, weil das Passen-in keinerlei Korrespondenz mehr hält zu einem Passen-auf[22]: so wie die Menschen in der Welt durch Gewalt eine dünne Verbindung aufrechterhalten mit der Vorstellung einer gerechten Welt, die auf sie passt und in die sie passen, so übergibt sich die in–sich eingeschlossene Welt mit ihrer Weltarmut in die Weltlosigkeit der Steine (Heidegger), um durch die mondialen Gewalten in ihrem Innen ohne Außen den Test darauf zu führen, doch auf einer Welt (Erde) zu sein, die nicht weltlos ist, weil sie eben die mundane Welt ‚beherbergt‘. – Man spürt, dieser Punkt ist schwer zu formulieren oder schlicht schwach formuliert: man könnte, zur Erhellung, andere Sätze sagen, auf eine bestimmte Ableitungs- oder Nichtableitungsbeziehung verweisen, wie z.B.: „Nicht die Technik wird isomorph zur Natur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils relevanten Kombinationsraum isomorph zu dem, was man technisch ausprobieren kann."[23] Oder: „Während in Jena Sprache, Arbeit und Handeln auf Gegenseitigkeit nicht nur Stufen des Bildungsprozesses des Geistes, sondern Prinzipien seiner Bildung selber waren, werden in der Enzyklopädie [ Hegels; B.T.] Sprache und Arbeit, einst Konstruktionsmuster für die dialektische Bewegung, nun selber als untergeordnete Realverhältnisse konstruiert".[24] Aber diese Beispiele für Abschließungen und Ableitungen illustrieren nicht sehr viel. Wenn man nochmals auf das Verhältnis von Recht und Gewalt kommt, um daran zu zeigen, was es heißen könnte, daß jetzt das Außen selbst in die Mundanität eingebrochen wird (man muß es im Passivum sagen) und sich als Quintessenz des Innen zu verstehen sucht, ließe sich dies sagen: Das Eingezogenwerden von Naturzwecken und subjektiven Gewalten durch die Gewaltmonopolisierung, also Rechtsgewalt, und durch die Rechtszwecksetzung[25], also die Austreibung des Naturrechts durch das Recht der Rechtsgewalt, hat dazu geführt, daß sich Rechtsgewalt selbst auf eine Art wandelt, die, etwas hilflos, als Wiedervernaturrechtlichung bezeichnet werden kann, vielleicht als katastrophische Bewegung, die deswegen passiert, um neue Kriterien zu evoluieren, die zwischen Mitteln und Zwecken von Gewalt und Recht neue Verbindlichkeiten erzwingen. Was in diesem Zusammenhang allerdings ohne ein „Vielleicht“ gesagt werden kann, ist, daß es sich nicht mehr so verhält, wie es Odo Marquard in der folgenden Paraphrase auf Schellings „System des transzendentalen Idealismus“ ausdrückt, nämlich: „Wo aber die Vernunft derart ohnmächtig ist, d.h. wo sie als Gegenwartsvernunft sich der Gesellschaft und als Gesellschaftsvernunft sich der Gegenwart versagt, überläßt sie just dadurch zwangsläufig die gesellschaftliche Gegenwart und Realität der Geschichte dem, was nicht verwirklichte Vernunft ist: der Natur.“[26] Nicht die Geschichte überläßt sich der Natur: die Geschichte macht sich zur Natur, eliminiert den Unterschied zwischen Natur und Geschichte, verbannt die Natur beinahe in die letzte Dimension, die der Globalisierung der Welt Rechnung trägt, nämlich in die erdplanetare. Nicht gibt sich die Vernunft in die Hände der Natur, weil ihre Schwäche der Aufhebung von Natur in Geschichte offenkundig sei; vielmehr „hebt“ sich Geschichte ein in Natur und verdrängt ebendiese in eine Gestaltwerdungsdimension, die planetar Gewalt zu entlassen droht.

Vielleicht ist es nicht die mythische Manifestation der unmittelbaren Gewalt, die sich im tiefsten mit aller Rechtsgewalt identisch zeigt[27], sondern vielmehr die Globalisierung des Rechts, die die rechtsvermittelte Welt als unvermittelt rechtsgewaltige überhaupt zum Ausdruck bringt. Vom Rechtspositivismus zum Rechtsphysikalismus. Nicht mehr ist es der Naturzustand, der sich in der alles umschlingenden Selbsterhaltung zeigt, die keinen Unterschied macht zwischen der Selbsterhaltung menschlicher Gesellschaft und tierischer; vielmehr bringt die mit der Globalisierung zu sich kommende Artifizialität/Mundanität der Rechtsgewalt zu Gestalt, daß Recht Gewalt ist für den Teil der weltlosen Erde, der sich als Welt versteht.

 

Der Treibsand bei Goya hat die sich schlagenden Burschen gerade bis zu den Knien in sich aufgenommen. Sie sind klar als menschliche Wesen erkennbar. Heute, gut 180 Jahre später, sähe man, unter Beibehaltung des Titels, eine ruhige Landschaft der Erde und eine bewegte des Himmels, die sich beide im Horizont übergangslos verbinden/vertragen. Hätte man mehr Glück, dann sähe man kreatürliche Torsi, die noch leicht an die Form der Menschengestalt erinnerten, solange erinnerten, bis die Landschaft mit dem Warten auf das Verschwinden des Menschen zuende wäre. Mit Spürsinn könnte man vielleicht ahnen, daß das letzte, was diese HimmelErde-Landschaft vernahm, ein Schreien um Hilfe war. Es ist keinem sakralisierenden Hauch des Entsetzens geschuldet und auch nicht einer Demut des Sich-Begebens, in der Endlichkeit des eigenen Lebens die einzige Hilfe zu sehen. Sie ist immer bereit.

 



[1] Die Begriffe Mondialität und Mundanität werden im Sinne Michel Serres‘ benutzt: „Le monde mondial des choses, la Terre, le monde mondain de nos contrats, le droit“ (derselbe, Le contrat naturel, Flammarion 1992, p28f.).

[2] Michel Serres, Der Naturvertrag, dt., FFM 1994, p14.

[3] Daraus zieht Peter Sloterdijk dringliche sozialphilosophische und weltpolitische Konsequenzen: „Air conditioning wird sich als das raumpolitische Grundthema des kommenden Zeitalters durchsetzen. [...] Die explizite Klimapolitik ist das Fundament der neuen Ökumene, so wie explizite Klimatechnik die Basis konkreter Gemeinschaftsbildungen sein wird“; derselbe, Sphären II. Globen, FFM 1999, p1007.

[4] Michel Serres, a.a.O., p16.

[5] Michel Serres, a.a.O., p20. Man könnte hier auch die Glanvillesche Fassung einsetzen, daß die Geschichte ein Objekt geworden sein könnte, das zugleich ein Kein-anderes-Objekt-Beobacht-endes und ein Von-keinem-anderen-Objekt-Beobachtetes „ist“. Ein solches Objekt, so Glanville, bewohnt das Universum anderen unbekannt. Es weiß nicht, daß es das Universum bewohnt, noch weiß das Universum, daß es ein Bewohner ist.

[6] „[...] breiten sich Armut, Verelendung und Verwahrlosung gleichmäßig über den gesamten negativ gleichzeitig gemachten Erdball aus.“ - Robert Kurz, Das Ende der Neuen Weltordnung. Ein Essay zur globalen Ökonomie und Politik nach dem Epochenbruch, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 1/1995, p23-42, hier: p38.

[7] Peter Fuchs, Das seltsame Problem der Weltgesellschaft. Eine Neubrandenburger Vorlesung, Opladen 1997, p141f.

[8] Erhellendes dazu bei Jacques Derrida, Randgänge der Philosophie, dt., hg. v. P. Engelmann, Wien 1988, darin: Fines hominis, p119-141, hier: p128f.

[9] Prozeß und Realität. Entwurf einer Kosmologie, dt., FFM 1979 (1929), p79ff., p166ff.; man müßte allerdings den Whiteheadschen ‚Gott‘ ersetzen.

[10] Sloterdijks „allgemeine Theorie der autogenen Gefäße“ startet von einer grundlegenden Überzeugung aus: daß nämlich alle Großprojekte wie die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt und die Mediasphäre auf die „Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit“ zielen. Das kann nur schief gehen, da sich moderne Gesellschaften in „schalenloser Zeit“ aufhalten. Unbehagen allerorts: Netze und Versicherungen ersetzen nicht die „himmlichen Schalen“; die Telekommunikation nicht „das Umgreifende“. „In einer elektronischen Medienhaut will sich der Menschheitskörper eine neue Immunverfassung schaffen“: zu spät. Siehe derselbe, Sphären I. Blasen, FFM 1998, p25.

[11] „Ich bin der Meinung, daß die Aufgaben des täglichen Lebens die grundlegenden Aktivitäten unserer menschlichen Existenz sind, weil alle technischen Aktivitäten, wie verfeinert sie auch immer erscheinen mögen, nur Ausdehnungen der Aufgaben des täglichen Lebens sind und faktisch als alltägliche Aufgaben gelebt werden. So ist z.B. die Biologie eine Ausdehung des sich um die Tiere und Pflanzen des Haushalts Kümmerns, Chemie ist eine Ausdehnung des Kochens, Physik eine Ausdehnung des Hausbaus, Philosophie ist eine Ausdehnung der Aufgabe, die Fragen von Kindern zu beantworten [...]“; derselbe, Biologie der Realität, dt., FFM 1998, p10f.

[12] Michel Serres, Der Naturvertrag, a.a.O., p30. Kühl statistisch unterfüttern kann man dies durch die Feststellung, daß im 20. Jahrhundert mehr Menschen durch staatlich organisierten Terror denn durch sich Krieg erklärende Parteien getötet worden sind. Siehe: Tagesspiegel, 11.01.2000, p28, „Das Zeitalter der Völkermorde“ (Rezension eines Vortrages von Hartmut Böhme).

[13] Derselbe, Des Königs viele Leiber. Die Selbstdekonstruktion der Hierachie des Rechts, in: Soziale Systeme, 2/1996, p229-255. Teubners kritische Auseinandersetzung mit dekonstruktiven Rechtstheorien bleibt im folgenden unbeachtet.

[14] a.a.O., p229. Teubner sieht diese Polykontexturalisierung durch Globalisierung als Bedingung zur Ermöglichung dekonstruktivistischer Rechtstheorien an, die selber genau diese ‚Basisbedingung‘ ihres diskursiven en vogue-Seins nicht mitreflektieren.

[15] Teubner, a.a.O., p236, 237, 238.

[16] Jacques Derrida, Gesetzeskraft. Der „mystische Grund der Autorität“, dt., FFM 1991, p73.

[17] Ich bitte zu berücksichtigen, daß damit nicht gesagt, unterstellt oder gemeint ist, daß sich die force-Gewalt des Staates weniger grausam darstellt und nun, mit diesem neuen, mehr violance beinhaltenden Gewalt-Konkurrenten aus der Globalisierungsdimension im Rücken, irgendwie gerettet oder geschützt werden müßte.

[18] Die ausführliche Fragefassung gibt Walter Benjamin: „Es drängt sich die Frage auf, ob Gewalt jeweils in bestimmten Fällen Mittel zu gerechten oder ungerechten Zwecken sei. Ihre Kritik wäre demnach in einem System gerechter Zwecke implizit gegeben. Dem ist aber nicht so. Denn was ein solches System, angenommen es sei gegen alle Zweifel sichergestellt, enthielte, ist nicht ein Kriterium der Gewalt selbst als eines Prinzips, sondern eines für die Fälle ihrer Anwendung. Offen bliebe immer noch die Frage, ob Gewalt überhaupt, als Prinzip, selbst als Mittel zu gerechten Zwecken sittlich sei. Diese Frage bedarf zu ihrer Entscheidung denn doch eines näheren Kriteriums, einer Unterscheidung in der Sphäre der Mittel selbst, ohne Ansehung der Zwecke, denen sie dienen.“ Zur Kritik der Gewalt, in: W.B.: Aufsätze, Essays, Vorträge, GS, Bd II·1, FFM 1991, p179-203, hier: p179.

[19] wie harmlos auch immer sie auszusehen vermag; siehe: G. Teubner, a.a.O., p237.

[20] „Zum Glauben an die Menschheit und die Welt gehört zwingend die Idee der Gerechtigkeit und damit die der gerechten Strafe. Die Idee, weil es die gerechte Strafe real noch nie gegeben hat. Sie existiert nur in der Gestalt einer Hoffnung oder Erwartung, egal ob des Jüngsten Tages, eines bewaffneten Aufstandes oder eines Revolutionstribunals. Diese Hoffnung und Erwartung aber ist tot. [...] Das ist dann der Punkt, wo die Gewaltphantasien einsetzen müssen. Sie versprechen eine Welt, wo wirklich einmal die Letzen die Ersten wären und uns die Ausbeuter nicht später als bewunderte Wohltäter begegnen. So können die Gewaltphantasien den Glauben an die Menschheit retten und vor der fürchterlichsten Verzweiflung schützen.“ Wolfgang Pohrt in: konkret, 1/2000, (Rubrik: Pohrt antwortet), p26-27, hier: p26.

[21] Peter Sloterdijk, Globen, a.a.O., p614.

[22] Zur Verwendung dieser In- und Auf-Passungen im sprachphilosophischen und wahrheitstheoretischen Rahmen siehe Hauke Brunkhorst, Kritische Theorie als Theorie praktischer Idealisierungen, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 4/1997, p81-99, bes. p86ff. – Die Unmöglichkeit, vom In-unsere-Welt-Passen auf ein Auf-die-Welt-Passen zu schliessen, wird vielleicht im Falle des Zusammenpassens von mundaner und mondialer Welt zu einer Unerträglichkeit, die sich in Gewalt äußert.

[23] Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.

[24] Jürgen Habermas, Technik und Wissenschaft als ‚Ideologie‘, FFM 1969, p30ff., hier: p36.

[25] Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., p182f.

[26] Über einige Beziehungen zwischen Ästhetik und Therapeutik in der Philosophie des neunzehnten Jahrhunderts, in: Derselbe, Schwierigkeiten mit der Geschichtsphilosophie, FFM 1973, p85-106, hier: p91.

[27] Walter Benjamin, Zur Kritik der Gewalt, a.a.O., p199.