Auszug aus dem
Gesprächsband
Vom KreaturDenken [oder warum es opportun ist, Mensch und
Welt als Kreatur zu denken]
Bernd Ternes: Ich halte uns gar nicht bei Vorläufen auf, sondern
fange einfach an mit der Präsentation der nachfolgenden Sätze: Es geht darum,
erste Annäherungen zu schaffen an das, was KreaturDenken
als Theorem, als Theoriesyndrom von Hans Peter Weber, bedeuten könnte, sowohl
für die Wissenschaft, für das Denken ,für die Gesellschaft und für Welt.
In einer
Hausmitteilung von Hans Peter Weber vom
Februar 2004 stehen unter der Überschrift „Dritte Kultur“ [in
Anführungszeichen; und dem Untertitel: „Eine Epistel an ihre Gläubigen“]
folgende Einleitungssätze: „Von zwei Seiten her muss die Abschnürung der
klassischen unseligen Dichotomie von den
zwei Kulturen erfolgen. Einerseits: die Austreibung des ‚Geistes’ aus den
Geisteswissenschaften (Kittler, Kamper
u.a.). Andererseits: die Austreibung der ‚Natur’ aus
den Naturwissenschaften. Letzteres steht jetzt überhaupt erst an.“ Im Rahmen
des Abklärens, was eine Dritte Kultur sein könnte, ist der Name, das Wort, der
Begriff, der Term „Kreatur“ innerhalb der Schriften und des Nachdenkens von
Hans Peter Weber zentral. Die erste Frage wäre: welche Notwendigkeit besteht,
einen neuen Begriff, nämlich „Kreatur“, ins Denken und als Denken einzuführen?
Hans Peter Weber:
Die Notwendigkeit ist selbst kreatürlicher Art. Das ist das erste, was mir
selbst aufgefallen ist beim Bedenken dieser Frage. Und zwar muss ich
vorausschicken, dass ich mich selber gar nicht als einen Wissenschaftler sehe,
sondern als jemand, der in der Tradition der Daseinsanalyse steht. Was ich
selber treibe, ist Daseinsanalyse unter der Attraktion von Daseinskultivierung;
d.h. Daseinsanalyse ist auch nichts Selbstständiges, ist auch kein
eigenwilliges Denken, sondern es ist ein Denken im Dienste von
Daseinskultivierung. Und Daseinskultivierung ist das vorgängige Begehren
überhaupt, dem diese Daseinsanalyse folgt. Sie macht das dann in der Weise einer Abklärung der Existenz, der Lebenssituation,
des Aufnehmens, des Einsichterzeugens in das, was momentan geschieht, was mit
einem selbst geschieht als Kreatur; eine Kreatur, die in eine Umwelt, in eine
soziale und in eine weitergehende Umwelt gestellt ist, u.s.w.
Also ist das die erste Differenz zu allen anderen Denkformen, die daneben
bestehen, - etwa als das, was hier genannt worden ist: Körperdenken,
Begriffsdenken, Sachdenken etc. KreaturDenken ist
also überhaupt kein eigenständiges Denken, es beansprucht keine
Selbstständigkeit, sondern steht im
Dienst eines Begehrens nach Enkulturisation. Das ist das Wichtigste überhaupt. So nimmt es
sich selber als ein kreatürliches Motiv auf, welches sich weiterentwickelt.
D.h. ein kreatürliches Motiv entwickelt sich zwanglos selbstständig weiter und
steht dann natürlich auch in dieser Art von Evidenz, in der Selbstevidenz, sich
in dieser Kreatürlichkeit zu empfinden, sich selbst wieder als Kreatur
wahrzunehmen; und auch das, was Denken will, wiederum als Kreatur wahrzunehmen.
Der Denkgestus ist etwas Passives, der
Modus eines aktiven Passivs, eines Lassens, eines Kommenlassens,
der nicht willkürlich aufgebaut wird, der auch primär gar kein
wissenschaftliches Interesse hat, und so auch kein Wissen schafft. Daseinsanalyse produziert per se gar kein Wissen, um daraus
irgendwas produzieren zu wollen. Sie ist
zudem immer etwas Nachgeordnetes.
BT: Aber jetzt
könnte man natürlich sagen, eine Form des Körperdenkens, oder ganz bestimmte
Formen des Begriffsdenkens, wie auch wiederum ganz bestimmte Formen des
Sachdenkens könnten genau diese Kurzumschreibung ja auch für sich in Anspruch
nehmen; respektive die Frage wäre, von welchem Begehren wären diese drei Formen
des Denkens getrieben, und was wäre jetzt der Unterschied, der eine Unterschied
macht, der plausibel macht, warum neben diesen Begrifflichkeiten, warum neben
diesen Namen der Begriff, der Name „Kreatur“ das Denken auszeichnen könnte?
HPW: Ja, ich weiß
was damit gemeint ist. Wenn ich frech sein sollte, würde ich sagen, der größte
Unterschied besteht darin, dass KreaturDenken
realistisch ist und diese anderen Ansätze, die mit diesen anderen Etiketten
benannt worden sind, nicht; dass sie irreal sind, dass sie Irrealitäten ins
Spiel bringen wie z.B. Körper, oder auch die Existenz von Begriffen. Man müsste
sozusagen an die Existenz von Körpern glauben, an die Existenz von Begriffen
oder auch an die Existenz von Sachen. Natürlich ist das KreaturDenken
nüchtern. Es beansprucht dann für sich selbst, realistisch zu sein. Es möchte
ja Realität erzeugen letzten Endes, Existenz, Präsenz als dichteste Realität
überhaupt, die man erfahren könnte,- als die Stimmung
der Existenz. Insofern muss es selbst sachlich sein, es muss sachorientiert
sein. Es folgt so durchaus dem Anspruch, realistisch zu denken. Was es nicht
macht, ist: positivieren,
- wenn mit „Sachdenken“ eine Form der
isolierenden Positivierung gemeint sein sollte, also
ein Denken, das wie ein Instrument chirurgisch auf eine Sache zugeht, und das
unter Eigenisolation diese Sache bearbeitet. Das ist es nicht. Es unterscheidet
sich zudem vom Topos des „Körperdenkens“, dass es kein Phantasma
in die Welt setzt. Zumindest ist es bemüht, kein Phantasma
in die Welt zu setzen, - in Form des Phantasmas „Körper“ zum Beispiel, welches quasi nur die
Wiederholung oder die negative Seite des Phantasmas
„Geist“ gewesen ist.
Das ist der größte Unterschied. Und ein gewichtiger Unterschied ist
selbstverständlich der, dass sich dieses Denken als Abklärung einordnet oder
unterordnet bzw. sich selbst unterstellt dem Begehren nach Kulturisation.
Es ist ein Agent der Kulturisation, und so eigentlich
auch kein eigenes Denken, dass eigenständig, selbstständig aufstehen würde, um
in irgendeinem Erkentnis- Schema auf die Welt
loszugehen, um dort Deutungen vorzunehmen, zu dirigieren oder Vergleichbares zu
tun.
BT: Um nochmals auf den Punkt des KreaturDenkens
zu kommen: in der Schreibweise wird ja „KreaturDenken“
zusammengeschrieben, das „D“ des „Denkens“ groß. Die Fassung, die Kreatur nicht
nur zu denken, sondern das Denken selbst als Kreatur aufzufassen, wie ist das
zu paraphrasieren, wenn man nicht mehr rekurrieren kann auf diese aus der
Psychoanalyse herkommenden Unterscheidung zwischen dem Subjekt der Aussage und
dem Subjekt des Aussagens?
HPW: Ja, das ist auch ein Tribut, glaube ich, an die neueren
erfolgreichen Verwendungen des Terminus „Selbstreferenz“. Das meint, dass das,
was aktiv laboriert,- und zwar an der höchsten
Auflösungsfront der Physis überhaupt, die in Gang
gesetzt wird, um zu denken, dass sich dieses Programm, das in diesem Augenblick
aktiviert ist, sich selbstreferentiell auch als
solches wahrnehmen muss. D.h. es kann sich, wenn es sich auf sich selber
bezieht, in dieser Art der mitlaufenden Selbstreferenz (das ist ja der
mittlerweile gängige Terminus) auch nur
so auffassen - als Kreatur. Es muss unterstellen,
dass es von der selben Art ist wie das, was es im Augenblick gerade untersucht,
wenn es denkt; so dass es eine retroreversive
Schleife bildet oder eine Einschleifung, bei der man demnach nicht
herausspringen kann, um sich zu ‚objektivieren’, um sich als etwas
Andersartiges dem gegenüberzustellen, von dem gerade die Rede ist. So ist die
Form der Erfahrung, die hier praktiziert werden soll, auch wieder eine stärker
passive, eine passionare und eine passive, ein aktives Lassen;
und keine Form der Selbstbehauptung in der Art, dass man sich in einer klinisierenden Weise gegenüber den isoliert klinisierten
und festgestellten Objekten bewegt. Man ist sozusagen immer im Zittern, in der selben Bewegung, oder: man hat Anteil am Zittern der
Gegenstände...
Daseinsanalyse unter der Herausforderung von
Daseinskultivierung [oder warum man weder ‚idealischem’ noch
‚ontologischem’ Denken verfallen sollte]
BT: ... wenn ich da unterbrechen darf, wäre das nicht auch eine
Formulierung, die Herr Habermas für seine Fassung der
Theorie, für seine Fassung der Beschreibung von Welt für sich in Anspruch
nehmen könnte: also dieses Bild der „kommunikativen Vernunft“, die in einer
Nussschale im Meer der Kontingenz jede Wellenbewegung registriert, aber selbst
nie invasiv, selbst nie aktiv als kommunikative
Rationalität eingreifen könne, sondern immer nur Sonden in die Welt einspeisen
könne, um Pathologien, um Unpassendheiten, um Nichtviabilitäten
festzustellen ?
HPW: Es gibt doch
einen gewaltigen Unterschied zwischen dem, was ich denke und betreibe und dem, was Jürgen Habermas betreibt, insofern es überhaupt gar keinen Versuch
gibt, in dieser Welt epistemisch distanziert so
eingreifen zu wollen. Dieses Denken ist zunächst mal eine Selbstexperimentation.
Und dadurch, dass es skribiert wird, verzeichnet
wird, nach außen geht, von anderen Menschen in die Hand genommen wird usw., hat
es Folgen. Diese Folgen sind zunächst gar nicht intendiert. Das eigentliche telos, die eigentliche Motivation ist, den Denkenden selber
zu kultivieren, ganz egal, was in der
Umwelt geschieht, und auch ohne die Absicht zunächst, dort eingreifen zu
wollen.
Die Daseinsanalyse ist stark in Vergessenheit geraten, das muss man
erwähnen. Ich will noch mal wiederholen,
dass das überhaupt gar keine Wissenschaft ist, was hier getrieben wird.
Insofern wäre es für mich auch falsch, als Experte für diese ganzen
Wissenschaftsfragen aufzutauchen. Die Kultur dieses Denkens ist keine
wissenschaftliche Kultur, sondern ist selber ein Ausfluss von Kulturisation. Sie steht also dem Kunstversuch als
Selbstversuch von Eigenkulturisation viel näher als
alles andere. Die Tradition, die man dafür aufbieten kann, wenn man zurückgeht,
hat auch ein ganz anderes Gesicht. Da tauchen auch ganz andere Namen auf, die
man gewöhnlicher Weise nicht mit Wissenschaft in Verbindung bringt, oder nur
sehr peripher; also angefangen mit Spinoza, den man
dann noch eher mit der Philosophie in Verbindung bringt, obwohl das auch nicht
richtig ist, oder Diderot, oder La Mettrie, oder
Robert Musil, oder Cannetti oder auch teilweise Whitehead (unter verschiedenen Aspekten), sowie eine ganze
Reihe von Künstlerphilosophen, von Musikern, - Marcel Duchamp, Gertrude Stein
etwa. Es sind alle inbegriffen, die im Grunde genommen irgendwelche Facetten
dieser Art von Daseinsanalyse auch stimmig praktiziert hatten, - essayistisch
oder auch in einem künstlerischen Gestus, immer in einem Changieren, in einem
Pingpong, in einem Hin-und-Her (Cursus).
Zum letzten Mal taucht der Topos direkt auf in einer leider unglücklichen
Konstellation - und zwar explizit auch
mit diesem ‚Firmennamen’- durch Ludwig Binswanger.
Das ist auch in Vergessenheit geraten. Binswanger ist
ein Zeitgenosse von Heidegger gewesen, der Psychoanalytiker war. Und er hat
Daseinsanalyse in Verbindung mit der Psychoanalyse betrieben, was ein sehr
unglückliches Modell praktisch gewesen ist, weil Daseinsanalyse stimmig und fruchtbar nur in
Verbindung mit Enkulturisation betrieben werden kann.
D.h. dieser Wunsch, das Denken überhaupt so ernst zu nehmen, dass es um Dasein
geht, also um Existenz, dass Existenz zu fördern ist, - dieser Wunsch, dass
alle Intentionen darauf gerichtet sein müssen, dieses kostbarste Gut sozusagen
zu retten, der kann nicht gekoppelt werden mit einer intellektuell doch sehr
problematischen Theorie, die als Pseudo-, als Quasiwissenschaft daherkommt, -
so wie eben die Psychoanalyse. Binswanger war an
Heidegger angekoppelt, er hat das Heideggersche Denken übernommen, also diese
Art von Ontologie, mit diesem Steigerungsimpetus, der in dieser Ontologie
impliziert ist; so dass es dadurch zu einer äußerst unglücklichen Melange
gekommen ist bei dieser Art von Daseinsanalyse: forcierungswillige
„Fundamentalontologie“ und Psychoanalyse! Allerdings taucht der Topos so zu
einem Zeitpunkt auf, während dessen die richtigere Daseinsanalyse eigentlich von einigen Literaten bzw. von
literarisch-essayistischen Köpfen geleistet worden ist bzw. in Ansätzen wieder in Erinnerung
gebracht wurde, - gerade durch die Literaten; siehe Camus, teilweise Sartre, das sogenannte Existenzdenken der Nachkriegszeit, welches das
Etikett „Existentialismus“ bekommen hat, und das selbst wiederum sehr ins
Fahrwasser von philosophischen Doktrinen geraten ist. Wenn man etwas
zurückgeht, hat man manch größere authentische Figur, die das repräsentiert; so
jemand wäre zum Beispiel Robert Musil. Man stelle sich demnach vor, dass
man heute die Intention eines Valéry
oder eines Musil oder auch eines Canetti weiterzutragen
hat, in dieser Art von Raum des Denkens, der ein Abklärungsraum ist, kein
Aufklärungsraum. Eben das unterscheidet dieses Denken sehr entschieden von dem,
was das ‚Projekt Habermas’ beinhaltet. Dieses ist
eine gesteigerte Aufklärungsform, mit kruden Idealismen, mit voluntaristischen Setzungen, ohne Eigenexperimentation,
ohne Selbstversuch, ohne eine Passion, ohne sich in irgendetwas verändern,
verwandeln zu wollen; immer mit der Intention,
ex cathedra, kategorisch ideal geronnenes,
klinisches Wissen auf die Welt zu projezieren und zu verlangen, dass diese sich dem Modell
anpasst. Das ist nun absolut das Kontrastprogramms zu
dem Gestus, zu dem Denk-Wunschraum, den die Daseinsanalyse repräsentiert.
BT: Beinhaltet die Daseinsanalyse auch eine Wegseinsanalyse
..?
HPW: .. das wäre das Ideal.....
BT: ... besteht die
Analyse, besteht die Philosophie, bestehen die Sätze , die ja herausbekommen
wollen , was dem Dasein gebührt und was dem Dasein nicht gebührt, wie dem
Dasein entgegengekommen werden kann, wie man der Zukunft, der Vergangenheit und der Gegenwart des Daseins gerecht werden
kann, - entspricht dem auch eine Form
des Wegseins, auch in der gleichen philosophischen oder begrifflichen Dignität
wie „das Dasein des Daseins“ ? Gibt es eine
Form der Wegseinsanalytik ?
HPW: Man kann sagen, wenn die Notorik oder
die Krisisform, die überhaupt zu diesem Denken nötigt, wenn die verschwindet,
dann ist diese Daseinsanalyse am Punkt des Wegseins, dann mündet sie quasi ein
in die höchste Form ihrer Erreichbarkeit überhaupt, - wenn sie sich selber
auflöst. Dieses Wegsein vom notorischem Krisisprozedere „Denken“ (d.h. kriselnd
denken zu müssen und einen Punkt des Selbstverständlichen gar nicht erreicht zu
haben)...: solange das kocht und diese Krisis-Chiralität
sozusagen boomt, solange ist man auf dem Wege zu diesem Wegsein. Das Wegsein
wäre die Lösung, die Auflösung, und wäre überhaupt auch eine Lösung für das
Denken. Das wäre das Erreichen einer präsenzierenden
Stimmung, einer Stimmung, die vergegenwärtigt, - als einer Verfassung, als
Verfassung unserer neurologischen oder neuronal-pharmazeutischen Organisation,
quasi diesem nuklearen Pool von conditio humana. Wenn
sich dieses Pharmakon, das dieses Denken
repräsentiert, so sättigt, wenn es existentiell so gestillt ist, dass man dann
an dem Punkt wäre, den man einen Satori-Punkt nennen
könnte, wo man in diese Art von Auflösung der Krisis, dieser neuronalen Krisis,
geriete, so dass man nicht mehr der Not ausgesetzt wäre, sich überhaupt nur als
eine rein problematische Kreatur
wahrzunehmen ( mit ihren verschiedenen entgegengesetzten
Begehrenskulturen, die sie in sich
trägt), - wenn sich also das auflösen
würde, dann wäre man an dem X-Punkt der Daseinsanalyse überhaupt, an dem sie
sich selbst auflöst.
BT: Nun, ich frage deswegen, weil man, wenn man einen ganz groben Kamm
nehmen würde, vielleicht formulieren
könnte, dass alle Wissenschaften, alle Formen der Theorie, Philosophie, die
sich eher dem widmeten, was nicht da war, was nicht positiv geworden ist, was
weg ist bzw. was sich im Zustand eines Wegseins befindet, sich über den Begriff
der Negation zu nähern versucht haben; dann
in der Moderne maßgebend im Begriff des Noch-Nicht,
in Form der Erwartung, in Form der Hoffnung,
- wie säkularisiert, wie homöostasiert auch
immer. Im Kontrast dazu wäre diese Form
der Daseinsanalytik des KreaturDenkens aber – wenn
ich es richtig verstehe - sowohl kein
Positivismus als auch keine Fassung, die auf ein Noch-Nicht
aus ist, sondern die eher sagen würde: „Immer-Schon“.
HPW: Das „Immer-Schon“ kann diese Art von
Denken nur dann erreichen, wenn es seine Exerzitien auslegt, also nicht
innerhalb des Denkens selber, sondern durch
das Exerzitium. Das ist das Entscheidende, dass das Denken eben nur eine
Art von Agent ist, ein Abklärungsagent zur Anbahnung von kulturisierenden
Praktiken. Insofern ist es nicht primär daran interessiert,
Abschreibungstestate der Welt auszustellen, oder Negativismen,
bzw. sich über die Negativismen zu erheben, was in
der Tat nur das nihilistische Empfinden steigern würde; sondern der Impetus,
die Intention ist ganz klar immer die, dass ein Begehren schon vorläuft, dass
also bereits ein vorlaufendes Begehren arbeitet, dem man zuarbeitet.
Das muss man nicht erfinden, das ist ein kulturelles Begehren, ein
Begehren nach Einbergung, nach Kulturisation, man
kann es auch anders sagen: nach Verzauberung der Mentation,
der krisenhaften Mentation. Und das Denken ist die
Abklärungssonde, die Sonde zum Recherchieren, wo geeignete Techniken sind; d.h.
Kulturisationstechniken, die im Augenblick der
Ausgesetztheit von Aufklärung, in der man selbst hartnäckig krisenhaft verfasst
ist, just diesem Krisis- Moment Paroli bieten könnten, auf diesem Niveau und
diesem Tableau der
Krisis-Raffinität; so dass die Effektivität
des KreaturDenkens darin besteht, Kulturisationstechniken,
Kulturtechniken zu entwickeln, die
preziös und komplex genug sind, um der laufenden Krisis des immer am
Rande von Auflösung durch die Aufklärungsschübe und Kriminationsschübe sich
befindenden, gewöhnlichen Denkens (eines existenziell ausgesetzten
‚Zivilisten’) Paroli bieten zu können.
Also es gibt den zweiten Teil nach der ganzen Vorbereitung solcher
Abklärung. Dieser zweite Teil ist die Arbeit, die Laboration
an der Selbstinitiation, - also die eigene Invention
in Praktiken der Enkulturisation. Das ist das Entscheidende.
Und von dort her stellen sich die positiven Momente
der Existenz ein, die Sättigung; eventuell dadurch, dass ich mich einer
konzentrierten Musik unterziehe, mich dadurch gerade präsenziere.
Und wenn es diese Musik nicht mehr ist, dann wird man vielleicht weitergehen,
über eine phänomenische Kunst hinaus, - was kulturtechnisch dann
weiterführt, zusammen mit dieser Art von vorlaufender Abklärung, die als
Agentin da ist, als Sonde, und die eben auch nichts Selbstständiges an sich
hat. Die eigene ursprüngliche Intention
bleibt nach wie vor das Begehren nach Kulturisation,
nach Einbergung. Und die Arbeit, die wichtigste Arbeit ist sozusagen diese
technische Arbeit, die danach folgt: im zweiten Schritt Ausschau zu halten nach
Möglichkeiten, kontraversal, kontrapunktisch zu der
Art der Aussetzung etwas dieser gerade Entgegenlaufendes, etwas Konsistentes an Kulturtechnik zu finden, was
dann diese krisenhafte Mentation wiederum stillen könnte. Es ist ein
Stillungsbegehren. Und das Stillungsbegehren ist natürlich durch ein
prophylaktisches „medium / medicamentum“
zu erreichen und nicht durch eine ‚Therapie’ oder durch eine reine ‚Diagnostik’.
Vom Ende der wissenschaftlichen Selektionskraft [oder warum Spitzenkognition nur
noch dynamische Permutation betreiben kann]
BT: Wenn man mal jetzt in den ersten Schritt hineingehen oder
zurückgehen wollte, unter der Voraussetzung, dass eine Verwobenheit besteht,
also dass das Begehren nach Antworten und Greifbarmachung
dessen, was das Begehren nach Enkulturisation
ausmacht, dass dieses Begehren jetzt vielleicht verstärkt wahrnehmbar,
registrierbar ist in dem Moment, in dem die eher zivilisatorischen
Wissenschaften zunehmend Berge an unbeantworteten unerledigten Fragen
produzieren, sowie an nicht vorhandenen richtigen Fragestellungen, - also dass es da eine Verwobenheit, eine
gegenseitige Abhängigkeit, eine Interdependenz gibt: wenn dem so ist, was für
Fragen sind es, auf welche die gegenwärtigen Wissenschaften nicht mehr antworten?
Und welche Fragen, die nicht mehr gestellt werden und damit auch keine Antwort
evozieren, sind es, die eventuell einen unmittelbaren Kontakt herstellen zu
einem jetzt in der Gegenwart verstärkt vorhandenem Begehren, dem Begehren
nach Enkulturisation?
HPW: Da muss ich in der Eröffnung zweigleisig antworten, zunächst die
erste Frage stellen nach dem Kaliber, der Kalibrierung von Wissenschaften, -
immer vorausgesetzt, dass ich als Nichtwissenschaftler dazu Stellung nehme, der
nur durch seine Abklärung feststellen kann, was dort passiert, der also nie
drin gewesen ist, sondern nur durch das Abtasten seiner eigenen
Abklärungsinstrumente detektieren kann, was dort an Krisis vorhanden ist, was
an Entwürfen vorhanden ist, an Gelingen, an Misslingen, um den Stand der
Entwicklung, bestimmter Stände von Entwicklung festzustellen. Das erste, was
also gefragt werden muss, ist: in welcher Kalibrierung soll man sich bewegen,
da wir ja in einer Wissenschaftslandschaft sind, in der mit unterschiedlichen
Kalibern, in verschiedenen Ligen gearbeitet wird, z.B. in einer eher mediokren,
in der alle funktionieren und für einen tagtäglichen Umsatz Produkte und
Produktionen erarbeiten. Oder man betrachtet eine zurückbleibende Form der
Wissenschaften, die ja auch noch eine breites Feld darstellt, eine restringierte Form, die in Reservaten quasi überlebt, -
wenn wir z.B. an das ganze Feld der universitären Human- und sogenannten Kulturwissenschaften denken ( mit diesem
Vorbehalt, dass es da also um Kultur ginge), oder an das, was man unter dem
Etikett Geisteswissenschaften pflegt, das so ein Feld ist, welches selbst nur
noch unter galoppierender Schwindsucht
existiert, und sich selbst laufend musealisiert. Aber ich glaube, die
Frage zielt eher auf das höchste Kaliber, wenn ich das richtig sehe, also auf
die Extremsituation von Forschung mittlerweile, auf diese Spitzenleistung, in
der noch einmal versucht wird, Schübe von evolvierenden
Produkten bzw. ein Evolutionsgelingen vom Zaun zu brechen, eine Art von
erneuter wissenschaftlicher Revolution an der Front. Und wenn man darauf antworten will, auf dieses Kaliber
hin, das ist ein offenes Kaliber oder ein Kaliber, das mittlerweile ins ontisch Offene hineinreicht. Und das Offene
heißt Saum. Saum heißt, es ist nicht mehr der Horizont der alten
Phänomenologen, sprich Husserl usw,. die noch vom
Horizont sprechen, die eine
Horizontdiskussion geführt haben über das Denken und über die
Wissenschaftlichkeit. Gerade dieses Regime ist auch schon durchbrochen, nach
oben durchbrochen worden, so dass man sich mittlerweile wirklich in der Radikalität und Nuklearität
befindet, also in einer Situation des Off, im Orbit. Orbit heißt, dass man
schon so eine Radikalität erlangt hat, die nicht mehr steigerbar ist, einfach
weil gar keine Kapazitäten mehr zur Verfügung stehen, und zwar keine ontopoetischen Kapazitäten von Physis
in der Welt, die man überhaupt noch aufbrechen könnte, um aus ihnen gesteigerte
Höherkreationen zu machen. Die Wissenschaften stehen ja per se - und das
unterscheidet sie auch ganz klar von der Daseinsanalyse - unter der Abrufung oder dem Schicksal,
herausgefordert zu sein zur Höherkreation. Insofern muss man immer Wissenschaft
und Entwicklung sagen, das ist ein sehr triftiger Topos, den man beibehalten
sollte, wenn man von Wissenschaft spricht. „Psychologie“ sagt man z.B. Ja - und
Entwicklung? Was ist mit der
Entwicklung, zu welcher Entwicklung ist man etwa in der Psychologie
herausgefordert, in welchem Kaliber? In
dieser Art von extremer Kalibrierung gibt es keine Antworten mehr in einer evolvierenden Dimension. Früher konnte man das Gefühl
haben, diese Wissenschaften oder diese Forschungen werden von etwas abgerufen
oder herausgefordert, auf irgendetwas hin gezogen, in einer Art von
Entwicklung. Und die Generationen zuvor konnten das auch mühelos formulieren:
Wir stehen da, weil wir sozusagen auf Entwicklung programmiert sind, wir haben ganz klar eine Chance auf eine
Höherentwicklung, auf eine neue Revolution. Und das wird eine technologische,
wissenschaftliche Revolution sein, die eine zivilisatorische Revolution, also
noch mal einer Art von ‚Welten’ -
Steigerung, hinter sich herziehen wird. In einer solchen Front im Off, im Saum,
im Orbit, wo sich diese Sachen auflösen, kann diese Intention nicht mehr
aufgebracht werden. Sie kann auch die Wissenschaftsform sozusagen nicht mehr
herausfordernd beschäftigen. Wenn nur noch
virulent ist, was schlicht höhermächtig ist als jede erdenkliche
wissenschaftliche Denkform selber, dann sieht sich dieser Orbit von
Wissenschaftlichkeit (und Entwicklung) vor der Situation, an dem ihm selber die
Formulierbarkeit der Herausforderungen ausgeht. Darauf kann man nicht mehr
antworten. Dort herrscht mittlerweile Sprachlosigkeit aufgrund der Fraglosigkeit. So sehe ich das eher.
BT: Also das würde jetzt bedeuten, dass es für die momentan
avancierten Formen der Wissenschaft, Entwicklung und Forschung, nicht mehr gilt zu sagen, da gibt es ein
- um mit Freud zu reden - ein
„Unbehagen“ in der Kultur, in der Technokultur, sondern es gibt ein
strukturelles Unvermögen, mit diesen avancierten Technologien und der
Wissenschaftsentwicklung überhaupt noch in Kontakt zu treten, mit Kultur; oder
diese Ergebnisse, dies Artefakte einer Kultivierung, einer Kulturisation
zuzuführen. Wäre das eine richtige Deutung?
HPW: Das Unbehagen besteht ja nach wie vor.
BT: Keine Frage, das wäre jetzt ein neuer Aufsatz,
ein Applikat.
HPW: Das Unbehagen würde ich auch nicht in der
Freudschen Version ansetzen wollen, sondern wirklich in einer
kulturwissenschaftlichen, oder in einer kulturtechnischen Version (das wäre
aber jetzt noch eine Spezialauslegung, der man noch anfügen müsste, warum das
so ist). Dass diese Landschaften mit dem Unbehagen kämpfen, d.h. die daran
beteiligten Populationen, welche in diesen Feldern eingesetzt sind – und das
als Spitzenleistungsformationen, Spitzenformen, Spitzenhumanformen des
Sozialen, wie Luhmann formulieren würde
- das ist ganz unbestreitbar. Insofern
müssen diese Menschen für ihren eigenen mentalen Apparat offenkundig ständig
mit irgendwelchen Kompensationen oder Surrogaten laborieren und kämpfen; auch
darum kämpfen, dass diese Surrogate möglichst lange irgendwie ihren Dienst
versehen, nämlich als Surrogate, welche Unmerklichkeit zu produzieren haben,
die einen Gegenimperativ – „Du sollst nicht merken“ – aufzubauen haben, was
natürlich nicht klappt, wie man weiß, das ist offenkundig.
Die Wissenschaften haben also keine Richtkräfte
mehr, so kann man das vielleicht auch formulieren. Sie spüren sehr deutlich,
dass es von oben kommende signifikante Attraktoren
einer Höherausreizung kommender Richtkräfte nicht mehr gibt. Das ist ein
Schicksal, das sich merklich ausbreitet, und in das andere Dispositive
auf eine ähnliche krisishafte Art und Weise
einstimmen, die demnach auch verlegen darauf antworten müssen. Nun, sie sehen selber, dass sie diesbezüglich
sprachlos sind. Sie haben gleichzeitig keinerlei Möglichkeiten, die Dimension
der Gratifikation in Angriff zu nehmen, weil sie in dieser Art von
Hochaussetzung überhaupt laborieren. Sie stehen gleichzeitig unter dem Druck,
die durchgezogene, die in dieser Zivilisation vollends durchgebrochene Investokratie zu betreiben. Sie sehen sich genötigt, die
Wissenschaft pausenlos in einer Form von Investokratie
zu betreiben, - in einer Investokratie, wo die
investierten Mittel ja selbst neue ‚flache’ (!) Episteme
aufzureißen haben, was gleichzeitig
- im zweiten Gang der
Produktionstechniken - für die
Entwicklung, für die Produktion wie für die Verwertung, auch eine Investokratie
auslösen muss. Sie sehen selbst, dass sie dennoch diese Investokratie
gar nicht mehr unter einer evolutionären Rivalität stattfinden lassen können,
sondern dass diese offensichtlich stattfindet unter den Bedingungen einer Art
von doppeltem Opportunismus. Wenn man einmal von der doppelten Kontingenz
gehört hat, muss man nun sehen, dass die weit weniger interessant ist als diese
Form des doppelten Opportunismus, welche die Mentalitäten, die beteiligten
Köpfe usw. an sich selber produzieren müssen unter der Bedingung von Investokratie. Sie sind genötigt zu investieren, sie sind
auf der anderen Seite, eben weil es keine weiteren Ausreizungen mehr geben kann
und sie in der Endausreizung stehen, nur
noch fixierbar auf einen Opportunismus, der ins Flache geht, und der als Anhalt
dann nur noch den Rivalitätsopportunismus hat.
Das finde ich eine ganz interessante Wendung,
mittlerweile, die also dieser Posthistorisation in
den Mentationen, in diesem physischen Spitzenbereich,
auch entspricht. Und was man hinzufügen kann, ist, dass es von daher auch gar
keine Vektorfragen mehr gibt. Wenn es keine Richtkräfte mehr gibt, gibt es
keine Fragen mehr oder auch gar keine Versuche mehr der Ortung, der Verortung –
wie können die Vektoren ausgelegt werden, was haben wir zu erwarten, was können
wir den zivilisatorisch nachgeordneten Schichten der
Population sagen, was wir zu erwarten haben, wie schaffen wir dadurch auch
eigene Rechtfertigungen, etc. ? Die Legitimationskrisen liegen ja viel tiefer.
Entsprechend verschiebt sich der ganze Habitus von techne,
und das heißt sowohl Investitionstechnik, um Episteme
auszureißen, um Produkte auszureißen ins Flache, so dass für dieses Kaliber an
Spitzenforschung im Off, im Offenen, nun diese Situation eintritt, dass man das
betreiben muss, was ich die Trajektorie genannt habe,
also die dynamische Indifferenz. Alles muss in eine dynamische Permutation
gebracht werden, ohne dass irgendeine Form von Selektion im evolutiven
Sinne noch drin wäre, ohne dass
auch von daher noch irgendeine Versalität sich
zeigte, eine Richtungsmarkierung, auf
die man zeigen könnte. Das war ja für die Wissenschaftler der Moderne noch
einfach, die brauchten nur nach oben zu zeigen, und der gesamte, damals noch
intakte Gesellschaftskörper folgte dem nach.
Das ist ja interessant, dass es mittlerweile diesen
intakten Gesellschaftskörper auch nicht mehr gibt, und dass dieser Situation an
allen Ecken und Enden, in allen Daseinssituationen also, entsprechende
Diffusionszustände auch antworten bzw. korrespondieren.
BT: Aber man könnte - um nur auf die Beschreibung,
dessen was passiert, zurückzukommen - man könnte doch das alte, mittlerweile
uns alt vorkommende Schema der Evolutionsphaseneinteilung nehmen, also die
Variation, die Selektion und die Restabilisierung.
Und die Frage wäre, wenn das denn jetzt eine Kreisbewegung hat - diese Phasen,
dieses Zueinander-Verhältnis, ob wir gegenwärtig, wenn es denn an
Ausfransungsränder gekommen ist ( die Produktion, die Reproduktion, die
Synthesis, die Dynamis), ob wir momentan
so etwas miterleben wie den Übersprung von einer Variation ( für die Variation stand das Dispositiv Geschichte zur Verfügung) hinein in die
Selektion, der Selektion der evoluierten Variation
von Organisation des Sozialen. Wäre das eventuell eine noch wie auch immer
grobschlächtige Beschreibung, um einfach die Dringlichkeit festzumachen, dass
wir gerade innerhalb einer Selektion sind und nicht innerhalb einer
Variationsphase uns befinden...?
HPW: Sehe ich so gar nicht. Ich sehe das Aufkommen
von Evolutionstheorie, gerade in der Soziologie ( und
dafür steht natürlich der Name Luhmann, und die theoretische Topologie, die er
diesbezüglich aufgebaut hat ), - das
sehe ich eigentlich eher als einen Endpunkt. Das heißt, diese Theorie, das
Denken über die Evolution des Sozialen, taucht in dieser Schärfe überhaupt erst
auf, nachdem alles passiert ist diesbezüglich. Ich finde es interessant, daß die nachwachsenden Soziologen mittlerweile unter dem
Eindruck stehen, sie müssten, weil das jetzt gedacht worden ist, in die Zukunft
hinein so etwas erwarten können. Genau das passiert nicht, sondern das war
eigentlich ein Abschluss, da ist etwas zu sich gekommen, was sich als
Evolution, als zivilisatorische Evolution, im Evolutionsschema (... Steigerung,
Entwicklung) gerade abgeschlossen hat. Und das ist entsprechend virulent
geworden, - aus der Krisis der Orientierung heraus. Es ist ja genau eine
Reaktion darauf, dass in den Figuren der Soziologie, dass in den Köpfen der
Soziologen, welche ihre Schirme aufspannen und zu sondieren versuchen, „was
eigentlich passiert ist“, in dem
Augenblick überhaupt das Wissen erst zu sich kommt, das die ganze Zeit noch
unbemerkt unterwegs war; das hier und da mal angerissen worden ist in
Kulturtheorien, die allerdings primitiv waren, die meistens auf biologische
Evolution zurückgegriffen haben, also mit einer ontischen Kategorieverwirrung
bzw. im Verwischen der ontischen Differenzen, was nicht zulässig war. Das hat
man mittlerweile ja auch begriffen, dass das nicht geht, dass solche
biologistischen Kulturtheorien oder Zivilisationstheorien, die es früher mal
hier und da gegeben hat, nicht funktionieren. Von Nikolai von Hartmann zum Beispiel angefangen
bis - man kann fast sagen- zu Whitehead, bei
dem es in den Ansätzen auch da ist. Was die Denker selber nicht gesehen haben,
ist, dass Perfektion eingetreten war. Das Denken hat das aufgenommen, was die
ganze Zeit unterwegs war, in dem Augenblick, in dem es versucht hat, Ausschau
zu halten ob von dieser Ressource noch etwas nach vorne marschiert. Und man
kann das ja sehr schön sehen, denke ich, das ist sehr beredt in der Art von
Sprachlosigkeit bei Luhmann, was gerade
die Zukunftsperspektivierung betrifft, d.h. irgendein Hineinblickenwollen,
ein Prolongierenwollen dessen, was aus der
Zukunftserwartung irgendwie hereinstehen könnte. Da
ist nichts. Da herrscht nur noch die gleiche Sprachlosigkeit, die Einwilligung
in die Diffusion, die teilweise sogar
forcierte Einwilligung in eine Diffusion, indem man plötzlich die reine Oberfläche
erfindet. Das ist eine, wenn man so will, restideologische Lösung, eine
Hoffnungslösung, eine geradezu paradox-eschatologische
Hoffnungslösung, dass sich jetzt bitteschön die reine Ausdifferenzierung, die
funktionelle Ausdifferenzierung in der Horizontalen ergeben möge, weil man
sieht, das es eine Kraft, eine evolutionäre Kraft im Sinne des Historischen
nicht mehr gibt, - was ja Aufbruch war,
emanzipatorischer Aufbruch, um noch mal einen Aufriss zu starten, etwas
aufzureißen, eine andere, neue ontogenetische, ontopoetische
Mächtigkeit noch mal aufzureißen. Dass das nicht drin ist, das hat Luhmann auch
sehr klar gespürt, er hat es nicht explizit gesagt, aber ich glaube der
Denkgestus von ihm signalisiert die ganze Zeit: „Hier ist land’s
end“. Nun, wir sind hier wirklich im Off, und wir können es drehen und wenden,
wie wir wollen. Und die Gedankenführung über die Evolution des Sozialen, etwa
im Band „Gesellschaft der Gesellschaft“ und anderswo, ist eigentlich eine
abschließende. Hier kommt etwas zu sich, - so ähnlich wie damals bei Hegel.
Auch jetzt kommt ein Gestus zu sich, der sich gleichzeitig aber noch einbildet,
daß er sozusagen noch eine neue Form der Aufhebung
produzieren könnte. Und bei Luhmann ist die neue Form der Aufhebung die doch
recht schale Hoffnung, dass sich doch alles irgendwie friedliebend in der
Horizontalen ausbreitet, also rein als geschäftige Oberfläche. Auch da kann man sagen, um noch
mal darauf zurück zu kommen: das ist ein ganz virulentes Feld, in dem diese Art
von sozialkybernetischer Systemtheorie, als ein blow-up
des Denkens in Hochselektion, keine Antworten mehr hat, in dem es auch nichts
mehr sieht, so dass es sich dann bestenfalls in Wünsche hineinverlagert, in ein
einen kleinen Taumel gar hineinverlagert. Das hat wiederum etwas mit diesem
doppelten Opportunismus zu tun, den man immanent in sich eingebaut hat.
KreaturDenken als Abrüstung der
zivilisatorischen Mobilmachung [oder kulturales Denken als Akt
der In-Volution]
BT: Was macht jetzt das Kreaturdenken dem gegenüber
aus, respektive: was macht es an, wenn es nicht auf diese
Versiegelungstechniken, auf diese eigentümlichen schiefen Transformationen
bestehender, geschichtlich längst nicht mehr aktueller Beziehungsform
rekurriert. Was macht jetzt das KreaturDenken anders?
Was kann man dem KreaturDenken, das noch weiter
geklärt werden muss, jetzt vielleicht im Laufe des Gesprächs, was kann man dem
in die Schuhe schieben (in Anführungszeichen), was das KreaturDenken
davor bewahrt, genauso in ganz bestimmte Erschöpfungs- und Ausfransungs- bzw.
Verflachungsphasen zu geraten ?
HPW: Das KreaturDenken
ist ja nur ein modernisierter Terminus für die Daseinsanalyse, das muss ich in
Erinnerung bringen, die hat damit ein neues Etikett bekommen. Doch dieses in
einer etwas dramatischeren Art und Weise, weil nun genau in dieser Hochkrisis
die Eigenkreaturalität und die Krisishaftigkeit
der Kreaturalität wieder verstärkt ins Bewusstsein
getreten ist. Das heißt, in dieser Art von Hochaussetzung, in der man sich also
dreht und wendet, tritt diese Art von Selbstevidenz des Zurückgeworfenwerdens
auf sich selbst als einer doch recht
schwachen Kraft – und gar einer sehr stark passiv betonten Kraft, wieder viel
stärker in das Blickfeld. Und was das KreaturDenken
generell von diesen reinen kognitivistischen und klinisch-kognitivistischen Offensiven, diesen Sonden,
diesen Aufklärungsoffensiven, unterscheidet, ist, dass es wissentlich immer in Verbindung mit etwas
anderem sich ausformuliert; und dass es auch so wahrnimmt, dass Dinge, wenn sie
entstehen, immer in Verbindung mit etwas anderem entstehen. Diese Frage wird in
den Wissenschaften, und zwar generell in den Wissenschaften - auch schon in den vorherigen Evolutionsstadien der Wissenschaften -
tunlichst ausgeklammert, weil Wissenschaft zu betreiben nur dadurch geht, dass
man sich selbst isoliert, dass man sich abkapselt, abschottet, und sich
immunisiert gegen weiterlaufende Sachverhalte auch der eigenen Kreatur, in der
Selbstwahrnehmung der Eigenkreatur, die immer gleichlaufend mit in der offenen Frage
stehen müssten, bei ihren Prozeduren: in Verbindung womit betreibe ich das
eigentlich, Wissenschaft, in Verbindung mit welchen anderen Begehren betreibe
ich eigentlich Wissenschaft? Das wird immer ausgeklammert. Das heißt, dass die
Selbstwahrnehmung von wissenschaftlichen Denken immer
unter Isolation dieser Verbindungsfrage existiert. Kreaturaldenken
fragt immer: „in Verbindung womit“ prozediert z.B.
diese Episteme? Sie prozediert
in Verbindung mit ihrer Klinisierung und ihrer Abisolation
von anderen viablen Begehren, es werden andere
Begehren eskamotiert, diese werden sogar unterdrückt oder isoliert oder mit
spezifischen Isolationssystemen bestückt, und so weiter, damit sie überhaupt
als Ausbeutungsorgane fungieren können.
BT: Wäre das der elementare Unterschied zur Kunst?
HPW: Das ist der elementare Unterschied zwischen
dem Gestus der Abklärung und dem Gestus der Aufklärung. Dass die Abklärung
diese Fragen, „in Verbindung womit“ ein Unternehmen, ein Metier, ein Projekt,
ein Untersuchungsprojekt sich startet, sich erhebt, nicht eskamotiert wird, das ist das
Entscheidende. Als Abklärer stelle ich mir sofort die
Frage in Verbindung mit welchen mentalen Agencement
der Stimmung zum Beispiel startet also ein Wissensdispositiv.
Und ich verrate wahrscheinlich nichts Neues, dass man fast immer unterstellen
kann, dass es Stressoren sind, also in Verbindung mit Stressorenprogrammen
arbeitet dieses, startet es. „In Verbindung womit“ betreibe ich selbst als
Abklärungs-Model (als Organon, als Kreatur) diese Abklärung zum Beispiel auch.
Das ist etwas, was diametral entgegengesetzt ist: ich betreibe es in Verbindung
mit einen Begehren, das auf eine Chromatisierung, auf eine zauberische
Chromatisierung aus ist. D.h. ich will mich selbst unter Zauber setzen, das ist
das Begehren. Und ich kann fragen - das
habe ich gerade durchexerziert - „in
Verbindung womit“ startet zum Beispiel Kunst -
die moderne Kunst, die ja in einer ähnlichen Struktur steht. Womit
startet diese merkwürdige aufgelöste, in der Selbstauflösung stehende moderne
Kunst nach ihrem Ende, wenn sie nicht mehr in Verbindung mit dem Verlangen nach
der Graziestruktur gekoppelt ist ? Dann rutscht sie
zum Beispiel in etwas anderes hinein, was ich dann die Alkoholstruktur genannt
habe; also sie steht plötzlich in Verbindung mit einer Alkoholstruktur. Und ich
könnte jetzt auch fragen, „in Verbindung
womit“ ist die Systemtheorie entstanden, die sich ja aus verschiedenen Quellen
erhebt, welche zusammengeführt werden, wie so ein Strom, der verschiedene
Quellströme hat, die er dann plötzlich zusammenfügt wie der Amazonas, - aus
verschiedenen Kanälen genährt, und dann plötzlich tritt dieser Strom in Aktion,
und landet aber auch sofort, im Gegensatz zu den früheren Strömen, im Meer; er
entsteht als Meer, d.h. bereits als Endausreizung; er fließt gar nicht mehr.
Denn dann, wenn er entsteht, ist er schon in seiner Endauflösung, ist in dieses
Nichtmehr-Fließen, in dieses molare, in dieses
ausgeschwemmte Regime schon
eingeflossen, in dem er sich gar nicht mehr weiter bewegen kann (quasi als Negentropie). Dann beginnt er natürlich, da er als paranomischer Strom, als Attraktivität, als Agencement dennoch auch in einer Verbindung steht, in
Verbindung mit etwas anderem; er setzt
sich nun mit etwas anderem zusammen. Und da bleibt ihm im Grunde genommen die
einzige Chance übrig, die in diesem Augenblick solchen Dispositiven
überhaupt übrig bleibt, - als da ist:
die dynamische Permutation, ergo: dynamische In-Differenz. Ihm bleibt, dieses Orthogroteske
betreiben zu wollen, und dafür, in dieser Form der Endausreizung, alles
aufbieten zu wollen, als ein perpetuum
mobile der Endausreizung, bei dem vorab nicht klar ist, welches Schicksal
es erleiden wird, ob es dermaßen an sein
Ende kommt, wo es gar kein Stressorpotential mehr aufbringen kann und sich dann
in etwas anderes verwandeln muss, in Zerstörung; oder möglicherweise dann, wenn
es glücklich enden würde, in eine Umkehrung, eine Kehre, in eine Wendung zu
einer Kulturisation; so dass diese Potentiale, die
man nuklear ausgerissen hat - und das
sind die raffiniertesten Potentiale der Kreaturalien überhaupt, die man an uns auch detektieren
kann, die pharmazeutischen - zum
Beispiel re-kultivierend eingesetzt werden, - einfach weil man abgewirtschaftet ist,
aufgrund der Ermüdung.
BT: Um noch mal
auf die Systemtheorie zu sprechen kommen: Wenn man das wieder ganz
einfach zu korrelieren versucht: die Systemtheorie, zumindest in der
Luhmann’schen Fassung, sagt, wenn sie Systeme unterstellt, fast doch eigentlich
nur: es gibt Information, das heißt die Systemtheorie fußt, auch
wissenschaftshistorisch, stark auf den Arbeiten Wieners, auf der Entdeckung der
kybernetischen, oder kybernetisch zu beschreibenden nachrichtentechnischen
Information. Das wäre jetzt die Frage, in wie weit KreaturDenken
selbst in diesem Letzten des Triumvirats von ‚Energie, Materie und Information’
auch ein Ende oder ein Erschöpfen wahrnimmt, und dann eine andere Leerstelle,
eine andere Größe denn Information, denn Materie, denn Energie für sich
aufbieten muss, oder avisiert, oder konfiguriert.
HPW: Das ist, glaube ich auch, aus der Geschichte
der Daseinsanalyse schon sehr
ersichtlich, dass sie immer mit einer ganz anderen Ontologie gearbeitet hat,
dass sie also nie den positivistischen Zuschreibungen dieser Größen verfallen
ist, und dass es auch ganz andere Kosmologien gibt. Das ist überhaupt ein
Hauptimpetus von abklärendem Denken, dass es sofort kosmologisierend wird, dass
es über Kreativität nachdenkt, weil es sich selbst immer als eine Kreatur unter
Kreaturen entdeckt. Es merkt, es
versucht, sich Auskunft darüber zu geben, in welcher Art von Verfassung es
selbst in dieser Welt ist, und wie die es Umgebenden es durchziehen mit
Verfassung, wie diese demnach organisiert sind. Es ist per se immer ein kosmisierendes Denken gewesen, das diese Kreativitätsfragen
gestellt hat, aber nicht um Kreativität zu steigern, sondern um sich wieder
einzumendeln, um sich zu ökologisieren innerhalb des Stroms von Kreaturalien. Die wirklich dezidierte, explizite
Ökologisierung ist die Ökologisierung der eigenen Mentation,
und nicht die sekundäre, die immer nach außen gerichtet ist und die immer
verobjektiviert, ohne den Urheber der Des-Ökologisierung irgendwie haftbar zu
machen und dann in bestimmter Weise kultivieren zu wollen. Und das ist die Mentalität selbst, also der Intellekt, der humane
psychische Apparat, der kognitive Apparat, wie auch immer...
Es ist klar, dass die Einsichten in die Entitäten
der Welt, die einen durchziehen, und in die man involviert ist, in die man
vermendelt ist, - auch nicht unter Isolation, sondern die einen auf sehr
subtile Weise irgendwie alle durchziehen, und an denen man auf den
verschiedenen Ebenen auch in einer gewissen Weise Teil hat, dass diese
Einsichten selbstverständlich ganz anders ausfallen als die positivistischen;
obwohl man sich teilweise bei diesen bedienen kann, in Annäherung an
etabliertes positives Wissen, an diese mittlerweile hochorganisierten
Epistemen auf genetischem, generativem Niveau, weil
die sich auch nähern. Das heißt, je höher die Auflösung betrieben wird, desto
mehr nähert man sich gegenseitig, desto intensiver wird auch das Kippen, das
Kippen des Positivismus, der in seiner Hochauflösung plötzlich denselben Fragen
gegenübersteht. Dieser wird ja plötzlich dann, wenn ihm alle Stoffe ausgehen,
die er für Stoffe hält, auf die reinen Kreativitäten gestoßen. Und das
Entscheidende, da muss ich noch mal auf die Formulierung von vorhin
zurückkommen, das Entscheidende ist, dass Daseinsanalyse, dass KreaturDenken immer eine Größe „Kraft“ ins Spiel bringt, und ‚Kraft’ heißt „Zusammengesetzt-Sein“.
Deshalb immer die Frage: „was funktioniert in Verbindung womit“, wer oder was
existiert mit wem oder was? Es ist eher witzig und interessant, dass
ausgerechnet die Systemtheorie als moderner Hort des Komplexitätsdenkens diese
Art von Komplexität, diese Frage, gar nicht an sich ranlässt. Das hieße, sich
selbst befragen: „was bin ich für ein Komplex“, und das heißt genau: „in
Verbindung womit funktioniere ich überhaupt“. Das wäre die erste Frage zum
Übertritt in eine Abklärung, in Selbstwahrnehmung, in die Selbstwahrnehmung
also auch jener Kräfte, die unterwegs sind, die einen schicken, sozusagen
evolutionär oder nur noch ‚flach’, um sein Spiel überhaupt zu spielen, das man
hier spielt.
[ BT: Wir
müssen darauf gleich wieder kommen.
/ Ende Teil 1. ]