Wie es Neidhöfers Roman „HannaH und Sesylus“ gelingt, den
Bruch zwischen innerer und äußerer Welt stimmig zu erzählen, ohne ihn zu
glätten
Bernd Ternes
„Die Form der Beziehung ist im
Sein nur erst unsere Reflexion; im Wesen dagegen ist die Beziehung dessen eigene
Bestimmung. Wenn (in der Sphäre des Seins) das Etwas zu Anderem wird, so ist
hiermit das Etwas verschwunden. Nicht so im Wesen; hier haben wir kein wahrhaft
Anderes, sondern nur Verschiedenheit, Beziehung des Einen auf sein
Anderes. Das Übergehen des Wesens ist also zugleich kein Übergehen; denn beim
Übergehen des Verschiedenen in Verschiedenes verschwindet das Verschiedene
nicht, sondern die Verschiedenen bleiben in ihrer Beziehung. Sagen wir z.B. Sein
und Nichts, so ist Sein für sich, und ebenso ist Nichts für sich. Ganz anders
verhält es sich mit dem Positiven und Negativen. Diese haben zwar
die Bestimmung des Seins und des Nichts. Aber das Positive hat für sich keinen
Sinn, sondern es ist dasselbe schlechthin auf das Negative bezogen. Ebenso
verhält es sich mit dem Negativen. In der Sphäre des Seins ist die Bezogenheit
nur an sich; im Wesen dagegen ist dieselbe gesetzt. Dies ist also überhaupt
der Unterschied der Formen des Seins und des Wesens. Im Sein ist alles unmittelbar,
im Wesen dagegen ist alles relativ.“[1]
Leser, denen Hegels Begriffmeditation zu heftig und
also nicht ganz nachvollziehbar ist, die aber nach dem Lesen trotzdem Lust bekommen,
verstehen zu wollen, was es bedeutet, daß im Wesen alles relativ (und nicht absolut),
im Sein alles unmittelbar (und nicht vermittelt) ist, können nun zu Neidhöfers Roman „HanaH und Sesylus“ greifen – und darin begreifen, was es heißt, in
Verschiedenheit, in Relativität zu leben, ohne noch auf ein Wesen, auf
Wesenhaftes zu stoßen. Was einem jedoch bleibt, ist: das Sein in eine
literarische Form zu überführen, der Attraktion, die vom Weiblichen ausgeht, zu
folgen – und ansonsten die Umwelt mit der eigenen Existenz zu verschonen.
Herbert Neidhöfers Verhaltenslehre für eine nicht
mehr ganz so „kalte persona“ lautet: „Für sich mit sich nicht klarkommend
klarkommen“.
„Der Zustand seines Bewußtseins
fand keine Entsprechung in seiner Umwelt“ – diese treffende, mit britischem
Understatement und systemtheoretischer Ironie ausgestattete Diagnose, die der
Autor der Romanfigur Clemens Limbularius ausstellt,
findet sich im ersten und im letzten Anschnitt eines Romans, der auf eine
unerhörte Art darin zu überzeugen vermag, daß es keine Entsprechung geben kann,
geben sollte – und alles andere als einen Mangel zum Ausdruck bringt. Und der
zudem der allzu großen Gefahr elegant entgeht, den Moment und die Zeit des geschlechtlichen
Beikommens, das noch am stärksten Anklänge einer solchen Entsprechung für sich
hat, zu überhöhen oder gar zu fetischisieren – also kein „Ich liebe Dich wie
das Grab“ à la Büchners Danton, kein „devenir femme“
à la Deleuze, kein „Die Frau ist die Zukunft des
Mannes“ à la Nicolaus Sombart, schließlich kein „Man kann eine Frau nicht hoch
genug überschätzen“ à la Karl Kraus durchspielen muß. Daß dies gelingt ist besonders
erstaunlich, bezieht doch der Roman seinen gesamten narrativen Treibstoff aus
dem Motiv und dem Wunsch des Protagonisten, mit einer Frau zu schlafen, die in
seiner Jugend sein Herz und sein Fleisch beherrschte, ohne daß es zu einer
Berührung kam. In Anlehnung an Richard Sennetts
Buchtitel „Fleisch und Stein“ vertrüge Neidhöfers
große, literatur- und philosophiegeschichtliche Reise, die sich geschickt mit
einer Kurzreise an einen Fluß namens Riesel maskiert,
ja mehr noch: die sich an der Unterseite der erzählten Geschichte anklammert
wie einst Odysseus am Fell eines Bockes, um aus der Zyklopenhöhle zu
entweichen, um wieder in die Gesellschaft seiner Gefährten zu kommen –; dieser
Reise-Roman also vertrüge auch sehr gut den Titel „Fleisch und Wort“, in allen
Assoziationsvariationen, die diese Unterscheidung erlaubt: Fleisch durch Wort (vulgo: Verführung), Wort durch Fleisch (vulgo:
Mangel), Fleisch wird Wort (vulgo: Erinnerung), Wort
wird Fleisch (vulgo: Sehnsucht) – insgesamt eine sehr
gute Alternative zum biblischen „Alles Fleisch ist Gras“. Und welchen dieser Konnotationen,
die im „wirklichen Leben“ meist als Unterschiede ums Ganze und also existentieller
Art sind, der Roman folgt, darüber läßt Neidhöfer den
Leser nicht im Unklaren: das dem Roman vorangestellte Zitaten-Ensemble der
Männer von Doderer, Paulus und Witkiewicz bietet
dafür eine transparente Entwicklungsgeschichte en miniature: 1. Die Existenz
der Frau ist immer präsent. 2. Ist die Frau nicht präsent, dann hat man zu
freien statt zu leiden, denn: 3. Nur in Wollust ist das wunde Leben zu ertragen.
Neidhöfers
Roman – erster Teil einer annoncierten Trilogie – erzählt eine „Reise aus der
Welt in drei Tagen“: Clemens Limbularius entdeckt in
der Zeitung durch Zufall das Bild von HannaH, der
Unerreichten aus seiner Jugend, und beschließt, zu ihr zu fahren mit der
Absicht, endlich das einzulösen, was in der Jugendzeit nie gelang. Er bricht
auf aus einer Laune, die im Leben nicht allzuoft ein Hölderlin’sches „Aufzubrechen,
wohin er will“ erlaubt, und macht sich bahnfahrend auf den Weg zu HannaHs Wohnort am Fluß Riesel –
ein Nachbardorf des Ortes, in dem er selbst aufgewachsen ist. Schon bei der
Ankunft des Protagonisten sind die ersten Zeichen eines drohenden Hochwassers
prägend. Er nimmt unter falschem Namen Quartier im Motel, das HannaH zusammen mit ihrem Mann betreibt – dieser ist allerdings
verschollen auf hoher See und es ist ungewiß, ob er noch am Leben ist. Clemens
macht Bekanntschaft mit seinem Alter ego, einen Journalisten, den er am
nächsten, den zweiten Tag des Romans trifft. Sie verbringen den ganzen Tag
zusammen, erreichen spazierend Clemens’ ehemaliges Heimatdorf, müssen dort vor
wütenden Einwohnern flüchten. Beim Rückgang springt Clemens’ Alter ego, im
Roman als P. benannt, von einer Brücke; Clemens erreicht gegen Mitternacht das
Motel – der zentrale äußere Ort des Romangeschehens –, und in der frühen Nacht
des dritten Tages schließlich gelingt es Clemens, in die Bahnen zu kommen, die
zu einer gemeinsamen Nacht mit HannaH führen – die
gleichsam nicht in Erfahrung bringt, wer Clemens wirklich ist. Was dann
passiert, ist eines komplexen „Film noire“ würdig:
Der verschollene Ehemann der begehrten Frau, ein Schiffskoch, kehrt unerkannt
zurück, ebenso das vermeintlich Suizid begangene Alter ego von Clemens, und ein
Morden setzt ein, dem fast alle Figuren des Romans zum Opfer fallen, beinahe
auch HannaH und Sesylus. Surreal
der Schluß: Als „Epilog in den Fluten“ – das während der Romanzeit permanent
steigende Hochwasser erreicht seinen Zenit – erleben wir Clemens und sein Alter
ego P. in einem resümierenden Gespräch voller Retrospektiven des Geschehenen
und Prospektiven des Weiterlebens vertieft: beide tot. Oder doch lebendig?
Von Hans Günter Holl stammt der Gedanke, daß nichts schwieriger zu
bewerkstelligen sei, als daß dem Abstrakten in seiner konkreten Erscheinungsweise
noch seine Abstraktheit anzusehen ist – eine Schwierigkeit, der die sogenannte
Codierungspraxis postmoderner Kultur- und Gesellschaftstheorie sehr erfolgreich
auszuweichen suchte, indem sie das Gegenteil ins Visier nahm: das Abstrakte sollte
in den konkreten Geschichten, Bildern, Architekturen förmlich verschwinden, unsichtbar
werden, und nur durch höchst voraussetzungsreiche Decodierung kleinster
Hinweise sich dem Wissenden öffnen – als surplus. Wem
sich das Spiel der Referenzen und Reverenzen, der Kon-
und Subtexte nicht erschloß, dem sollte diese Verschlossenheit nicht zum
Nachteil gereichen: Ihm blieb die Narration, das schöne Ornament, das Wiedererkennen,
das Sich-Identifizieren, das Konkrete, die action, also kurz: die Beobachtung erster Ordnung,
Sensation. Das Ausprobieren der nietzscheanischen
Anweisung, die Oberfläche als das tiefste und zudem ungefährlichste zu denken –
nachdem alle programmatischen Tiefen immer in Menschenfleisch gearbeitet wurden
und also nur Verachtung verdienten–, war nicht nur Verlegenheitslösung einer
Zeit, die ernst machte mit Lyotards Hinweis, daß die
Millionen kleiner Geschichten des Lebens nicht mehr zusammengehalten und orientiert
werden durch die eine große Geschichte (der Vervollkommnung, der Kritik, des
Fortschritts, der Vernunft), und also Wissen und Handeln, symbolische Codierung
und gesellschaftliche Praxis ihre Klammer verloren haben. Es war auch Reaktion
auf eine in den 1980er Jahren mit verstärkter Dosis verabreichten Selbstreferentialität der Medien: eine Wiederaufnahme der
McLuhan’schen „Medium = Botschaft“-Botschaft. Das Was
der Mitteilung geriet in die Defensive, das Wie der Kommunikation absorbierte
die Aufmerksamkeit aller: der Produzenten, Konsumenten und Rezensenten künstlerischer
Artefakte. Diese Haltung, dieses „Bitte keine Botschaft mehr“, dieses „Es ist
schon alles gesagt worden, und früher meistens besser“ hat sich bis heute, wenn
auch entspannter und weniger rigide denn vor 20 Jahren, gehalten – trotz des erneuten
Einbruchs realer Politik in die Lebenswelt Ende der 1980er Jahre, trotz des
„Die Wirklichkeit blutet wirklich jetzt“ des politisch unsäglichen Botho
Strauß, trotz der Unerheblichkeit der Frage, ob Politik Unterhaltung oder
Unterhaltung Politik ist.
Neidhöfer
schreibt für sich und Leser, die dieses Wechseln der Realitätsauffassungen von
der Simulation zur Dissimulation und zurück als bloße Marginale einer gesellschaftlichen
Welt registrieren, in der man nie etwas zu suchen hatte und in der etwas zu
finden man sich nie anschickte. Clemens lebt in einem Geisteszustand – und in
der Anziehung, die die einzig wirkliche Gesellschaft auf ihn ausübt: die Gesellschaft
der Frauen. Literatur und Weib, dazwischen das Lebenswasser – das ist die
Trinität für ein Leben, das sich nicht einrichten möchte in die zwar zerbröselnden,
gleichsam noch hegemonialen Routen und Routinen des Kampfes um Anerkennung; für
ein Leben, das es in den Worten P.’s schon deswegen
weit gebracht hat, weil er, Clemens, die Welt „nicht als die seine ansehe“,
„obwohl er in ihr bleiben wolle“ – also sowohl den Suizid, das Kämpfen wie auch
die katastrophale Identitätssuche zu verwerfen wußte; für ein Leben
schließlich, dessen handhabbare
„Mittel abstrakter sein sollten, da er
sie multifunktional und jederzeit einsetzen können müßte, das sei ein Vorteil,
denn all die Plänemacher können ihre spezifischen Mittel bloß sehr konkret
einsetzen, die arbeiteten mit konkreten Mitteln an einem universellen Projekt
(der Apokalypse, wie P. vermutete) und kaschierten ihr derart versautes Leben
mit Tradition und Kultur, während er mit universellen Mitteln ein konkretes
Projekt realisieren könne, nämlich sein Leben.“
Was der Romanhauptfigur hier
vorschwebt, und was in der Entfaltung des Romans als großartige latente
Paraphrase sowohl auf Foucaults ‚Tod des Menschen im Denken des Lebens’ wie
auch auf Deleuzes ‚L’immanence:
une vie...’ seinen Ausdruck findet, kann man mit Giorgio
Agamben als „absolute Immanenz“ markieren. Neidhöfer gelingt es, das Leben-denken
literarisch so in Form zu bringen, daß evident wird, daß das Leben nicht
gedacht werden kann – sondern nur gelebt, und zwar gelebt in der Fassung
Kafkas: „Ich könnte leben und lebe nicht“. Er besteht darauf, erzählend etwas
mitzuteilen, das als Etwas nicht geteilt werden kann ob seiner Abstraktheit,
und gleichzeitig dieses Nichtgeteiltsein des Etwas so
mitzuteilen, daß das Mitteilen selbst als Teil des Nichtmitzuteilenden sich
kundgibt. Ihm gelingt, den ‚Tod des Menschen’, besser: des Subjekts, als bloße
Möglichkeit eines anderen und nicht als Ende des Lebens gewahr werden zu
lassen. Der Tod des Subjekts ist nichts trauriges oder
zur Sentimentalität reizendes. Im Gegenteil ist es der Entwurf eines Lebens,
das nicht mehr vom Willen getrieben ist, „mein“ Leben zu leben, in den Konkretionen des Mit-Welt-Seins zu sich kommen zu müssen,
das nicht mehr unter der Nichtentsprechung von Leben und Bewußtsein automatisch
zu leiden beginnt. Neidhöfer zieht eine wie auch
immer sich verwirklichende ‚Haut’ zwischen Zeit, Raum, Bewußtsein und Körper ab
– und setzt an ihrer Statt ein permanentes Außen, in das hinein der außer sich
Geratene tritt – als Autor, der „ernst gemacht habe mit dem Tod des Autors“.
Das ist zwar als Gedanke schwer zu akzeptieren, aber als Roman mit einer Leichtigkeit
gelungen, die manchmal taumeln macht ob ihrer Selbstverständlichkeit.
Neidhöfer
entwirft eine Situation des gesellschaftlichen Daseins, die geprägt ist von
einer umfassenden Skepsis, ja: von einem Ekel gegenüber jeder Form von
Vergesellschaftung – im Wissen, daß auch dieser Ekel faule Frucht der Vergesellschaftung
ist:
„Jede
Form der Vergesellschaftung läuft [...] auf eine Art von Herumwursteln hinaus,
man sollte dabei nur sehen, daß keiner per se zum Arsch und Idioten erklärt
würde, sondern [jeder] die Gelegenheit bekam, sich selber als solcher zu
erweisen, mehr kann man, so P.s Ansicht, nicht
erwarten. Ansonsten sollen einem alle seine Ruhe lassen...“
Komplementär dazu spricht Neidhöfer einer Situation des biographischen Daseins das
Wort, in der die Zugänge zur Vergangenheit, zu sich selbst und zur Zukunft
intellektuell verschlossen bleiben – aber topologisch im wahrsten Sinne des
Wortes begehbar, per pedes aufsuchbar sind – und
träumend sich öffnen. Die Bedingungen des Raumes – Positionen –, die
Bedingungen der Zeit – Negationen –, und die Bedingungen des Bewußtseins –
Reflexionen – sind nicht mehr im Besitz eines Gemeinsamen – Struktur –, sind
nicht mehr gemein – Phänomen –, schließlich nicht mehr ‚mein’ – Existenz.
Nachdem Clemens und P. spazierend
im Nachbarort ankommen, denkt Clemens an sein Elternhaus, das er nach dem Tode
seiner Mutter verkaufte. Doch statt Erinnerung klingt sich beinahe automatisch
die Nacherzählung eines Traumes ein; es fallen die Namen Freud und Lacan – so als aktiviere „Kindheit“ sofort den
psychoanalytischen „Diskurs“, der einem erlaubt, nicht mehr der
Unbegreifbarkeit der „eigenen“ Kindheit ausgeliefert zu sein. Im Tonfall von
Eltern, die über ihr Kind sprechen, heißt es dann weiter:
„Er war ja schon geschickt, unser
Clemens, sich seine die Gegensysteme bereits enthaltenen Systeme aufzubauen,
die ihm seinen status quo sicherten, aus Trägheit dem
Leben gegenüber war er dabei äußerst raffiniert und effektiv geworden, hätte er
die gleiche Energie in die Welt gerichtet, es hätte etwas aus ihm werden
können, aus unserem Clemens, jaja....“
Neidhöfers
Roman erzählt die Geschichte einer äußerst raffiniert komponierten Umkehrung
oder Verdrehung der Reise Odysseus’ (inklusive eines „Gastauftritts“ der
Ilias). Raffiniert, weil die Verdrehung sowohl in der erzählten Geschichte wie
auch in der Erzählform passiert. Umkehrung oder Verdrehung, weil am Ende der
Held Clemens Limbularius sich eben nicht als durch
Entzweiung, durch Camouflage, Verleugnung, Disziplin und List gestähltes
Subjekt konstituiert – sondern vielmehr einen Schritt weitergekommen ist in
seinem Lebensprojekt, nämlich: ein immer wieder verschieden mögliches
Leben, aber nicht sein tatsächliches Leben zu leben. (Anders ergeht es
indes – dies nebenbei gesagt – dem übrigen Personal des Romans: ihr Schicksal
folgt dem der Freier im zweiundzwanzigsten Gesang von Homers Geschichte aufs
Wort.) Die Verdrehung wird besonders deutlich in der Bedeutung des endlich stattfindenden
Beischlafs: „Jetzo“, so Odysseus zu Athene, „nachdem wir die Nacht der seligen
Liebe gefeiert, Sorge du für die Güter, die mir im Palaste
geblieben“ – business as usual also. Neidhöfers
„Jetzo“ – nicht mit dem heimgekehrten Odysseus, sondern zuvor mit dem Freier
Clemens – passiert
hingegen als Selbstgespräch und liest sich so:
„Clemens
war ruhig wie nie, die Welt hätte jetzt untergehen können, er hätte es nicht
groß bedauert, höchstens in der Hinsicht, daß die Nacht noch nicht vorbei war
und was morgen war, wer weiß... Sein Empfinden während der letzten Wochen kam
ihm aus dieser Perspektive lächerlich vor, gleichzeitig wunderte er sich aber
auch darüber, daß er jetzt hier lag und wie einfach das alles gewesen war, als
ob HannaH ihn erwartet hatte oder irgendwen wie ihn
erwartet hatte, er machte sich aber keine Gedanken über seine Signifikanz.“
Es sind Passagen wie diese, in
denen wie unter Brennglas eine Lebenseinstellung sich zu verkörpern weiß, die
die Resignation hinter sich lassen konnte darüber, daß das Erleben in der Welt
nicht unbedingt, ja meistens nichts mit dem zu tun hat, was sich in der inneren
Welt, was sich in einem selbst abspielt und zeigt; daß es zum weltlichen Ausdruck
nicht mehr kommt – und also Innengeleitetheit (Kreiseltyp) und
Außengeleitetheit (Radartyp) keine andere Brücke besitzen als die Reflexion
darauf, daß sie nichts verbindet. Ausdruck der Ausdruckslosigkeit, Eigenschaft
der Eigenschaftslosigkeit, Wissen im Wissen, daß das
bessere Wissen nichts mehr ausrichtet.
Selten gelang es einem Roman,
seine Anspielungen und Verweise auf, seine überraschenden Aufrisse von
Horizonten literaturgeschichtlicher, philosophischer, soziologischer und
theoretischer Provenienz so unprätentiös, so beiläufig und ohne name dropping-Manie zu placieren
und in den Erzähllauf einzubetten wie „HannaH und Sesylus“. Flaubert, Musil, Kafka, Proust, Homer, Hugo,
Balzac, Dante, Mann, Svevo, Hölderlin, Lichtenberg,
Luhmann, die Bibel, Freud, Lévy-Strauss, Adorno... –
diese kleine Auswahl der Romanreferenzen im Verbund mit einem souveränen Wissen
des Medienalltags, das man sich nur durch Trittfestigkeit in der yellow press-Welt aneignen kann,
tauchen niemals als Selbstzweck oder als Kompensationen im Handlungs- und Gedankenlauf
des Romans auf, sondern immer eingepaßt in das gerade stattfindende innere und
äußere Geschehen.
Nämliches gilt für den nie
ermüdenden, impliziten Duktus der Ironie des Romans, der kongenial den
zurückhaltenden, aufnahmebereit-distanzierten Charakter des Protagonisten zu
übersetzen weiß – und in beinahe regelmäßigen Abständen durch niemals vulgär
wirkende Anleihen aus der Alltagssprache kontrapunktiert
wird. Nur einmal wird es explizit und der Roman ragt in die Erzählung hinein
wie ein Mikrophon ins Bild: als Clemens und P. erfolgreich die Verfolger des
Nachbardorfes abschütteln konnten, schlägt ersterer vor, für den Rückweg ein
Taxi zu rufen. „Von wo er denn telephonieren wolle, fragte P. ihn, das stimmte
allerdings, denn dies ist ein handyfreier Roman.“ Der Situations- und Geisteswitz,
den Neidhöfer zu entfalten weiß, ist tatsächlich gepaart
mit einem Jean Paul’schen Überwinden des Weltschmerzes, mit einem Tabori’schen „Tut es weh? – Nur wenn ich lache!“, mit einem
Rückblick auf das Ende der zentrierten Person ohne Verzweiflung – aber gefangen
in einem Wissen, das nicht vergeht.
„Manchmal
wünschte er sich eine totale und irreversible Amnesie. Er würde eines Morgens
aufwachen und nicht wissen, wer er war, wo er hingehörte und was ihm passiert
war, daß er nicht wüßte, wer er war und wo er hingehörte. Er wäre Niemand.
[...] Clemens fragte sich, ob ihm eine Vita fehlen würde, wenn er keine hätte.
Wahrscheinlich ja, weil jeder ihn dafür bedauern würde, daß er keine hätte. Er
müßte den Gedanken, daß es für ihn besser sei, keine Vita zu haben, über die
Amnesie hinüberretten, als einzigen Gedanken, als blinder Fleck in seiner neuen
klaren Nullexistenz, und dann nur so tun, als ob ihm eine Vita fehlen würde.
Dann fragte er sich, ob er wissen würde, was er zu tun habe, wenn er eine Frau
kennenlernen würde. Könnte er seinem Fleisch noch vertrauen?“
Leser, denen dieser Wunsch nach
Amnesie, nach einem Nicht-mehr-von-der-eigenen-Vergangenheit-Abhängigsein
vertraut ist; denen die unmittelbare und zudem komische Kehre hin zur
Frauenfrage mehr als einsichtig ist, also die Annahme, daß aus der Geschichte
lernen nur bedeuten kann, weiterhin fähig zu sein, eine Frau kennenlernen und
mit ihr gegenwärtig sein zu können; die schließlich lesen, um mit den Büchern
das ineins zu bannen und zu bergen, was nicht mehr existiert
außerhalb der Literatur – solchen Lesern ist dieser Roman, diese Reise aus der
Welt gewidmet, hinein in eine solche, für die gilt:
„Es
gibt nichts einfaches, aber das kann man nicht einfach sagen, das zu sagen ist
kompliziert.“
Und: gelungen!
[1] Hegel,
Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften I, Bd.8 der Werke in zwanzig
Bänden, FFM 1970, p229f.