Die Funktionslosigkeit
von Luhmanns Tod
Nachrufen
entlang hervorgerufener eigenartiger Sätze
Bernd Ternes
Niklas Luhmann ist
also tot. Am 6. November 98 hörte er auf zu sterben, vorausgesetzt, man
versteht das Sterben als ein Teil des Lebens, das eben ineins
mit dem Tod zu einem Ende kommt. In den großen Massenmedien konnte man davon
nicht Notiz nehmen; dort wurde eher der Geburtstag eines anderen Großmeisters
der Ironie, Viktor von Bülow alias Loriot, gefeiert. In den Feuilletons der bildungsbürgerlichen
Zeitungen hingegen, allen voran in der "taz",
nahm man Abschied von dem "Großmeister der Theorie", vom "wohl
bedeutendsten modernen Gesellschaftstheoretiker" der Bundesrepublik. Aber
von was nahm man Abschied?
Wendet man
bestimmte Grundannahmen der Luhmannschen Theorie auf ihn selbst an, dann weiß
man nicht mehr so genau, was durch den Tod des biologischen und psychischen
Systems namens Luhmann eigentlich passiert ist. Denn einerseits ist der Tod, so
sagt es einer der maßgebenden theoretischen Ausstatter Luhmanns, Humberto R. Maturana, der Zerfall der Autopoiesis;
andererseits hat der Tod für die Autopoiesis
keinerlei Funktion. Er hätte eine, wenn man davon ausginge, daß die ewige Selbstproduktion
eines Systems Teil der Operationen des Systems sei. Das mag für Christen, Reinkarnationsgläubige
oder sonstige religiöse Menschen so sein; für die Theorie der Autopoiese und also auch für Luhmann sicherlich nicht. Für
diese hat das Leben keinen Zweck, auch die Geschichte der lebenden Systeme
verläuft ohne Zweck. Sie geschieht, so Maturana. Und
der Tod? "Das Ereignis Tod tritt einfach ein". Mehr nicht.
Von Hermann Pfütze
ist ein Ausspruch Luhmanns (wohl Mitte der 80er Jahre) überliefert, der, bei
aller Kryptik, vielleicht jetzt erst mehr Aufschluß
zu geben vermag. Der Ausspruch betraf ein Element des "Essenzenkosmos"
seiner Theorie und zugleich die Bedingungen zur Ermöglichung der Selbstproduktion
seiner Theorie überhaupt. Luhmann also (nach Pfütze): "Wenn die differenzlose
Einheit, die ich in den Sinnbegriff einbetoniert habe, erreicht ist, ist es
zuende". Was ist zuende: Der Akt des Einbetonierens? Die differenzlose
Einheit? Der Sinnbegriff? Gar der Sinn? Und: Wer oder was erreicht überhaupt
die einbetonierte differenzlose Einheit im Sinnbegriff? Und was bedeutet
erreichen: Beobachten können, anfassen, verzehren, Horizontende?
– Die differenzlose Einheit im Sinnbegriff: das ist das Leben. Nicht das
lebensphilosophisch verstandene Leben, sondern das Leben als Begriff für
Kreation. Die Kreativität, die Selbstproduktion der Theorie Luhmanns hat intern
überhaupt keine Möglichkeit, mit sich aufzuhören. Sie hat theorietechnisch die
Möglichkeit eines letzten Moments, eines letzten Ereignisses, einer letzten
Operation innerhalb des Systems eliminiert. Der soziale Sinnbegriff ist und bleibt
also heteronom im Abschluß, wenngleich autonom im Anschluß. Plausibilisierung
von Anschlußautonomie: darin steckte Luhmann enorme Anstrengungen. Systeme
werden nicht mehr, grob gesprochen, geboren; sie generieren sich selbst. Das
Sterben/ Lebenaufhören jedoch bleibt fürs System uneinholbar.
Es gibt keinen Selbstmord autopoietischer Systeme,
zumindest noch nicht. Und, viel gravierender vielleicht: Es gibt keinen
Selbstmord des Sinns. Was man tun kann, ist also entweder auf den Eintritt des
Todes warten (das berühmte Sein zum Tode), oder aber so tun, als lebe das Leben
für sich (Autopoiesis). Luhmann wußte um beides,
entschied sich für letzteres. Wurde er aber von ersterem getrieben?
Vielleicht
ja. Seinem Buch "Die Gesellschaft der Gesellschaft" steht ein Satz Spinozas voran ('Ethik', Teil I, Axiom 2), der da lautet:
"Das, was durch ein anderes nicht aufgefasst
werden kann, muß durch sich selbst aufgefasst
werden". Ersichtlich geht es hier nicht um eine Form der Selbstauffassung,
des Selbstbewußtseins, der Selbstreflexion, nicht um eine Form des Vor-sich-Kommens, denn dann müßte es heißen: "...muß
sich durch sich selbst auffassen". Es geht hier um die Vorstellung, daß
die Systeme, die aufgefaßt werden, ihre Wirklichkeit durch ihr eigenes Wirken
erwirken; daß sie den Hintergrund, vor dem sie Figur sind, ebenfalls stellen;
daß die Ursache, auf die sie die Folge sind, ebenfalls sind; daß sie die Frage,
auf die sie Antwort sind, ebenfalls gestellt haben. Luhmann wollte die Welt in
solchen Begriffen, die sich nicht mehr von der Realität düpieren lassen, wollte
den Begriff stärker machen als seinen Gegenstand. Der Preis, den solcherart
theoretisch designte Systeme, die sich selbst
"leben", zu zahlen haben, ist der, daß sie nicht mehr vor sich
kommen, aber jederzeit sich vorkommen können. Bei Whitehead,
dem eigentlichen philosophischen Vorsprecher Luhmanns, heißt das so: "Ein
Einzelwesen ist wirklich, wenn es für sich selbst Bedeutung hat. Daraus folgt,
daß ein wirkliches Einzelwesen mit Bezug auf seine eigene Bestimmung wirkt.
Daher vereinigt ein wirkliches Einzelwesen Identität und Verschiedenheit in
sich" (Prozeß und Realität, p69).
Das Luhmannsche
Einzelwesen ist bekanntlich das Ereignis, das die Einheit der Identität und Verschiedenheit
seiner selbst nur paradox erstellt durch sowohl die Unterscheidung zwischen bezeichnen
und unterscheiden, als auch durch die Unterscheidung zwischen dem Ereignis als
operierende Operation und beobachtende Operation. Luhmannsche Einzelwesen sind
also in der Zeit, besser: in der Temporalisierung wirklich wirkende
Einzelwesen. Gäbe es also nur die Dimension der Zeit, dann gäbe es keinen Tod.
Der Tod ist eine Eigenschaft des Raumes, auch noch des Beobachterraumes. Ranulph Glanville beschreibt, wie
dort der Tod aussieht: "Jedes Objekt ist ein Selbstbeobachter. Einige
Objekte beobachten andere Objekte. Einige Objekte werden von anderen Objekten
beobachtet. Jedoch kann ein Objekt ein Kein-anderes-Objekt-Beobachtendes
und Von-keinem-anderen-Objekt-Beobachtetes sein.
Solch ein Objekt bewohnt das Universum anderen unbekannt. Es weiß nicht, daß es
das Universum bewohnt, noch weiß das Universum, daß es ein Bewohner ist".
Dieses Ereignis,
nämlich zugleich ein Kein-anderes-Objekt-Beobachtendes
und Von-keinem-anderen-Objekt-Beobachtetes zu sein
(eine etwas zu genaue Umschreibung des Todes), gibt es in der Theorie Luhmanns
nicht. Es kann es auch nicht geben. Es ist unmöglich. Aber gerade diese
Unmöglichkeit scheint der master-Grund zu sein für
die Luhmannsche Konstruktion der Kommunikationsgesellschaft.
Wenn es tatsächlich Luhmanns Begehr ist, Gesellschaftstheorie jenseits
anthropologischer und humanistischer Interpretationsverknüpfungstraditionen so
zu bauen, daß ausschließlich in der Sozialität von Sozialsystemen (d.i. in der
Kommunikation) Aussagen fundamentiert und ableitbar sind, wobei diese Aussagen
über soziale Systeme dann auf Operationsmodi und formale Organisationsprinzipien
stoßen, die ihrerseits wiederum nichts Genuines über das soziale System aussagen
können, sondern transgesellschaftlich
"wirken" - in der Zelle ebenso wie im psychischen System, im Gehirn
wie in der Kommunikation, im Immunsystem wie in der Liebe -; wenn also seine
Soziologie (im Bereich der Erkenntnis- resp. der Erkennenstheorie) nur die
Aufgabe zu erfüllen hat, die Quine'sche
'naturalisierte Epistemologie' um die Abteilung Soziologie zu komplettieren:
warum hält Luhmann dann Sinn fest als einen Begriff, der nun tatsächlich sich
jeder Vernaturwissenschaftlichung, jeder
Metabiologisierung entzieht? Ist er das, was die a-historische Autopoiesis-Systematizität im Bereich Sozialität an Geschichtlichkeit
erlaubt, um die notwendigen Bedingungen zur Erfüllung der geschichtslosen Autopoiesis zu reproduzieren? - Nur "Subjekte"
benötigen "Geist", so Luhmann abfällig. Aber warum benötigt
sozialgesellschaftliche Kommunikation Sinn? (Näher an Vermutungen gebaut könnte
der Gedanke nicht ganz abwegig sein, daß für Luhmann sinnbasierte und
-vermittelnde Kommunikation, die auch er mit seiner Theorie betreibt, ihrerseits
bloß den Status einer etwas rohen Komplexitätsreduktion inne hat; denn sein
Adressat, d.h. der Adressat seiner Theorie, sind die semantischen,
symbolischen, sozialen und technischen Maschinen, die Komplexität reduzieren,
produzieren und verwalten. Diese Maschinen aber brauchen für sich keinen Sinn,
um für Menschen Sinn zu machen: denn sie verhalten sich nur, handeln aber
nicht; sie funktionieren nur, oder sie funktionieren nicht. Sie sind schon
längst "am Ende", also da, wo die differenzlose Einheit, die im
Sinnbegriff einbetoniert wurde, erreicht ist. Nur wissen die kybernetischen
Maschinen nichts davon. Und das brauchen sie auch nicht in Bezug auf Handlung;
denn Handlungen sind, verallgemeinert, nur Formen der
Selbstbeschreibung von Kommunikationssystemen und also "systemrelative
autonome Erfindungen. [...] Es handelt sich immer nur um eine
Selbstsimplifikation im jeweiligen System" (Luhmann). Luhmann liefert
Maschinen mit seiner Theorie das Zertifikat nach, daß sie die eigentliche
Avantgarde aller Nichttoten, daß sie die eigentliche Formobjektivation dessen sind, was Lebendigkeit für sich
beansprucht. Aber leider wird er nur von Menschen gelesen, die lesen, daß er
sie nicht meint. - Vielleicht ist es aber auch möglich, daß meine Sichtweise borniert
ist und eines Tages jemand mit gleicher Plausibilität über Luhmann das
schreibt, was Adorno über Hegel schrieb: "Der seines Idealismus wegen gegenüber
der Konkretion der phänomenologischen, anthropologischen
und ontologischen Schulen abstrakt gescholtene Hegel hat unendlich viel mehr an
Konkretem in den philosophischen Gedanken hineingezogen als jene Richtungen,
und zwar nicht, weil Realitätssinn und geschichtlicher Blick seiner
spekulativen Phantasie die Waage gehalten hätten, sondern kraft des Ansatzes
seiner Philosophie - man könnte sagen, wegen des Erfahrungscharakters der
Spekulation selber".)
Luhmann ist also tot. Die Kommunikation
über seine Texte, seine Gedanken und seine Theorie noch lange nicht. Peter
Fuchs, der wohl originellste Epigone Luhmanns, verwies in seinem letzten Buch,
eingepackt in einer Fußnote, darauf, daß mit Luhmanns Werk, vorallem
mit seinem "Die Gesellschaft der Gesellschaft"-Buch,
doch noch etwas vorhanden sei, was nach gut 20 Jahren der dritten Postmoderne
nicht mehr für möglich gehalten wird, nämlich: Eine große Erzählung.
In dieser Erzählung kommt der Tod Luhmanns nicht vor. Der Tod Luhmanns
bleibt Umwelt des Systems "Luhmann".
Ein Trost, der auch nicht weiterhilft.