Anthropologie als archäologisch-kybernetische Inventur

Eine Bemerkung zu Kants Anthropologie[1] als Dokument einer

Anthropologie nach dem Tode des Menschen

Bernd Ternes

 

für Dietmar Kamper

 

„Die aktuelle Debatte um den Menschen [..] ist von einer kruden Allgemeinverständlichkeit, an der nichts klar und deutlich ist, es sei denn das vage Bedrohliche des Problems. Es finden unentwegt Ausweichmanöver statt. Ersatzweise versucht man das Denken selbst zu reglementieren, bevor es angefangen hat. [..] Keine polizeiliche Maßnahme kann das Risiko mindern, das im Denken des Offenen liegt. Der Mensch aber ist im Verständnis der herkömmlichen Anthropologie die offene Frage schlechthin. Man muß sich also umdrehen und zwar zu einer Radikalität des Denkens, das sich weder bange noch dumm machen läßt. So erst kann man den Vorläufen von Kant bis Foucault gerecht werden und die historischen Tendenzen mit den anthropologischen Beständen vermitteln“; Dietmar Kamper

 

I

Die folgenden Seiten gehen konsequent einer Lesestimmung nach, die sich beim nochmaligen Lesen der pragmatischen Anthropologie Kants ‚hartnäckig’ gehalten hat. Diese Stimmung läßt sich so fassen: Kant schreibt über den Menschen und über die Menschen als jemand, der den Menschen und die Menschen philosophiegeschichtlich schon abgeschrieben hat. Alle immer wieder auffindbaren Stellen in seinem Text, die auf Fortschritt und Fortentwicklung anspielen, sind rhetorische Momente eines lakonisch resignierten Blickes darauf, daß das Wunder der Offenheit des Menschen historisch und kulturell nicht mehr entfaltbar sein wird: als Mensch. Stellte man an Kants Anthropologie die drei Fragen, die die Vernunft dem Erkenntnisvermögen zu stellen hat – „Was will ich? (frägt der Verstand) | Worauf kommt’s an? (frägt die Urteilskraft)| Was kommt heraus? (frägt die Vernunft)“ (p547) –, so ließen sich folgende Antworten geben:

1.                Kant will eine Art Manual, ein „Handbuch“ (p402) für die Sphäre des praktischen, realen Umgangs und Soseins der Menschen liefern, im Wissen, daß diese Sphäre und die darin möglichen Weisen des Umgangs und Soseins keine historisch intermediären sind, sondern vielmehr historisch abgeschlossene Weisen. Sie können der Mathematik oder Kybernetik übergeben werden. Kant berichtet aus dem Menschenpark; sein Bericht dient der Inventarisierung dessen, was bleibt, wenn alle Metaphysik des Menschen weggeräumt ist. D.h., Kants Motto könnte gewesen sein: Man sollte die Welt, in der man lebt, wenigstens kennen, wenn man schon keine mehr hat.[2]

2.                Kant kommt es darauf an, seine Beschreibungen so zu situieren, als beziehen sie sich auf den Menschen als Zufall, nicht aber auf den Menschen als Schicksal oder gar Gefahr.[3] Während die Auffassung des Menschen als Schicksal die Differenz von Natur und Geschichte betont und die Auffassung des Menschen als Gefahr von einer vollendeten Indifferenz von Natur und Geschichte ausgeht, ist die Auffassung des Menschen als Zufall getragen von der Überzeugung, daß es Identität von Geschichte und Natur gibt, „wenn auch immer wieder prekär, im Rahmen eines areligiösen, wissenschaftsgläubigen Horizontes; der Mensch ist nur Mensch und sonst nichts, das Humane ist der unbestreitbare Gipfel der Evolution, der Anthropologe ist der Hüter des Humanen: darin besteht das anthropische Prinzip der Wissenschaften von der Natur“ (Dietmar Kamper[4]). Kant will den Menschen als Zufall ‚behandeln’ – auch wenn „der Mensch sein eigener letzter Zweck ist“ (p399), also der Zufall ein extrem unwahrscheinlicher gewesen sein muß –, während er doch implizit wußte, so meine Unterstellung, daß der Mensch in der beginnenden Katastrophe der industrialisierten Moderne dringlicher als Gefahr, als Geschoßbahn (Michel Foucault) beschrieben und erfragt werden sollte.

3.                („Was kommt heraus?“) Aus Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht kommt ein Menschenmuseum, ein begrifflicher Menschenpark heraus, der exzentrisch paradox ‚grundiert’ sein könnte. – Dazu später mehr.

 

II

Dem Reichtum der Kantischen Anthropologie wird also im folgenden Gewalt angetan. Dabei werden die Widersprüchlichkeiten genutzt, die im Werk durchaus nicht zu logischen oder plausiblen Brüchen führen. Vielleicht ist es zudem hilfreich, sich Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht als Alterswerk eines Gelehrten vorzustellen, der gegen Ende seines Lebens sich dem menschlichen Lebewesen – nicht zu verwechseln mit dem Lebewesen Mensch – als solches (um nicht zu sagen: mit einem zoologischen Blick) widmen wollte, der eigenen Kultur als Schule der Welt (so Foucault), und der nicht mehr nur akademisch den Bedingungen, Faktoren und Erklärungen der Ermöglichung von menschlichem Leben meinte nachspüren zu müssen; deswegen die Verschriftlichung dessen, was über zwei Jahrzehnte hinweg (Winter 1772/73 bis Winter 1795/96) als Wintervorlesung den Studierenden „nur“ zu Gehör kam und für Kant selbst den Status von Weltkenntnisvermittlung besaß, dargereicht in „populären Vorträgen“ (p402), an denen auch „andere Stände“ Gefallen fanden.

Und vielleicht könnte es gleichsam sinnvoll sein, Kants pragmatische Anthropologie zu verstehen als eine vor ihrer Zeit stattfindende Erwiderung auf die Einsicht, „daß der Mensch verschwindet wie am Meerufer ein Gesicht im Sand“[5]; sie zu verstehen als harmlos erscheinende Vorläuferin einer Foucault’schen Annahme, nach der die Humanwissenschaften durch Beobachtung und empirische Erfassung von Menschen in Disziplinarräumen und totalen Institutionen, durch das Sammeln von Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten aus ebendiesen Institutionen überhaupt den Menschen des modernen Humanismus geboren haben[6]; sie zu verstehen als eine Anthropologie nach dem Tode des Menschen[7], als ein Rückblick auf das Ende der Welt[8], als eine anthropologische Rekonstruktion des perfekten Verbrechens[9], verübt an der menschlichen Realität und Imagination.

Mehr noch, nun mutwillig spekuliert: Vielleicht war Kants Buch eine Vorlage für D’Arcy Wentworth Thompsons 1917 veröffentlichtes Werk Über Wachstum und Form[10]. D’Arcy Thompson wollte mit seinem der Biologie zugehörigen Buch nicht zu denen gehören, die nach den Verschiedenheiten oder grundlegenden Gegensätzen zwischen Phänomenen organischer und anorganischer, belebter und unbelebter Dinge forschen, sondern zu denen, die nach gemeinsamen Prinzipien oder wesentlichen Ähnlichkeiten suchen.[11] Präzise faßt er sein Vorhaben so zusammen: „Meine einzige Absicht besteht darin, einige der einfacheren äusseren organischen Wachstums-, Struktur- und Formphänomene mit mathematischen Aussagen und physikalischen Gesetzen in Beziehung zu bringen, wobei ich ständig den Aufbau des Organismus ex hypothesi als eine materielle und mechanische Gestaltung ansehe.“[12] Wollte Kant nicht mit seiner umfassenden Aufzählung von inneren und äußeren Merkmale der Menschen, von Verhaltensweisen, Situations- und Empfindungskonstellationen, sprich: durch Aufzählung ‚anthropologischer’ Struktur- und Formphänomene ebendiese ‚entanthropomorphisieren’, indem er sie zwar nicht mit mathematischen Aussagen in Verbindung gebracht hat, aber doch insinuierte, daß die menschlichen Gestaltungen nach anderen denn menschlichen Gesetzen geregelt werden? Gehörte seine pragmatische Anthropologie nicht doch schon in „das Feld dunkler Vorstellungen“, nach Kant „das größte im Menschen“? Denn, so Kant weiter: „Weil es aber diesen [Menschen; B.T.] nur in seinem passiven Teile, als Spiel der Empfindungen wahrnehmen läßt, so gehört die Theorie derselben doch noch zur physiologischen Anthropologie, nicht zur pragmatischen, worauf es hier eigentlich abgesehen ist“ (alle Zitate p419).

 

Sicher, das hört sich alles andere als sinnvoll an, bedenkt man nur, daß Kant mit seiner pragmatischen Menschenkenntnis den Menschen als frei handelndes Wesen adressierte, um aufzuzählen, was es aus sich selbst machte, machen konnte und machen sollte. Gernot Böhme schreibt unmißverständlich: „Für Kant war das Ziel der angestrebten Stilisierung klar: der Mensch sollte sich durch Zivilisierung, Kultivierung, Moralisierung zum vernünftigen Wesen machen.“[13]

Für Kant war das Ziel so klar, daß er gar aus Vernunftgründen für bestimmte anthropologische Prozesse die Vernunft dezidiert nicht in Anschlag brachte, etwa bei der Liebe zum Leben und zum Geschlecht. Kant: „Die stärksten Antriebe der Natur, welche die Stelle der unsichtbar das menschliche Geschlecht durch eine höhere, das physische Weltbeste allgemein besorgende Vernunft (des Weltregierens) vertreten, ohne daß menschliche Vernunft dazu hinwirken darf, sind Liebe zum Leben, und Liebe zum Geschlecht“ (p614f.). Hier geht Kant davon aus, daß diese von ihm vollständig ontogenetisch und phylogenetisch verstandene Liebe nicht anders kann als die Geschäfte der Vernunft mit auszuführen; Vernunft also im „anthropologischen Substrat“ bereits installiert sei (ein Gedanke, den 200 Jahre später Habermas übernimmt, um die formalpragmatischen Merkmale herrschaftsfreier Rede gleichsam ins Unverfügbare zu placieren).[14]

Und auch der für Kant zentrale innere Begriff des Menschseinkönnens läßt es absurd erscheinen, Kants Vorlesungsbuch als Aufbewahrungsbuch menschlicher Zustände nach dem Ende des Menschseins aufzufassen. Man könnte gar einen Freiheitsexistentialismus des Menschengeschlechts avant la lettre in bestimmte Aussagen Kants hineinlesen, die den Menschen unverrückbar ausweisen als dasjenige Wesen, das nicht anders kann, als sich zur Freiheit (von/durch) hin auszurichten; etwa diese Aussage: „Sie [die Leidenschaften; B.T.] werden in die Leidenschaften der natürlichen (angebornen) und die der aus der Kultur der Menschen hervorgehenden (erworbenen) Neigung eingeteilt. Die Leidenschaften der ersteren Gattung sind die Freiheits- und Geschlechtsneigung, beide mit Affekt verbunden“ (p602). Freiheitsneigung ist für Kant demnach eine natürliche Neigung, also etwas, was die Natur aus dem Menschen macht, und nicht etwas, was der Mensch aus sich macht. Kant ist sich sicher, daß das Gelingen des Menschsein- und Vernünftigseinkönnens nur von der Ausführung abhängt, nicht aber von der Anlage.

Man kann hier jedoch schon fragen: Ist er sich sicher, oder hat diese Versenkung eines dezidiert kulturanthropologisch aufzuschlüsselnden Freiheitsvermögens in die Natur des Menschen nur den Sinn, ebendieses Vermögen resp. diese Neigung vor den Menschen zu schützen? Es steht außer Frage, daß Kant mit seiner Anthropologie Menschenkunde betreiben wollte, die auf Erkenntnis und auf Fortschritt, auf moralische, pragmatische und auf technische Weiterentwicklung ausgelegt zu sein hatte.[15] – Die Frage ist nur: Was für ein vernünftiges Wesen hatte Kant im Sinn? Daß dieses Wesen notwendigerweise menschliche Attribute sein eigen nennen mußte, scheint evident. Aber war es tatsächlich ein menschliches Wesen, das er im Auge hatte? Daran zu zweifeln erscheint abwegig, hat man die Untertitelei der beiden Teile seiner Anthropologie und zudem Kants diesbezügliche Randnotiz vor Augen. Die Teile untertitelte Kant mit „Von der Art, das Innere sowohl als das Äussere des Menschen zu erkennen“ (Teil 1) und mit „Von der Art, das Innere des Menschen aus dem Äusseren zu erkennen“ (Teil 2). Zu diesen Teilen, anthropologische Didaktik und anthropologische Charakteristik genannt, bemerkt Kant (p623): „Der erstere ist gleichsam die Elementarlehre die zweite die Methodenlehre der Menschenkunde.“ In Fragen umgebrochen heißt es bei ihm: „Was ist der Mensch?“ und „[Wie] Woran ist die Eigentümlichkeit jedes Menschen zu erkennen?“ (ebenda). Foucault sieht in dieser Behandlung des Innen und des Außen sogar eine Überzeugung Kants zum Ausdruck gebracht, nämlich die, „daß der Mensch nicht über seine Möglichkeiten verfügt, ohne zugleich in ihre Manifestationen eingelassen zu sein.“[16]

Sprich: Kants Überzeugung, daß es ein äußerungs- und ausdrucksunabhängiges, ein zeit- und raumresistentes Wesen „Mensch“ gibt, war so stark, daß er den Menschen durchaus in den Erkenntnisraum hineinstellen konnte, in dem er Objekt der Gesellschaft, der Technik, der Kultur und des Umgangs wird, also zu einem Effekt der Manifestationen.[17] – Was wir heute mit einem strukturalistischen und soziologischen Blick beschreiben würden als „Was aus dem Menschen gemacht wird“, beschrieb Kant durchaus noch im Rahmen eines „Was der Mensch aus sich macht“, also pragmatisch. Dieser im reinsten Sinne aufklärerische Pragmatismus[18] aber scheint mir eine noch etwas unmutig zoologisch angesetzte verhaltenstheoretische[19] Inventarisierung eines Wesens namens Mensch zu sein, eine Inventarisierung, die von Geschichte, aber auch von Chronologie abgelassen hat, und nur an wenigen Stellen mit lakonischer Ironie ein Loblied auf den bürgerlichen Menschen singt.[20]

 

Beispiel

Sollte Kants Anthropologie nicht mehr recht präsent sein, ist es vielleicht hilfreich, eine etwas längere Stelle zu zitieren, die es womöglich weniger absurd erscheinen läßt, Kants Unternehmen als zoologische Inventarisierung aufzufassen. Unter dem Abschnitt Von dem höchsten moralisch-physischen Gut (p615) kommt Kant u.a. auf die Situation des gemeinsam geteilten Mahlzeit zu sprechen und sagt dazu folgendes:

„Bei einer vollen Tafel, wo die Vielheit der Gerichte nur auf das lange Zusammenhalten der Gäste (coenam ducere) abgezweckt ist, geht die Unterredung gewöhnlich durch drei Stufen: 1) Erzählen, 2) Räsonieren und 3) Scherzen. – A. Die Neuigkeiten des Tages, zuerst einheimische, dann auch auswärtige, durch Privatbriefe und Zeitungen eingelaufene. – B. Wenn dieser erste Appetit befriedigt ist, so wird die Gesellschaft schon lebhafter; denn weil beim Vernünfteln Verschiedenheit der Beurteilung über ein und dasselbe auf die Bahn gebrachte Objekt schwerlich zu vermeiden ist, und jeder doch von der seinigen eben nicht die geringste Meinung hat, so erhebt sich ein Streit, der den Appetit für Schüssel und Bouteille rege, und nach dem Maße der Lebhaftigkeit dieses Streits und der Teilnahme an demselben, auch gedeihlich macht. – C. Weil aber das Vernünfteln immer eine Art von Arbeit und Kraftanstrengung ist, diese aber durch einen während desselben ziemlich reichlichen Genuß endlich beschwert wird: so fällt die Unterredung natürlicherweise auf das bloße Spiel des Witzes, zum Teil auch dem anwesenden Frauenzimmer zu gefallen, auf welches die kleinen mutwilligen, aber nicht beschämenden Angriffe auf ihr Geschlecht die Wirkung tun, sich in ihrem Witz selbst vorteilhaft zu zeigen, und so endigt die Mahlzeit mit Lachen; welches, wenn es laut und gutmütig ist, die Natur durch Bewegung des Zwerchfells und der Eingeweide ganz eigentlich für den Magen zur Verdauung, als zum körperlichen Wohlbefinden, bestimmt hat; indessen, daß die Teilnehmer am Gastmahl, Wunder wie viel! Geisteskultur in einer Absicht der Natur zu finden wähnen. – Eine Tafelmusik bei einem festlichen Schmause großer Herren ist das geschmackloseste Unding, was die Schwelgerei immer ausgesonnen haben mag. Die Regeln eines geschmackvollen Gastmahls, das die Gesellschaft animiert, sind: [...]“ (p620f.)

 

Gewiß läßt sich diese bewertende Beschreibung einer sozialen Situation bzw. Inszenierung als gelungene ethnomethodologische, interaktionsritualtheoretische Studie avant la lettre lesen. Allein, mir scheint im Duktus dieser ‚Aufzählung’/Gebrauchsanweisung, der sich durch das gesamte Buch zieht, eine andere Ausgangslage bemerkbar zu machen: eben jene eines archäologisch orientierten Zoologen, der sich über Gebräuche, Prozduren, Inszenierungen und Verhaltensweisen von Lebewesen ausläßt, die es nicht mehr gibt, wenngleich sie da sind, die also letztlich nur noch zuhanden, aber nicht mehr vorhanden sind.

Beispielende

 

Meine These ist, daß Kants pragmatische Anthropologie keine mehr ist, die einen wie immer konturierten Kreis des Menschen annimmt, keine mehr ist, die den homo-mensura-Satz als Ausgang nimmt; vielmehr ist sie schon eine, die kybernetisch auf dieses Wesen Mensch schaut, um für ebendieses Regelkreise, Regelbahnen, Chiasmen, hinreichende und notwendige Kopplungen und Rückkopplungen auszumachen. Zu solch einer obskuren Sicht tragen nicht etwa Sätze Kants bei wie dieser: „Es ist merkwürdig, daß wir uns für ein vernünftiges Wesen keine andere schickliche Gestalt, als die eines Menschen denken können“ (p472). Vielmehr ist es ein Zentralsatz Kants, nämlich dieser: „Man nennt das durch Ideen belebende Prinzip des Gemüts Geist“ (p573). Da Kant einige Seiten vorher konstatiert, „Geist ist das belebende Prinzip im Menschen“ (p544), kann man wie folgt zusammenfassen: Das Prinzip des Gemüts, das durch Ideen belebt, ist das belebende Prinzip im Menschen. Foucault fragt zurecht, wie das gehen soll, daß ein Konzept der Vernunft, dem in der Sinnlichkeit kein korrespondierendes Objekt gegeben ist, dem Gemüt Leben geben kann.[21] Die Uneindeutigkeit in diesen Passagen rührt meines Erachtens her aus einer Unentschiedenheit Kants, entweder das Prinzip (Regulation) oder das Belebende als Zentrum der Idee des Geistes und des Gemüts zu behaupten. Nur das Belebende rechtfertigt, weiterhin anthropo-logisch zu argumentieren. Aber nur die Regulation erlaubt, weiterhin Vernunft transzendental zu denken.[22] Kant hat sich nicht entschieden, aber gleichsam die Unentschiedenheit in seinem Text bemerkbar gehalten. Nochmals: Nicht zu beschreiben, was der Mensch oder Menschen sind und wie sie vernünftig werden können ist der Focus der Kantischen Anthropologie. Focus ist vielmehr das sich Reproduzieren intelligenten Lebens und Verhaltens schlechthin, betrachtet für diese eine spezifische Organisationsform, die wir Mensch nennen.

Kant betreibt keine kybernetische Anthropologie, sondern anthropologische Kybernetik. Seine Inventarisierung des inneren und äußeren Menschen im Tun und Lassen, im Anerkennungs- und Leistungskampf, mit seinen Neigungen, Schwächen, Begierden, Leidenschaften und Vernünften unterscheidet sich formal nicht von der Beschreibungsweise, die Valentin Braitenberg für das Verhalten kybernetischer Vehikel ansetzte.[23] Braitenberg läßt künstliche Vehikel so ‚interagieren’, daß sie nach einer bestimmten Zeit einen komplexen Umgang miteinander und an sich entfalten, ohne auch nur ein Jota von dem zu besitzen, was Bewußtsein heißt. Man könnte die Ähnlichkeit, die ich zwischen Kants Anthropologie und Braitenbergs filigraner Versuchsanordnung sehe, vielleicht auch so kenntlich machen: Merleau-Ponty kommt in seinem Buch Das Auge und der Geist[24] auf die besondere Physis des menschlichen Leibes zu sprechen und eben darauf, daß mit einem anderen Leib (anderer Beschaffenheit der Hände, der Augen) es auch keine Menschen gäbe, sondern etwas anderes. Das, was Merleau-Ponty die bestimmte Leiblichkeit des Menschen ist, ist Kant die bestimmte Weise gesellschaftlichen Umgangs Ende des 18. Jahrhunderts. Wiewohl er anthropologisch spricht, so spricht er doch historisch, will sagen: Dieser historisch-anthropologische ‚Leib’ der menschlichen Gesellung und der inneren und äußeren Artefakte des Menschen kann und wird sich verändern. Verändert er sich, ist nicht von vornherein ausgemacht, daß es sich dann weiterhin um Menschen handeln muß, die sind. Kurz: Kant würde nicht die Ansicht Schelers vertreten, nach der das Wesentliche des Menschen eine Wesenstatsache sei, die nicht auf die natürliche Lebensevolution zurückgeführt werden könne.[25] Kant schreibt vielmehr seine Anthropologie für eine Menschenform, deren Inhalt (das Bewußtsein, das Selbstbewußtsein, das ‚Subjekt’) weiterhin noch auf den Menschen in der sozioanthropologischen Daseinsdimension angewiesen ist, im Sinne von: So wie Tiere den Gesetzen und Regeln der Natur unterliegen, so die Menschen den Gesetzen und Regeln der Anthropo-Kultur. Aber das muß nicht immer so sein. Braitenberg zeigt, wie ohne Bewußtsein komplexe Sozialitäten entstehen können. Kant zeigt, wie mit Bewußtsein, gar mit Vernunft der Mensch gezwungen ist, so eigenartigen Dingen ausgesetzt zu sein wie etwa dem Begehren, dem richtigen und falschen Verhalten, den Sinnen, dem Neid, er also noch bis zu den Ohren in eine menschlichen Sphäre eingelassen ist, die ihren Tribut verlangt: Nämlich Autonomie als Reaktion auf Heteronomie, also die permanente Sicherung des sich in der Gewalt Habens, um nicht den Gewalten der Natur (des Menschen) ausgeliefert zu sein. Diese ‚Selbstzucht’ geht nur im Modus der Herrschaft. Und innerhalb dieses Modus namens Herrschaft bietet Kant die Vernunft an; die Vernunft als die dem Menschen angemessenste Form von Herrschaft. Die Grenzen der Entfaltung von Vernunft des Menschen sind die Grenzen, die durch Herrschaft gesetzt werden. Und die Grenzen der Herrschaft wiederum werden gesetzt durch die Heteronomie der (menschlichen) Natur.

 

Exkurs

Was Autonomie bedeutet, die der Heteronomie geschuldet ist, und die folglich in ihrer Art der Beziehung zur Heteronomie, nämlich reaktiv, keine ‚souveräne Autonomie’[26] sein kann, das beschreibt Peter Bulthaup nach meinem Dafürhalten exakt, und zwar so:

Soweit die Na­turwesen nach einem instinktge­steuerten, fest program­mierten Reiz-Re­aktionsschema sich verhalten, das für alle Exem­plare der Gattung gleich ist, sind Gattung wie Ex­emplar Resultate ei­ner blinden Naturge­schichte. Diese Gat­tungen konn­ten sich nicht mit einer eigenen Ge­schichte ge­genüber der Naturge­schichte selbständig machen. Die Ver­selbständigung zu bewerkstelli­gen, muß der Komplex der Reiz-Re­aktionsmechanismen unterbro­chen wer­den, wobei die äußere Bedin­gung dieser Unterbrechung, Herrschaft, die das unmittelbare Stillen von Be­dürfnissen unterbindet, allein nicht hinreicht, denn mit dem natürli­chen Verfall der Herr­schenden würden die Ex­emplare und mit ih­nen die Gattung in den Naturzustand zurückfal­len. Nur wenn Herrschaft kontinu­ierlich tradiert wird, erscheint sie den Beherrsch­ten als na­türliche Bedingung ihres Daseins, nur dann ver­mag sie die unmit­telbare Befrie­digung von Bedürfnissen nicht nur durch äußere Gewalt, son­dern durch verinnerlichte Gewalt, durch Normen, zu­rückzudrängen und zur Be­dingung der Konstitution einer ihrer selbst bewußten Subjektivität zu wer­den. Tradi­tion, das keineswegs nur spiri­tuelle Gedächnis des Kollek­tivs, ist ein Moment der Konstitution des Gegenstandes der An­thropologie, dem un­term Polytheismus noch fehlt, was der biologischen Gattung schon eignet: Allgemeinheit. [...] Durch den Übergang vom Po­lytheismus zum Monotheismus wird erst die Übermacht für die Menschen dauerhaft bünd­nisfähig. Da aus dem Prinzip von Herr­schaft die besonde­ren Formen, in denen sie sich realisiert, nicht zu bestimmen sind, das Prinzip aber sich nur als ein allgemeingülti­ges durchsetzen kann, müs­sen die beson­deren Formen, in denen es erscheint, auch für sich diese Allgemeingül­tigkeit behaupten. Die Ver­mittlung des ab­strakten Prinzips und der be­sonderen Formen seiner Durchsetzung er­scheint als Akt der Willkür, die in der Bestimmungslosigkeit des Prin­zips liegt: die Ge­bote sind aus der unzulänglichen Transzendenz dik­tiert, vorweg das er­ste, das die Befreiung von der Heteronomie mit der Unterwerfung unter das Prinzip in eins setzt. [...] Histo­risch wurde die abstrakte Nega­tion alles Be­sonderen selbst zur ethischen Norm.“[27]

 

In Kants Rhetorik ist die zuletzt angesprochene Aneignungs- und Vernichtungsbeziehung zwischen Abstraktion und dem Besonderen keineswegs artikuliert. Im Gegenteil (und wie schon erwähnt) befinden sich das Abstrakte und das Konkrete bei Kant in einem Ergänzungsverhältnis, nicht in einem Negationsverhältnis. Seine Buchteile setzt er nämlich so in Beziehung: „Der erstere ist gleichsam die Elementarlehre die zweite die Methodenlehre der Menschenkunde.“ In Fragen umgebrochen heißt es bei ihm: „Was ist der Mensch?“ und „[Wie] Woran ist die Eigentümlichkeit jedes Menschen zu erkennen?“ (alle Zitate p623). Aber Kant wußte, so meine Unterstellung, daß das ‚vernünftige’ Vermögen abstrakter Negation des Besonderen auch nur als ein Besonderes zu gelten hat, das alles tut, um nicht mehr als Besonderes zu gelten, zu erscheinen und zu sein. Solange die Anmaßung der Besonderheit namens herrschende Vernunft, nicht als Besonderheit zu gelten, zu erscheinen und zu sein, verleugnet und verdrängt werden muß, solange sind alle autonomen Erscheinungformen und Gestalten ebendieser Vernunft ‚Anwendungsfälle’ der Heteronomie.

Exkursende

 

Wiewohl Kant also seinem Bemühen, die Autonomie des Menschen zu „behaupten“, eigentlich nur historistisch und nicht anthropologisch nachkommen kann[28], hält er in der Ausformulierung seiner Schrift dezidiert an der Unvergleichbarkeit des Menschen mit Erscheinungen jener Lebensevolution fest, die Scheler so stark ablehnte (Evolution betrifft nicht das Menschenwesen, so Scheler). So kommt Kant unter der Abschnittsüberschrift Vom Können in Ansehung des Erkenntnisvermögens überhaupt auf das Gewohntwerden und schließlich auf die Angewohnheit zu sprechen, um dort zum Ausdruck zu bringen, wie gefährlich es ist, wenn der Mensch mit nichtmenschlichen Wesen in eine Klasse gerät. Kant: „Die Ursache der Erregung des Ekels, den die Angewohnheit eines andern in uns erregt, ist, weil das Tier hier gar zu sehr aus dem Menschen hervorspringt, das instinktmäßig nach der Regel der Angewohnheit, gleich als eine andere (nicht-menschliche) Natur geleitet wird, und so Gefahr läuft, mit dem Vieh in eine und dieselbe Klasse zu geraten. [...] In der Regel ist alle Gewohnheit verwerflich“ (p440). Alle Gewohnheit ist für Kant in der Regel verwerflich, weil die Gewohnheit noch ohne vernünftige Regelung auskommt: sie passiert regelmäßig, aber nicht als regelgemäßes Tun, das von einem Subjekt ausgeht, das sich in seiner Gewalt hat. Im Abschnitt Allgemeine Anmerkung über die äusseren Sinne (p451ff.) steht folgendes: „Je empfänglicher der Vitalsinn ist (je zärtlicher und empfindlicher), desto unglücklicher ist der Mensch; je empfänglicher für den Organsinn (empfindsamer), dagegen abgehärteter für den Vitalsinn der Mensch ist, desto glücklicher ist er; – ich sage glücklicher, nicht eben moralisch-besser; – denn er hat das Gefühl des Wohlseins mehr in seiner Gewalt“ (p452). Will sagen: Der empfindliche, ungeregelte Mensch ist unglücklich (aber dafür moralisch?), der empfängliche, geregelte Mensch ist glücklich (aber dafür unmoralisch?). Zwischen dem ‚Sich-affizieren-Lassen’ und dem ‚Sich-in-der-Gewalt-Haben’ gibt es nichts, was vermitteln könnte.[29]

 

III

 Wie sähe nun der Mensch aus, der glücklich geregelt und zudem in der Welt und mit der Welt sein Dasein moralisch fristet? Der Mensch, der endlich so geregelt ist, daß er sich nicht mehr für eine Ausnahme hält im Vergleich zu allen anderen operational geschlossenen, selbstreferentiellen, nichttrivialen Maschinen, die das Leben und das Soziale kreiert haben? – Vielleicht ist hier die Stelle erreicht, die Michel Foucault im Sinn hatte, als er die Quintessenz seiner Beschäftigung mit Kants Anthropologie so bündelte: „Die Geschoßbahn der Frage: Was ist der Mensch? auf dem Feld der Philosophie vollendet sich in der Antwort, die diese zurückweist und sie entwaffnet: der Übermensch.“[30] Foucault las Kant so, daß dieser auf das den Menschen Übersteigende hin dachte, auf das „Nach“ des Menschen, diese Konsequenz jedoch nicht einlöste; damit, so Kamper, sei Kant letztlich doch bei einer „Abfertigung des Menschen durch die physiologische und die pragmatische Anthropologie“[31] geblieben. Demgegenüber habe heute, so Kamper weiter, „die Historische Anthropologie nur die Chance, die von der bisherigen Anthropologie-Kritik leergeräumte Stelle des Menschen radikal offenzuhalten, wohlwissend, daß die Negativität seit einigen Jahren selbst arbeitslos ist (Georges Bataille).“[32]

Mir scheint, daß Kant mit seiner Anthropologie auch schon zu den Offenhaltern gehört, wenn auch verzwickt. Denn er ist keinesfalls überzeugt, daß die Vervollkommnung der alleinige Horizont des Denkens des Menschen ist; er teilt die Unterscheidung „Vervollkommnung versus Unverbesserlichkeit“ durchaus (erinnert sei nur an seine Physiologisierung der Freiheitsneigung, an seine Bestimmung der Verrechtsräumlichung des Krieges als höchster kultureller Leistung der Menschen, an seine Bestimmung des kultivierten Menschen als lügend schauspielender Mensch [p442f.]), aber: er bezieht sie nicht mehr auf diesen einen Menschen dieser einen Gattung Mensch[33], er zieht vielmehr, so die These, innerhalb seiner Pragmatik nochmals eine Unterscheidung ein. Nämlich die Unterscheidung humane Anthropologie versus nachhumane Anthropologie.[34] Seine pragmatische Anthropologie in den Zeilen adressiert weiterhin den homo sapiens sapiens; die zwischen den Zeilen den homo absconditus (Helmuth Plessner), die Menschenform nach der Form Mensch. Kant inventarisiert den endlichen Menschen, der als einziges endliches Wesen zugleich die Unendlichkeit ist, die aber, geborgen in der Zukunft der Geschichte, den endlichen Menschen zum Verschwinden bringen kann. Kant, so meine Mutmaßung, weiß das, weiß um den in der Zukunft nicht mehr vorhandenen Menschen, und fertigt mit seiner Anthropologie beinahe impressionistisch eine Auszugsgestalt der Unendlichkeit an, in der die pragmatische Wahrheit der Menschen in den Grenzen seiner, Kants Zeit aufgeführt wird, dabei an der „anthropologischen Illusion“ (Foucault) festhaltend, daß alle noch so unmögliche Möglichkeit der Unendlichkeit/ Offenheit des Menschen durch diesen einen ‚Flaschenhals’ der pragmatischen Manifestation im Anthropo-Kosmos hindurch muß. Oder weniger groß gesprochen: Was immer auch in der Offenheit der Beantwortung der Frage, was der Mensch sei, herauskommen werde: Mit der pragmatischen Anthropologie kann man wissen, daß er zumindest einmal als Mensch Mensch gewesen sein wird.

 

Exkurs[35]

Solch eine eben erwähnte Form nach der Form (in ihrer Funktion als Leere) können wir heute – von Kant aus gesehen also schon in einer fortgeführten Beantwortung der Frage, was der Mensch ist – nur noch unter machttechnischen Einsichten denken, als eine fortgesetzte mächtige Durchsetzung einer bestimmten Menschenform, die nun an den Leib geht.[36] Sprich: Die Geschoßbahn der Frage: Was ist der Mensch? auf dem Felde der Philosophie und auf dem der „Lebenswissenschaften“ beantwortet sich mit der „Projektilisierung“ des Menschen als Antwort. Das hat mit der meist mißgedeuteten Nieztscheanischen Fassung des ‚Übermenschen’ nichts zu tun. Oder doch?

Was das heißen könnte, Menschenformergreifung nach der Zeit der Offenheit des Menschen, hat Karl Jaspers deutlich gemacht. Für ihn stand Anfang der 30er Jahre des letzten Jahrhunderts der Mensch in Gefahr, nicht mehr mit den Parametern „Schicksal“ und „Zufall“ in den fortschreitenden Zivilisationskräften verwirbelt zu werden, sondern mit der ausschließlichen Parametrisierung der Gefahr. „Entscheidung wollen, heißt nicht mehr Schicksal ergreifen, sondern in sicherer Machtstellung gewaltsam sein“[37], so Jaspers.

Was Jaspers noch durch einen Gegensatz trennte – Schicksalsergreifung in der Dimension des Menschsein-Daseins auf der einen Seite, gewaltsame Machtergreifung in der Dimension der Durchsetzung einer bestimmten Menschsein-Form auf der anderen –, scheint sich gegenwärtig aneinanderzuschließen: und zwar technisch operational, nicht mehr nur historisch sozial. Was vorher noch den Weg über Geschichte und soziale Welt gehen mußte, geht jetzt direkt ein in die technisch objektivierte und stillgestellte Geschichte des Wissens in Gestalt der Pharmazie, der Technoinfrastruktur, des genmanipulierten Formens von Formen. Die Historizität der Bedingungen zur Ermöglichung der Produktion von symbolischen, apparativen und vielleicht auch sozialen Maschinen scheint das letzte Moment zu sein, das nicht in einen geschichtslosen Ablauf von geschichtlosen Prozeduren eingespeist werden kann. Aber auch dann bliebe als letzte Geschichte nur noch die der Entwicklung der zunehmenden Annäherung naturwissenschaftlicher Technik und technischer Naturwissenschaft übrig; Sozialgeschichte (inklusive der pragmatischen Anthropologie!) als Sonderfall einer historischen Pause, die sich im Gegenteil als Explosion historischer Dynamik mißverstehen mußte.

Kann man für diesen Anschluß – mit einiger Grobschlächtigkeit, gewiß – in Hegels Figur des absoluten Geistes die idealistisch-philosophische Vorläuferin erkennen, der Geist, der vom Himmel gestiegen ist und sich schon in den Straten des Geschichtlichen bewegt (und Gespenster produziert), um dann doch die Stillstellung von Geschichte in der Zukunft zu betreiben (eigentümlich formuliert: Kairos resorbiert zeitliche Geschichte, um Kronos als Form arbeitslos zu machen), bewegt sich der Geist heutzutage in den Straten der Kombinatorik des Genoms, der Information und der Biologie. Es ist der biologisch bezeichnete, nicht mehr ausschließlich der geschichtlich(e) bezeichnete Mensch, der jetzt in eine sich restrukturierende Politökonomie eingespannt wird, in der die Menschen entweder nur noch ihren Körper zu verlieren haben, oder zunehmend als körperliche Zuschreib-, Überschreib- und Umschreibmasse adressiert werden (natürlich bleiben die Disziplinar- und Kontrollformen, die den Menschen als soziale Masse Mensch ansteuern, intakt).

Ja, man könnte fast eine perfide Neubesetzung erblicken, die darin besteht, daß der Vorgang, der nach Marx die politische Emanzipation der bürgerlichen Epoche überwindet und zur menschlichen Emanzipation führt, wenn und genau wenn der wirkliche individuelle Mensch in seinem individuellen Leben, in seinen individuellen Verhältnissen Gattungswesen geworden sein wird[38], sich heute nur dann mit solch Ziel einstellte, wenn der wirklich individuelle Mensch in seinen individuellen Verhältnissen ein biologisches Wesen geworden sein wird. Kann man noch – Grobschlächtigkeit auch hier – in den Konzepten der materialen Geschichtlichkeit von Menschen, den Konzepten der formalpragmatischen Aktualisierungsdimension des kommunikativen Handelns als Monitor eines im anthropologischen Substrat Gebundenden, und schließlich in Konzepten des Körpers als „subjektiver Faktor“ Gesellschafts- und Menschenbilder ausmachen, die die Aufgabe übernahmen, die Nichtfestgestelltheit des Tieres namens Mensch zu behaupten, also sich gegen die Naturalisierung des Menschen stellen, die als Konvergenz der Menschenwelt auf sich selbst behauptet wird, so ist man zur Zeit auf einen in sich vielfältigen Körper-, Geist- und Lebewesenkonservatismus verwiesen, will man dem neuen, asozialen Vergesellschaftungsschub, der sich den Menschen als körperliches Lebewesen aneignet, irgend Paroli bieten.

Exkursende

 

Kant betrieb mit seiner Anthropologie einen Körper-, Geist- und Lebewesenkonservatismus, wenngleich dieser Konservatismus einem Menschen galt, dessen Bestimmung doch eigentlich schon feststand: Er würde nicht anders als aus sicherer Machtstellung heraus gewaltsam werden können. Daß die soziohistorische und die soziokulturelle Verfasstheit von Menschen eine durch und durch intermediäre, interime Organisationsweise der Menschenform ist – davon, so scheint mir, war Kant überzeugt. Nur welche Organisationsweise der Menschen, welche Organisationen des Menschen und welche Formen des Menschen nach dem bürgerlichen Horizont, in dem Kant dachte, statthaben könnten: das erwähnt Kant mit keinem Wort. Es ist zum Beispiel erstaunlich, daß in seiner Anthropologie kein wesentliches Wort zur Technik auftaucht. Auch wenn die Industrialisierung in Königsberg noch keinen richtiggehenden Einzug gehalten hat, so muß Kant doch zumindest Kenntnis davon gehabt haben, daß mit der Erfindung der Dampfmaschine (1765), des Straßendampfwagens (1769), des mechanischen Webstuhls (1785)[39] voraussichtliche Veränderungen für die gesellschaftliche Vermittlung und den gesellschaftlichen Verkehr verbunden gewesen sind, die für die Praxis anthropologischer Pragmatik Bedeutung haben bekommen müssen.

 

IV

Zum Abschluß mächte ich auf eine Erwähnung eingehen, die am Anfang des Textes unter der imaginierten Antwort auf die dritte Frage („Was kommt heraus? frägt die Vernunft“) steht. Behauptet wurde dort, daß aus Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ein Menschenmuseum, ein begrifflicher Menschenpark herauskommt, der exzentrisch paradox ‚grundiert’ sein könnte. Was es mit dieser Grundierung auf sich haben könnte, die als exzentrisch paradoxe über die bis jetzt versuchte Grundierung der Kantischen Anthropologie als posthumane hinausgeht, soll in den folgenden Sätzen angerissen werden. Dabei bleiben die Sätze zur exzentrischen Paradoxie wohl kryptisch, da sie aus einem größeren Zusammenhang herausgerissen werden, der hier nicht gebührend dargestellt werden kann.

Bei der Kurzschließung von Kants Anthropologie und der exzentrischen Paradoxie handelt es sich um eine kleine Stelle in der Anthropologie, im ‚Abschnitt’ Zweites Buch. Vom Gefühl der Lust und Unlust. Dort schreibt Kant: „Der Schmerz ist der Stachel der Tätigkeit und in dieser fühlen wir allererst unser Leben; ohne diesen würde Leblosigkeit eintreten“ (p551).[40] Tätigsein vermittelt, vergegenständlicht also erst ein Fühlen des eigenen Lebens, aber nur dann, wenn das Tätigsein mit Schmerz, besser: im Schmerz passiert. Ohne Schmerz könnte man auch tätig, also produktiv sein, aber ohne Lebendigkeit. Lebendige Produktivität setzt Schmerz voraus; ohne Schmerz wäre Produktivität weiterhin möglich, aber leblos: man lebt, um zu arbeiten, wobei die Arbeit nicht mehr das Leben produziert. Zusammenziehend könnte man sagen: Ohne Produktivität des Schmerzes keine Produktivität des lebendigen Menschen, also auch keine pragmatische Anthropologie, die ja auf die Erforschung dessen geht, was der Mensch, „als freihandelndes Wesen, aus sich selber macht, oder machen kann und soll“ (p399). Wenn nun die den ganzen hiesigen Text unterliegende These treffend sein sollte, nach der Kant den Menschen in lebendiger Tätigkeit, den Menschen als lebendiges, körperliches, anthropologisches Wesen implizit abgeschrieben hat, dann muß die Leblosigkeit der Tätigkeit des Menschen, die Leblosigkeit des Menschen der unsichtbare Focus oder die unausgesprochene Referenz seiner Inventarisierung gewesen sein. Sprich: der Mensch nach der Produktivität des Schmerzes (des Lebens).

Das Theorem der exzentrischen Paradoxie[41] schließt daran an. In soziologischer Perspektive meint es zunächst, daß die Beziehungsformbildungsprozesse sozialer Systeme nicht mehr auf den Ereignispool der Interaktionssysteme (des Sozio-Anthropo-Kosmos’), in denen ‚Menschen’ wesen, als Material/ Medium zurückgreifen, und daß sie dabei die prinzipielle kommunikative Nichterreichbarkeit der Gesellschaft durchs ‚Individuum’ verschärft wahrnehmbar werden lassen. Es meint dann weiter, daß exzentrische Paradoxie die technische Existenz der ‚Menschen’ nach der Produktivität des Schmerzes ist, wobei der Schmerz anhält (der Schmerz der, nicht durch Abstraktion). Der Schmerz in seiner produktiven wie destruktiven Gewalt ist abgesprengt.

Wenn Balzac schreibt: „Der große, wahre Schmerz also müßte so mordend sein, daß er zugleich Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vernichten, keine Äußerung des Lebens unberührt, das Denken für immer zunichte machen, sich unauslöschlich auf Stirn und Lippen schreiben, alle Quellen der Freude vernichten oder versiegen lassen und so der Seele Ekel vor allem einflößen würde“[42] – so gälte dies fürs exzentrisch Paradoxe abzüglich der Seele. Leblose Tätigkeit wäre also schon die Arbeit des Anthropologen namens ‚Mensch’ an der und seiner Natur, wenngleich nur zum Ziele hin, nicht schon in der Ausführung selbst. Leblose Tätigkeit ist die Arbeit in kapitalistischen Produktions- und Arbeitskreisen. Für beide Zeiten und Dimensionen gilt: „[D]er Schmerz verliert die Kontrolle, sobald der Schaden zu groß wird. Wir finden in solchen Fällen einen Zusammenbruch der Vertrauensverhältnisse, die allen Nachrichten zwischen Körper und Geist zugrunde liegen.“[43]

Exzentrische Paradoxie als Denkfigur ist eingebunden in einen Denkhintergrund, der markierbar ist durch die ontologische Differenz (exzentrische Negationalität), die anthropologische Differenz (exzentrische Positionalität), und durch die „soziologische“ Differenz (das wäre die exzentrische Paradoxität). – Exzentrische Paradoxie wäre nun gegenüber exzentrischer Positionalität ein Begriff, der dafür einsteht, daß Menschen nicht mehr im Punkte der Vermittlung stehen und diese zugleich bilden; daß Menschen aber auch nicht zugleich daneben stehen und dabei dem Verlieren ihrer nicht mehr gegebenen vermittelnden Zentralität (Identität) oszillierend zuschauen (das korrespondierte mit der Differenzphilosophie). Exzentrische Paradoxie würde dafür einstehen, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich anwesend abwesend und abwesend abwesend sind – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen außen und im Außen außen sind[44] – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sozialen; in dem sie schließlich im Essentiellen nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten zu tun haben – und das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns.[45] Diese Verrückungen, die hier hinreichend als Effekte exzentrischer Paradoxie bedeutet werden, lassen es nicht mehr zu, in ihnen selbst oder mit oder durch sie ein „Werden“ zu behaupten: Wenn Deleuze die Mehrheit der Menschen, insofern sie im Standardmaß analytisch begriffen ist, als Niemand-Odysseus identifiziert, „während die Minderheit das Werden eines jeden darstellt, sein potentielles Werden, insofern er vom Modell abweicht“; wenn er feststellt: „Das Werden ist immer minderheitlich“[46] – so geht er davon aus, daß es Kräfte des Werdens jenseits der Bereiche des Rechts und der Herrschaft gibt. – Dieses „Werden“ (becoming) ist im Aufriß einer Wirklichkeit, die exzentrisch paradox geworden ist, nicht mehr möglich, soziologisch betrachtet. Aber dieses Werden (human becoming) wird auch schon in Kants Anthropologie als Unmöglichkeit ausgewiesen, nun anthropologisch betrachtet. Der Übermensch, den Foucault als treffende Antwort auf die Kant’sche Frage nach dem Menschen findet, wird genauso einschneidet, unvergleichbar und katastrophal in die Welt des Lebens einbrechen wie der Mensch es tat. So wie „die“ Natur mit dem Menschen Sprünge machte[47], so wird der ‚Übermensch’ mit dem Menschen umspringen.

 

Reinhard Brandt wies einmal darauf hin, daß Goethe im Dezember 1798 seine Stimmung beim Lesen der Anthropologie Kants unter anderem darin pointierte, daß von der Kant’schen Vernunfthöhe aus das ganze Leben wie eine böse Krankheit aussähe und die Welt einem Tollhaus gleich komme. Und Schiller, so Brandt weiter, monierte, daß Kant zu häufig die ‚pathologische Seite’ am Menschen herauskehre, er also ‚seine Flügel nicht ganz von dem Lebensschmutz habe losmachen können’.[48] Das sind treffende Sätze, auch wenn man die Referenz namens ‚Weimarer Idealismus’ und den dadurch möglichen Kontrast zum ‚Königsberger Realismus’ nur noch in flacher Weise nachempfindet. Vorallem Schillers Antonin Artaud alle Ehre machendes Wort „Lebensschmutz“ scheint geeignet, um abschließend nochmals auf den zentralen Punkt zu kommen, um den es mir ging, nämlich: Mit der pragmatischen Anthropologie ist Kant einmal hinabgestiegen in die Biosphäre, Abteilung menschlicher Umgang und Lebensklugheit, um zu beschreiben, was und wie dieses Lebenwesen Mensch sich artikuliert.[49] Das aber, was den Menschen als Form ausmacht – Vernunft, Verstand, Urteilskraft –, sind Vermögen, die in einer anderen denn sozialen oder gar anthropologischen Sphäre angesiedelt sind. Die Wirklichkeit der Transzendenz bedarf noch der biologischen, soziologischen, psychologischen Plastizität. Noch. Sie bedarf noch des hier und jetzt zuhandenden Menschen. Noch. Genau diese Plastizität „sammelt“ Kant ein, präzise, filigran. Es ist eine Sammlung, die selbst nichts an Theorie- oder Begriffsdignität an sich hat; mit der also die Evolution der Transzendenz in der Zukunft nichts anzufangen wissen wird, und die allenfalls als embryonale Vorlage für kybernetische Komplexitäten zu gebrauchen sein wird.

Kants Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist eine nach dem „Tode“ des Menschen, so wie „wir“, Menschen, ihn kennen. – Das Buch, mit einer Auflage von 2000 Exemplaren gestartet, übertraf damit übrigens alle Auflagen früherer Werke.

 

 



[1] Folgende Werk-Ausgabe wird benutzt: Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe, Bd. XII (mit Gesamtregister), hg. von Wilhelm Weischedel, FFM 81991, darin: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, p395-690. Seitenzahlen im Text.

[2] Es so zu sehen widerspricht der Einschätzung Foucaults, der im Gegenteil bei Kant die Hineinnahme der Natur in „die Welt“ vernimmt. Foucault: „Physische Geographie und Anthropologie nehmen nicht länger eine neben der anderen Platz wie die zwei symmetrischen Hälften einer Weltkenntnis, die sich als Gegensatz des Menschen und der Natur artikuliert; die Aufgabe, sich zu einer Weltkentniss [im Original deutsch; B.T.] zu wenden, ist vollständig einer Anthropologie anvertraut, welche die Natur nur noch unter der bereits bewohnbaren Form der Erde [im Original deutsch; B.T.] kennt“ (Einführung in die Anthropologie von Kant (1961), übersetzt von Ute Frietsch, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2000, p12).

[3] Siehe zu dieser von Dietmar Kamper und dem Verfasser gemeinsam gefundenen Differenzierung Verf., Der Zufall des Schicksals Mensch versus Schicksalsproduktion am zufälligen Menschen, in: derselbe, Soziologische Marginalien 3, Marburg 2000, p22-34.

[4] Dietmar Kamper, Der Mensch als Schicksal, Zufall und Gefahr, unveröffentlichtes Exposé für eine gleichnamige, nichtrealisierte Tagung, Berlin 2000, p2.

[5] So die berühmten letzten Worte Michel Foucaults in seinem Buch Die Ordnung der Dinge: eine Archäologie der Humanwissenschaften (dt., FFM 1974, p462).

[6] Michel Foucault, Überwachen und Strafen – die Geburt des Gefängnisses, dt., FFM 111995, p180.

[7] So der Titel des von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebenen Sammelbandes (FFM 1994). Untertitel: Vervollkommnung und Unverbesserlichkeit.

[8] So der Titel des ebenfalls von Dietmar Kamper und Christoph Wulf herausgegebenen Bandes (München 1990).

[9] Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, dt., München 1996.

[10] In gekürzter Fassung neu herausgegeben von John Tyler Bonner, dt., FFM 1983. D’Arcy Thompson läßt sein Buch mit einem sinngemäßen Zitat Kants beginnen: Kant zufolge sei Chemie zwar eine Wissenschaft, aber nicht Wissenschaft, da das Kriterium echter Wissenschaft auf ihrer Beziehung zur Mathematik beruhe (p21).

[11] D’Arcy Thompson, a.a.O., p27.

[12] D’Arcy Thompson, a.a.O., p30.

[13] Derselbe, Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Darmstädter Vorlesungen, FFM 1985, p9.

[14] Auf diese Stelle bei Kant wird später nocheinmal zurückzukommen sein, besonders auf die Anmerkung 4, die am Ende des Abschnitts angebracht ist.

[15] Allerdings ohne Naivität. Kant, in der Anmerkung (p615): „Die höchste Stufe der Kultur ist der Kriegszustand der Völker im Gleichgewicht und das Mittel ist die Frage wer von ihnen fragen soll ob Krieg sein soll oder nicht.“

[16] Michel Foucault, Einführung in die..., a.a.O., p47.

[17] Vielleicht nimmt hier der Gedanke Adolf Portmanns seinen Ausgang, daß Selbstdarstellung eines Organismus den gleichen grundlegenden Rang zu bekommen hat wie Selbsterhaltung und Arterhaltung. Foucault schreibt weitergehender, daß Kants allgemeine Anthropologie nur möglich war in einem Raum, „in dem das Beobachten seiner selbst weder auf ein Subjekt in sich noch auf das reine Ich der Synthese Zugriff hat, aber auf ein Ich, welches Objekt ist und präsent nur in seiner phänomenalen Wahrheit. [...] Kurz: Man sieht sich einen der Anthropologie eigenen Bereich abzeichnen, einen, in dem sich die konkrete Einheit der Synthesen und der Passivität, des Affizierten und des Konstituierenden, als Phänomen in der Form der Zeit gibt“ (Einführung in die..., a.a.O., p17f.).

[18] „Aber in den Darstellungen der zur Moralität [..], mithin zur reinen Vernunft gehörigen Begriffe (Ideen genannt) das Symbolische vom Intellektuellen (Gottesdienst von Religion), die zwar einige Zeit hindurch nützliche und nötige Hülle von der Sache selbst zu unterscheiden, ist Aufklärung“ (p498) – übertragen auf hiesigen Zusammenhang: Den Menschen von seinen Manifestationshüllen zu unterscheiden ist Aufklärung.

[19] Im Sinne instrumentellen Lernens bzw. Nichtlernens und im Sinne der ‚klassischen’ Konditionierung bzw. Nichtkonditionierung. Siehe dazu Andrzej Malewski, Elemente einer Verhaltenstheorie, dt., in: Walter L. Bühl (Hg.): Reduktionistische Soziologie. Soziologie als Naturwissenschaft?, München 1974, p125-148.

[20] Die gute Mahlzeit in (maximal zehnköpfiger) guter Gesellschaft (p617); Humanität als die Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgange (p616); der Feierabend als der größte Sinnengenuß (p613); „Leidenschaft [..] wünscht sich kein Mensch. Denn wer will sich in Ketten legen lassen, wenn er frei sein kann?“ (p582); jedem Vergnügen muß der Schmerz vorhergehen (p551) usw.

[21] Foucault, Einführung in die..., a.a.O., p37.

[22] Auf die Urteilskraft bezogen schreibt Kant: „/- Die Urtheilskraft ist überhaupt das Vermögen der <Bestimmung> [Unterscheidung des] der allgemeinen Regel [der] In Ansehung der bedingung des besonderen was unter ihr steht. (subsumiren) Dies geschieht durch schemata welche entweder den Begriffen des Verstandes [gem] oder dem Verstande überhaupt gemäs allgemein (weil Urtheilskraft ein oberes Erkenntnisvermögen ist) entworfen werden“; Text der Faksimile-Reproduktion mit der Bezeichnung „Loses Blatt Henrici_155“, zu finden unter: www.uni-marburg.de/kant/webseitn/ka_n_ hen.htm, 04/2002.

[23] Derselbe, Künstliche Wesen. Verhalten kybernetischer Vehikel, dt., Wiesbaden/ Braunschweig 1986.

[24] dt., Hamburg 1984, p17.

[25] Max Scheler, Die Stellung des Menschen im Kosmos, München 1947, p35.

[26] ‚Souveräne Autonomie’ ist, so man Georges Bataille verpflichtet ist, ein Ding der Unmöglichkeit. Souveränität und Autonomie sind extreme Gegensätze. Für Kant jedoch, so meine Auffassung, mitnichten.

[27] Peter Bulthaup, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, FFM 1973, p120-21.

[28] denn, nochmals: Historisch anthropologisch gibt es nur Besonderheiten und die Geschichte der Verkennung/Verdrängung von Besonderheiten zugunsten der Setzung von Allgemeinheiten (der Mensch), die ihre Besonderheit mit Gewalt (und Vernunft) leugnen.

[29] Übertreibend gesagt ist das vielleicht genau die Stelle, die Blaise Pascal im Sinn hatte mit den Worten, es sei gefährlich, dem Menschen zu eindringlich vor Augen zu führen, wie sehr er den Tieren gleicht, ohne ihm seine Größe zu zeigen; und es sei ebenso gefährlich, ihm zu eindringlich seine Größe ohne seine Niedrigkeit vor Augen zu führen.

[30] Michel Foucault, Einführung in die..., a.a.O., p95.

[31] Dietmar Kamper, Horizontwechsel, München 2001, p121.

[32] ebenda.

[33] Man könnte hier schon die Begriffe Menschen-Liga, Zivilisationsliga, Humandiversifikation einfügen; siehe dazu Hans Peter Weber, Wie spät ist es?, in: menschen formen (Hg.): menschen formen, Marburg 2000, p10-59, hier: p14, 16, 23.

[34] Diese implizite Teilung rührt meines Erachtens aus der gerade noch verhinderten Teilung des Kantischen Subjekts her (das empirische und das intellektuelle Bewußtsein als Akteure der Wahrnehmungs/Sinnlichkeits- und Verstandesbeziehungen). Kant verneinte die Existenz eines „doppeltes Ichs“; vielmehr sprach er von einem doppelten Bewußtseins dieses Ichs. Siehe Michel Foucault, Einführung in die..., a.a.O., p17.

[35] Siehe zum Exkurs der Verf., Der Zufall des Schicksals Mensch versus Schicksalproduktion am zufälligen Menschen, a.a.O., p22-34.

[36] Siehe dazu aus einer feministischen Perspektive Gerburg Treusch-Dieter, Postevolution statt Revolution. Nicht mehr die Gesellschaft – die Körper werden verändert, in: Die Unruhe und die Zufriedenheit oder die Tragödie des Scheiterns, Katalog zur Ausstellung „1848“ im Rahmen der 14. Europäischen Kulturtage Karlsruhe 1998, hg. vom Badischen Kunstverein Karlsruhe, Karlsruhe 1998, p44-62.

[37] Karl Jaspers, Die geistige Situation der Zeit, (1932), Berlin/New York 1979, p71.

[38] Siehe hierzu die Auseinandersetzung Dietmar Kampers mit der Marxschen Unterscheidung von politischer und menschlicher Emanzipation in seinem Aufsatz Das Ende der bürgerlichen Revolution. Grundlinien einer Logik der Geschichte, in: derselbe (Hg.): Abstraktion und Geschichte. Rekonstruktionen des Zivilisationsprozesses, München/ Wien 1975, p180-204, hier: p186ff.

[39] Dies sind nur die technischen Beispiele auf Augenhöhe einer Anthropologie, die den Menschen in seiner ‚pragmatischen Wahrheit’ fassen möchte. Man könnte noch weitere wissenschaftlich-technische Einschläge in der Zeit zwischen 1760 und 1790 ausmachen, die nicht weniger das ‚philosophische’ Denken über den Menschen hätten beeinflußen können – aus heutiger Sicht gesehen natürlich. Wenn Blumenberg feststellt: „Für die herankommende technische Welt [zu Beginn der Neuzeit; B.T.] stand keine Sprache zur Verfügung, und es versammelten sich hier wohl auch kaum die Menschen, die sie hätten schaffen können. Das hat schließlich zu dem erst heute - da die technische Sphäre erstrangig ‚gesellschaftsfähig’ geworden ist - kraß auffallenden Sachverhalt geführt, daß die Leute, die das Gesicht unserer Welt am stärksten bestimmen, am wenigsten wissen und zu sagen wissen, was sie tun“ – um wieviel weniger stand Kant eine Sprache zur Verfügung? Siehe Hans Blumenberg, Wirklichkeiten in denen wir leben – Aufsätze und eine Rede, Stuttgart 1996, p60.

[40] Man darf hier durchaus an den Produktionsgedanken im Sinne des Marxschen ‚In der Produktion ihres Lebens...’ denken, also an die Tatsache, daß das menschliche Leben erarbeitet werden muß, schmerzhaft. Siehe Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis, FFM 1970, p27.

[41] Siehe Verf., Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, (voraussichtlich) Marburg 2002.

[42] Honoré de Balzac, Die Frau von dreißig Jahren (1830-35), dt., Hamburg 1960, p63.

[43] Alexander Kluge, Chronik der Gefühle, 2 Bde, FFM 2000, Bd.1: Basisgeschichten, p720.

[44] Das meint etwas anderes als die Fassung von Deleuze und Guattari, das Außen als nicht-äußeres Außen und das Innen als nicht-inneres Innen zu denken; es meint allerdings nur, es denkt noch nicht. Siehe Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, dt., FFM 1996, z.B. p69.

[45] Es handelt sich bei dieser Markierung nicht um eine Paraphrase der Immanation, wie sie Gilles Deleuze entwirft; diese Immanation ist nach meinem Empfinden noch zu stark mit dem Gegenbegriff, Emanation, verklammert. Siehe Gilles Deleuze: Die Immanenz: ein Leben…, dt., in: Friedrich Balke & Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, p29-33. Und auch nicht ist hier auf Bataille zu verweisen (Georges Bataille, Die innere Erfahrung (nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953), dt., München 1999, p43), wenn er sagt: „Das Sonderbarste: sich nicht mehr als alles wollen, ist das höchste Bestreben des Menschen, ist, Mensch sein wollen (oder, wenn man will, den Menschen überwinden – das sein, was er frei von dem Bedürfnis wäre, nach dem Vollkommenen zu schielen, indem er das Gegenteil täte“). Das Gegenteil: wo und was wäre es innerhalb exzentrisch paradoxen Daseins?

[46] Gilles Deleuze, Kleine Schriften, dt., Berlin 1980, darin: Philosophie und Minderheit, p27-29; Zitate p27f.

[47] Der Satz „Die Natur macht keine Sprünge“ („Natura non facit saltus“; Gottfried Wilhelm Leibniz) stand als Matrix für die Etablierung der Naturwissenschaften im 17. Jahrhundert. Erst knapp 100 Jahre nach Kants Anthropologie (1877, Ludwig Boltzmann) beziehungsweise knapp über 100 Jahre später (1900; Max Planck) kam heraus, daß die Natur dauernd springt.

[48] Reinhard Brandt, Im Frühling zu lesen, wenn die Bäume blühen. Kants Anthropologie und ihr mißliches Echo, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 9. Mai 2001, Seite N 6.

[49] Außerhalb der Anthropologie wird die pragmatische Anthropologie von Kant nicht erwähnt (nur in der Vorlesungsankündigung von 1775-1776). Die pragmatische Anthropologie hat demnach in der Systematik der kritischen oder der Transzendentalphilosophie keinen Ort und läßt sich auch nicht post festum zu ihr in ein systematisches Verhältnis setzen, so Reinhard Brandt.