Anmerkungen zur Phantasma-Forschung

Bernd Ternes

 

 

 

 

1)

Im Roman "Outsider in Amsterdam" von Janwillem van de Wetering[1] erzählt van Meteren von einem Papua, dem er einen Spiegel gab, folgendes: "[...] Er sah in den Spiegel und mußte lachen. Ich fragte ihn, warum er lache. Er sagte, er habe einen Spaßvogel gesehen, der im Wasser wohne." - "Was geschieht, wenn man von einer Gruppe von Papuas ein Foto macht und es ihnen zeigt?", fragte de Gier. Van Meteren lächelte. "Du hast es verstanden, wie? Wem man das Foto auch zeigt, er wird immer alle seine Freunde erkennen." - "Bis auf einen Mann", sagte de Gier, "auf dem Foto steht immer einer, der ihm fremd ist."

Die erkenntnistheoretische und ethische Utopie, die van de Wetering hier gleichsam ethnologisch versteckt, ist zu gleichen Teilen anziehend und unmöglich. Nicht nur wäre auf der Ebene des einzelnen Papua-Menschen heruntergebrochen und vom Sollens- in den Könnens-Modus verschoben, was sonst die jüdisch-christliche Tradition nur Gott andiente: von ihm kein Bild zu machen. Auch wäre ein essentielles christliches Gebot, nämlich den nächsten Menschen resp. die eigenen Feinde so zu lieben wie sich selbst, eigenartig verquert: Der Papua erkennt seinen Nächsten nicht als Derivat seiner Selbsterkenntnis; er liebt ihn vielmehr, so könnte man zuspitzen, weil er sich selbst nicht erkennt. Die Fremdheit, die er gegenüber seinem eigenen Bild entwickelt, hat nichts zu tun mit einer Selbstfremdheit als Effekt eines Traumas, nicht geliebt worden zu sein. Daß er sich auf dem Bild nicht erkennt und auch nicht erkennt, daß er derjenige sein könnte, den er nicht kennt (im Gegensatz zu den Freunden); daß also überhaupt keine Frage aufkommt derart, wo "Ich " ist inmitten anderer "Dus": für moderne Menschen ein Traum, von dem der operative Konstruktivismus in Gestalt seiner Beobachtungstheorie noch einen Hauch erahnen läßt.

Sich nicht medial wiederzuerkennen, dabei gleichzeitig eine Art Autoxenophilie zu entwickeln und sich seiner nächsten Menschen gewiß sein: wie gesagt eine anziehende und unmögliche Utopie, von einer historischen Sozialistionsformation aus betrachtet, in der das Gegenübersein von Subjekt und Objekt immer noch maßgebend Einfluß hat auf unser soziales, psychisches und semantisches Inbeziehungssetzungsgebahren. Spannender ist daher vielleicht eine weitere Dimension an der obigen Szene, in der einer Gruppe von Papuas das von ihnen gemachte Photo gezeigt wird, nämlich die Dimension einer ungewollten Komplexierung der Fragen nach der Wirklichkeitsbeziehung zwischen medialer und erlebter Welt und nach dem Status von sichtbarer und unsichtbarer Welt. Angenommen, es sind vier Papuas auf dem Bild, und diese vier Papuas haben das Bild vor Augen, und man selbst steht dabei und fragt, was auf dem Bild zu sehen ist. Die Antwort darauf müßte zusammengefaßt lauten: Jeder hat alle anderen gesehen, keiner hat sich gesehen. Ginge man vom atomistischen Prinzip aus, wäre die Antwort: Auf dem Bild ist niemand zu sehen. Ginge man vom holistischen Prinzip aus, wäre die Antwort: Auf dem Bild ist das Ganze zu sehen, das Ganze als "Mehr" denn seine Einzelteile. Die Stelle, von der aus das "Mehr" des Ganzen zu sehen ist, ist nicht auf dem Bild zu sehen; das ganze Bild ergibt sich erst aus dem Ensemble der sich nicht erkennenden jeweiligen anderen, die die anderen erkennen. D.h.: das ganze Bild existiert allenfalls für einen Beobachter als ein ganzes Bild; für die Im-Bilde-Seienden existiert kein ganzes Bild. Was hat dann aber das Bild der vier Papuas mit ebendiesen das Bild betrachtenden Papuas zu tun?

Man kennt diese nicht sehr neue Art der Frage aus vielen Zusammenhängen, etwa dem zwischen Subjektivität und Dialogizität. Der Punkt des Staunens bei der sprachlich vermittelten Interaktion ist, daß die Du-Subjektivität kein eigenes (personales, sprechpragmatisches, strukturales) Aggregat zur Verfügung hat; sage ich 'Du', erfährt der so Angesprochene dies Du als 'sein' Ich (er mag etwa denken: "Ich bin jetzt Du für Dich"), wobei er das seinem Ich zugesprochene Du zugleich nur auf sein Ich beziehen kann, wenn er den ihn Ansprechenden gleichsam als Du erfährt. Und umgekehrt: Sagt ein anderer "Du" zu mir, so ist es das erst dadurch mein Ich werdende Ich, das dieses Du erfährt, wenngleich es als Ich dies Du nur erfahren kann, wenn es sich (als Ich) nicht als Ich, sondern als Du beim anderen aufgehoben wähnt (ein System bezieht sich auf sich selbst als ein wesentlich auf ein anderes System bezogenes System und retour). Kurzum: "Ich" als subjektive Subjektivität ist nur dann ebendies "Ich", wenn es von einem anderen "Ich" als objektive Subjektivität anerkannt wird, für das (als "Ich") dasselbe gilt. Die jeweils stattfindenden 'Iche' besitzen eine - um es neutral zu sagen - eigenartige kommunikationelle Ontizität; sie sind eigentlich nicht vorhanden bei den Subjekten, sondern eher Attribute der sprachlichen Kommunikation. Sie werden erst erzeugt durch ein sprachliches Sichaufeinanderbeziehen, das seinerseits diese 'Iche' vorauswirft, um das Beziehen in der Wirklichkeitsdimension "Interaktion" und nicht in der der "Imagination" stattfinden zu lassen. Zirkuläre Unfähigkeit zur Selbstbestimmung ist daher sozialen Situationen inhärent, vorerst zumindest, bis die Blase der doppelten Kontingenz aufplatzt und Systembildungsbedingungen endlos herauslaufen. Die Hegelsche Aufteilung der totalen Reflexion - Reflexion-in-anderes, Reflexion-in-sich, Reflexion-in-sich der Reflexion-in-sich-und-anderes - bedarf einer weiteren Teilung, nämlich eine Reflexion des Reflektiert-werdens im anderen. Es läuft also auf die unmögliche Form des Für-mich-für-andere-sein-Seins hinaus, die, konnotiert man Bedürfnisbefriedigung (Für-mich-sein) und Begehrerfüllung (Sein-für-andere) mit ihr, auf eine unüberwindliche Differenz verweist. Und eben die hält die Sprache auf (hier im wirklich doppelten Sinne). – Man könnte sagen, daß die Fragen nach der Wirklichkeitsbeziehung zwischen medialer und erlebter Welt und nach dem Status von sichtbarer und unsichtbarer Welt (besser: dem Status von ausgesagter Welt, Welt der Aussage und Weltaussage) im Bereich der Sprache und des Sprechens durch die formalpragmatische Sprachphilosophie von Peirce bis Habermas, durch die Zeichentheorie Saussures, durch die philosophischen Untersuchungen Wittgensteins, durch die Erkenntnistheoriekritik Rortys und durch die Beobachtungstheorien Maturanas und Luhmanns ausreichend aufgegriffen, komplexiert und kondensiert wurden, so daß jedes weitere 'Kritikunternehmen', das an andere Beziehungs- und Verhältnisfelder ansetzt, etwa dem Verhältnis zwischen medial und interaktional vermittelter/ sozialisierter Wahrnehmung, sich der dort erarbeiteten Methoden und Rahmensetzungen bedienen könne.

 

 

2)

Phantasma-Forschung könnte da weitergehen, wo die Kritik an dem erkenntnistheoretischen Bild des Spiegels und also der Repräsentation aufhört. Diese Art Kritik könnte man bei Luhmann zu sich kommen sehen, der beschreibt, wie stark die Bildung von Bildern (Spiegelbildern) für die Bestimmung der Bestimmbarkeit einer (Sozial-)Beziehung an Potenz verloren hat[2]:

 

"Vor allem müssen wir uns von der traditionellen Behandlungsweise ablösen, die das Problem der doppelten Kontingenz (auch wenn sie es nicht so nannte) mit Begriffen wie "Wechselwirkung", "Spiegelung", "Reziprozität der Perspektiven" oder gar Reziprozität der Leistungen zu lösen suchte. Die gesuchte Einheit [generell: von Subjekt und Objekt; B.T.] wurde damit in einer Art symmetrischer Verklammerung des Verschiedenen gesehen. Das Soziale wurde dementsprechend als Beziehung zwischen Individuen gedacht, und dabei hatte man mitzudenken, daß die Individuen nicht entfallen können, ohne daß die Beziehung entfällt. Diese Vorstellung ist langsam und fast unmerklich inadäquat geworden, und zwar dadurch, daß die Eigenselektivität der Perspektiven und die Unerfaßbarkeit des Gegenübers mehr und mehr betont werden. Letztlich zerbricht jedes Symmetriemodell dieser Art am Problem der Komplexität und der notwendig-selektiven Komplexitätsreduktion, die jeweils systemintern-selbstreferentiell gesteuert wird.

Spricht man von Spiegelung, dann mag man in gewissem Umfange noch einrechnen, daß die Spiegel, die sich wechselseitig spiegeln, vergrößern oder verkleinern oder sonstwie verzerren, eine "subjektive" Komponente mit ins Spiel bringen. Die Metapher wird jedoch in dem Maße inadäquat, als die selbstbezügliche Selektion zunimmt; und sie wird vor allem dann inadäquat, wenn man bedenkt, daß der Zerrspiegel die Verzerrung des anderen Spiegels nicht miterfaßt. Das heißt: wenn man diese Metapher auf die Ebene der Beziehung zwischen selbstreferentiell operierenden Systemen übernimmt, dann löst sie sich auf. Die Spiegel zerbrechen. (...) Kurz: es wird fragwürdig, wie man überhaupt noch die Einheit einer Beziehung denken kann, die eine Mehrheit selbstreferentieller Systeme liiert. Die Beziehung wird selbst zur Reduktion von Komplexität. Das aber heißt: sie muß als emergentes System begriffen werden. (...) Soziale Systeme entstehen... dadurch (und nur dadurch), daß beide Partner doppelte Kontingenz erfahren und daß die Unbestimmbarkeit einer solchen Situation für beide Partner jeder Aktivität, die dann stattfindet, strukturbildende Bedeutung gibt. Das ist mit dem Grundbegriff der Handlung nicht zu fassen."

 

Trotz der strikt anti-emanativen, also emergenten Grundierung der System- und Einheitsbildung miteinander sich verhaltender "Systeme" bleibt diese Sichtweise (bezogen auf die Trinität der sozialen, objektiven und subjektiven Welt) metaphorisch beschreibbar mit dem Bild von zwei sich frontal spiegelnden One-side-windows, hinter denen sich jeweils das System verschanzt und im Sich-im-Spiegel-des-anderen-nicht-Spiegeln zu beobachten sucht, wie das andere System, das sich im gegenüberstehenden Spiegel nicht spiegelt, zu beobachten sucht, wie es beobachtet wird (und retour).

Dem Stand dieser Einsicht, also der Einsicht in die Unmöglichkeit von Einheitsbildung im Modus der Abbilderkenntnis, korrespondiert eine neue Paradoxiefreundlichkeit der wissenschaftlichen und philosophischen Versuche, den Dingen auf den nicht mehr vorhandenen Grund zu gehen. Das philosophische "nichts" bzw. die reflexionstheoretische "Leere", der beobachtungstheoretische "blinde Fleck", das psychoanalytische "Reale", die neurophilosophische "indifferente Codierung", das kunsthistorische "Unsichtbare": All diese Namen paraphrasieren etwas, was zwischen Absenz, Undarstellbarkeit und Nichtexistenz mit Macht die Erfahrungen des Bewußtseins und des Lebens durchherrscht und schmerzt, wenn nicht tötet.

Luhmann empfiehlt, die Paradoxien, die sich am Ende einer langen Selbstreflexion von Erkenntnis und Abstraktion als die zeitgemäßen Gestalten der Gorgonen herausstellen, nicht anzuschauen, sondern vielmehr die zu beobachten, die ihre Beobachtung danach orientieren, Stheno nicht zu Gesicht zu bekommen; er empfiehlt also eine negative Paradoxologie bzw. Beobachtungstheorie. Die Psychoanalyse Lacans, sieht man von manchen Unterschieden ab, betreibt mit einer Art negativen Retextemologie etwas Gleichsinniges.

 

 

3)

Eine den Phantasmen nachforschende Sthenographie geht hier – vielleicht mit Slavoj Zizek zusammen – einen Schritt weiter. Sie geht von der Einsicht aus, daß das sich nun langsam durchsetzende Erkennen der Unmöglichkeit eines ewigen, neutralen, logischen Kommensurationsvokabulars (R. Rorty), einer Vereinheitlichung und einer Vergleichbarkeitsgeschlossenheit im sozialen, symbolischen und geographischen Raum, daß dieses Erkennen also auch schon als historisch überholt zu gelten hat. Denn: So wie es als historisch bedingt anzusehen ist, daß sich die abendländische Kultur in ihren Zivilisationsschüben und Logifizierungen Paradoxieaversion nur deswegen erlauben konnte, weil sich untergründig ("sub-jektiv", unbewußt, "dialektisch") bereits die historische Entwicklung der Paradoxiefreundlichkeit, ja Paradoxieabhängigkeit als zukünftige Gegenwart Gestalt gab, so kann sich die gegenwärtige Gesellschaft auch nur deshalb positiv werdende Paradoxien im Denken, im Leben und in der sozialen Vermittlung erlauben, weil sich gleichsam die historische Entwicklung auf anderen, gesellschaftsinoffiziellen Terrains in die Zukunft abgesetzt hat, und zwar strikt antiparadoxal, also tautologisch. Die Pointe also ist, daß die Promotion oder Freigabe des Paradoxalen, des Heterogenen, des Differenten, des Grund- und Einheitslosen "harmlos" bleibt, eben weil sich, und das ist der Punkt, nun "obergründig" im Imaginären eine totale Tautologie, also eine rigorose Immanenz vorbereitet. Man könnte fast sagen, hier wiederhole sich Geschichte in anderen Registern; könnte sagen, daß die "erste" Logifizierung und Abstraktifizierung (Symbolisierung), die sich noch auf Raum, Sozialraum und Symbolik bezog, in die falschen Dimensionen von Welt hineingriff, durch das Reale (das Nichtsignifizierbare, das Unsichtbare, das Paradoxe) aber uno actu "korrigiert" wurde, und nun, in der eigentlichen agonalen Bipolarität, Reales vs. Imaginäres, auch die eigentliche Dimension von Welt trifft, in der Abstraktion zu sich kommt und aufhört, untergründig historisch zu sein: nämlich die Dimension des Imaginären. Diese Dimension ist "obergründig" oder paragrundhaft, weil sie fortgeschrittener selbstreferentiell ist als alle bisherigen historischen Weltan- und Weltenteignungsmittel. Sie hat kein Unsichtbares, kein Nichtdarstellbares, kein Illusorisches (Baudrillard) mehr nötig, eben weil bei ihrem Gesellschaftlichwerden nicht wie sonst eine zukünftige Gegenwart unterströmig gestartet wird. Mit dem Totalwerden der Imagination wechselt die Art des Wechselns und Transformierens von historischen, sozialen und psychischen Wirklichkeiten. Es gibt nichts mehr, auf das man zurückgreifen kann, dessen Eigenart es ist, sich des Zugriffs zu entziehen. Die Wirklichkeit der Welt im Imaginären ist, was sie ist. Sie holt damit auf und ein, was sonst nur der Natur unterstellt wurde, nämlich das zu sein, was sie ist. Wenn Wolfgang Ernst schreibt: "Tarnung, Unsichtbarkeit als Garant machtvollster Wirkung ist die Signatur der Infrastruktur der Moderne. Die historisch progressive Unsichtbarwerdung von Infrastruktur (..) ist einerseits analog zu Jacques Lacans Differenzierung von Realem, Symbolischen und Imaginären analysierbar; andererseits als das, was sich dem klassischen Medium der historischen Beschreibung (...) entzieht"[3]; und die hier verfolgte Sthenographie darüberhinausgehend annimmt, daß sich das Invisible und Invisibilisierte der sozio-psycho-kulturellen Welt nun mit Gewalt versichtbart, und zwar im kannibalisch gewordenen Imaginären[4], und daß damit die gegenwärtige technologische/ mathematische/ informatische Grundfassung von Welt, nämlich an/aus, 1/0, Präsenz/Absenz, materialimmateriell konterkariert wird, ohne daß es dafür noch einen Ausweichuntergrund gibt, eine unsichtbare Unsichtbarkeit, eine unbewußte Unbewußtheit, ein reales Reales usw.: dann steht die Form szientistischer Erkenntnis, überhaupt die Form der Wissensproduktion vor einer kaum zu überblickenden Reformulierung. Denn, um die These zu wiederholen, die große Wirklichkeitsdimension und historisch so erfolgreiche Phase der Bezeichnung, der Signifizierung, der symbolischen Ordnung wäre ausgeschieden im Kampf der Wirklichkeitstableaus um die Hegemonie der Austragung der 'gesellschaftsmodelnden' Prozesse. Wenn nur noch Reales und Imaginäres, also Kreatur und Kreation, Auszugsgestalten für den Kampf um die Wirklichkeitsform von Welt bereitstellen, dann werden essentielle Begriff wie Vermittlung, Bezeichnung, Information, Text, Kontext u.a. mehr als nur problematisch. Denn: Vorausgesetzt, die elektrische Realisation von Information (Strompräsenz/Stromabsenz) gehört nicht nur zur Umwelt der autopoietischen Information, sondern ist Element schlechthin der nichtautopoietischen Information, und die Information in ihrer hegmonialen Gestaltung als Bild ist gänzlich absenzlos (also referenzlos), also unfähig, in sich das Nichtdasein, das Wegsein zu informieren, dann könnte es plausibel sein anzunehmen, daß das informationelle Imaginäre nun als ganzes das ganz Reale geworden ist: Das informationelle Imaginäre ist sich selbst (nicht für sich selbst) das ganz Absente. Wie ist das noch zu denken?

 

4)

In dieser Situation der plausiblen Beschreibung gegenwärtiger Verfaßtheit der imaginären Gesellschaft und der gesellschaftlichen Imagination ist es nicht nur eine Verlegenheit, das vor mehr als einhundert Jahren erfundene bewegte Bild nicht unter techniksoziologischen oder ästhetischen Annahmen zu fassen, sondern unter folgendem: So wie das Bewußtsein für die fortgeschrittene Systemtheorie das Unbewußte für die Kommunikation (also für die Gesellschaft) ist[5] , so ist der Film für die Sthenographie das Unbewußte der Gesellschaft und zugleich die Aufhebung der (topologischen) Ozillation zwischen Unbewußtem (Mensch/Absenz) und Bewußtem (Gesellschaft/Präsenz). Es fehlen hier eindeutig Worte, die zu beschreiben hätten, daß die Gesellschaftswerdung des Unbewußten und die Unbewußtwerdung der Gesellschaft nichts mehr zu schaffen haben mit der Unterscheidung unbewußt/bewußt, da hier elementarer Wechsel im 'Status' der Wirklichkeit von Welt passiert und nicht nur Wechsel innerhalb von Wirklichkeit. Es könnte nun sein, daß genau darauf der Film reagiert, Film also die einzige Form/Sonde der totalen Imaginationsinklusion ist, die in den Sichtbarkeitsbereich des Menschen hineinragt (wenn auch schon mit einer positiven und den Film als bewegten überhaupt erst positiv werden lassenden Überforderung der Kapazitäten des menschlichen Sehsinns). Nur: Was sehen wir und was von uns "Menschen" sieht, wenn wir Filme sehen (jenseits der filmtechnischen und filmphilosophischen Frage Peter Greenaways, ob es im 20 Jahrhundert überhaupt schon einen Film gab, der den Möglichkeiten bewegter Bilder gerecht wurde): Das Reale, be-hauptet (als Gegensatz zur Enthauptung) durchs Imaginäre? Das Imaginäre, entkörpert durchs be-hauptete Reale?

Das be-hauptete Reale, das durchs Imaginäre (das sich seinerseits im Visuellen be-hauptet) "sichtbar", "dada" (im Sinne einer 'doppelten' Präsenz: die der Präsenz und der Absenz), nicht-rest, nicht-leer, nicht-blind wird, kann nicht mehr im Konzept der Beobachtung, der Kognition, der Unterscheidung, der Textemologie ankommen. Es ist eine zusätzliche eigenartige Verkehrung passiert. Man könnte sagen: Daß sich in der Instantanisierung, in der Ephemerisierung, der Temporalisierung und Volatilität der Wirklichkeit des bewegten Bildes ein Verständnis von Wirklichkeit zuspitzt, das erstblicklich alle Bestrebungen darauf richtete, die Wirklichkeit festzustellen und als unveränderliche jederzeit wiederholbar zu machen. Dieses Wirklichkeitsverständnis wird gemeinhin virulent in dem abendländischen und von der griechischen Tradition weiterhin beherrschten Begriff des Wissens: das Wissen ist das, was ich gesehen habe. „Wir haben ein Wissen von etwas, wenn wir es gesehen haben und von daher nicht noch einmal hinschauen müssen. Dieses Verständnis von Wissen impliziert also die Nichtveränderung des beobachteten Objekts. Von daher leitet sich auch das Ziel abendländischer Wissenschaft ab, das Sein zu erkennen, indem man auf das Unveränderliche fokussiert und Konstanten aufzudecken sucht. Die Realität als der Bereich, dem wir wirkliches Sein zuschreiben, hängt von daher von unserer Erwartung ab, daß das Beobachtete sich nicht verändert.“[6] Zwar ist nun in der imaginären und virtuellen Bilderraumwelt rein gar nichts mehr unveränderlich und fest, da ja jetzt die Dreidimensionalität imaginierenden Bilderflächen die Anpassungsprozesse der Akkommodation und Assimilation übernommen haben (besser gesagt: natürlich die Computer), die sonst ein sich bewegendes Subjekt in der (nicht nur) dreidimensionalen Wirklichkeit tätigt. Und also geht es auch nicht mehr um das Feststellen einer feststehenden Objektwelt, die bleibt, auch wenn ich nicht bleibe („Horizont“). Und es geht auch nicht mehr darum, wegsehen zu können von der Welt, nachdem man sich sehend davon überzeugt hat, daß sie so ist, wie man es sah. Aber, und darin sehe ich die ausgereifte, quasi sich in sich aufhebende Form des Weltverhältnisses beobachtenden Feststellens: Die (digitalen) Bilder im imaginären/ virtuellen Raum erlauben es nicht mehr, wegzusehen: Man kann nur noch beobachten, jetzt nicht verstanden als Verunmöglichung des Riechens, Berührens usw., sondern als Verunmöglichung des Nichthinschauens, des Blickabwendens, des Changierens dessen, was Figur, was Hintergrund der angeschauten Welt ist.[7] Das Feststellen der Realität nichtveränderter Objekte macht also soetwas durch wie einen Sprung von Quantität zu Qualität: Dasjenige, was bis dato gesehen werden konnte und deswegen als etwas aufgefaßt wurde, das jenseits des Operationsradius des Sehens ‘ist’, wird jetzt in den Operationsradius des Sehens eingezogen. Es existiert nicht mehr als etwas, zu dem das beobachtende Subjekt sich verhalten muß in der Art, daß es sich erfährt in einer Beziehung mit etwas, in der es nur einen Teil ausmacht, also nur Bestandteil ist, und dementsprechend verbunden ist mit etwas, was es nie weiß, was es nie einnehmen und erreichen kann. Der operative Konstruktivismus hatte daraus noch Konsequenzen gezogen und gesagt, daß kognitive Systeme nicht zu unterscheiden vermögen zwischen den Bedingungen der Existenz von Realobjekten und den Bedingungen ihrer Erkenntnis, weil ihnen kein erkenntnisunabhängiger Zugriff auf ebendiese Realobjekte zur Verfügung stehen würde. Nichts desto trotz blieb das Unverfügbare, das Andere als Umwelt bzw. als Horizont anerkannt. In der visualisierten Imagination ist diese Unterscheidung aufgelöst: Die wenn auch nur als focus imaginarius angenommene Existenz von Realobjekten und Realumgebungen ist nun vollständig Effekt der Bedingungen zur Ermöglichung von Verbildlichung sehender Erkenntnis; ist nun vollständig in die Realität der Verbildlichung der Bedingungen des Erkennens eingezogen. Oder anders: Das ausgerüstete Subjekt okkupiert in Gänze den Bereich des Beobachtetwerdenkönnens, es selbst „wird“ das, was sonst das ist, in und mit dem es ist, nämlich Welt, Horizont, Umwelt, und bleibt zugleich dasjenige, das beobachtet, sieht, erkennt. Das Beobachtete und der Beobachter sind eins geworden, wenngleich auf der Ebene visueller Aisthesis noch Verschiedenheit imaginiert werden kann (solange man nicht bemerkt, daß man gar nicht mehr die Möglichkeit hat, nicht zu sehen). Ist man im Sehen dieser Bilder, dann ist das ausgeschlossen, was sonst als theoretischer Kniff möglich ist: Das sog. re-entry, also die Annahme, daß etwas 'außerhalb' in etwas 'innerhalb' eintritt. Das Spencer Brownsche Unterscheidungskalkül macht es theoretisch unmöglich, daß jemals eine Situation "eintreten" könnte, in der innen und außen, eintreten und austreten nicht sind, da es mit ebendieser Unterscheidung beginnt. Was aber nun, wenn angenommen wird, daß der "unmarked space", also die ontische Versicherung zur Ermöglichung des Differenzierens, sich von der Leit-Unterscheidung "unterschieden vs. ununterschieden" emanzipiert hat?

 

 

5)

"Psychoanalytische Filmtheorie versucht in erster Linie herauszuarbeiten, wie das Unbewußte die Rezeption von Filmgeschehen unterstützt, bzw. wie Film und Kino unbewußte, irrationale Prozesse beim Betrachter auslösen und Filmschauen so zu einer lustvollen Erfahrung werden lassen. Wenn der Film, wie seit jeher behauptet, in Nähe des Traumes gerückt werden kann, so muß es möglich sein, ihm mit Mitteln der Psychoanalyse (analog einer Traumdeutung) beizukommen."[8]

Phantasmaforschung käme dem Film nicht mehr mit Mitteln der Psychoanalyse bei. Der Film wäre nicht mehr in die Nähe des Traumes oder Träumens zu rücken. Er selbst wäre, um auf das anfängliche Papuabild-Beispiel van de Weterings zu kommen und damit etwas schief zu analogisieren, der Spaßvogel, der im Wasser wohnt, sprich: der Film selbst ist das, was nicht mehr zu Gesicht gebracht werden kann, eben weil er nur als von anderen gesehener und angeschauter ontisch existiert, nicht mehr aber als 'Objekt', das noch anzuschauen ist. Im Konnex filmischer, subjektiver und intersubjektiver Realität wäre die Stelle des blinden Flecks, des Undarstellbaren, des 'nichts' in Gänze durch den Film besetzt.

Was schauen wir dann an, wenn wir Film sehen?

 

 

 



[1] dt., Reinbek 1977, Ausg. 1994, p139.

[2] Derselbe, Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, FFM 1984, p153-154

[3] Ders., Bausteine zu einer Ästhetik der Absenz, in:Bernhard J. Dotzler/ Ernst Müller (Hg.): Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin 1995, p211-236, hier: p225.

[4] Visualisierung ist das "Gegenteil" zur Imagination und zugleich ihr effektivstes Werkzeug.

[5] Die Kommunikation "enthält kein Bewußtsein, es bedient sich seiner als Zurechnungspunkt für die Unterscheidung von Information und Mitteilung und erzeugt unter anderem jene kommunikativen Artefakte, jene Erwartungscollagen, die wir Personen nennen"; Peter Fuchs, Das Unbewußte in Psychoanalyse und Systemtheorie, FFM 1998, p155.

[6] So Herausgeber Hans Rudi Fischer in seinem Vorwort zu Georg Spencer-Brown, Wahrscheinlichkeit und Wissenschaft, (dt.), Heidelberg 1996 (London 1957), p7. Daß es nur unsere Erwartungen sind, die die festen Weltgegenstände ausweisen mit Realität, stimmt so nicht; jedenfalls nicht, wenn man die Forschungen Jean Piagets berücksichtigt, der die operativen Vorgänge für Konstatierung und Gestaltidentifizierung weit unterhalb von Erwartungen ansetzen läßt.

[7] Offen bleibt nur, ob dieses Nichtwegsehenkönnen ein Erstarren ist, wie es sich einstellt, wenn man von Stheno angeschaut wird, und also die Bilderexplosion in kausalem Zusammenhang steht zur vollständigen Erstarrung des Angeschauten, der nur noch angeschaut schauen kann, also immer nie sieht, aber dafür unendlich viele verschiedene Bilder bekommt, die die Blindheit verunsichtbaren; oder ob, wie Baudrillard meint, jedes beobachtende Vehikel seinen eigenen Spiegel verschluckt hat, also nur noch sein eigenes Anschauen und Angeschautwerden zu sehen vermag, also noch wissen können kann, daß Erkennen (im alten Sinne) noch möglich ist, sich allerdings auf die andere Seite, die Außenseite, verschoben hat (Ranulph Glanvilles These, daß nur noch die Objekte beobachten können).

[8] (http://www.univie.ac.at/Medienwissenschaft/reichert/index.html) Holger Reichert, Film und Kino. Die Maschinerie des Sehens, 1993.