Schuld haben als Voraussetzung, Ich zu sein. Vom Zuendegehen der Schuld als Subjektvergewisserung durch temporalisierte Existenz
Bernd
Ternes
"... ich versteh ja nichts von schuld,
aber du könntest ja den diskurs
zwischen bubis und walser
aus der sicht von monica lewinsky skizzieren..." hari
Gibt es soetwas wie eine uneinziehbare Kluft zwischen Schuld und Wissen? D.h.: Bleibt die zugeschriebene und die empfundene Schuld unbeeindruckt von den Formen der Verarbeitung, der Erklärung, des Verstehens? Begleitet Wissen nur das Leiden an Schuld? Ist Schuld per se unverzeihbar, so daß nur zwei Formen des Umgangs mit ihr möglich sind: unbemerktes Vergessen oder zwanghaftes Erinnern? Gehört Schuld zu den Vereinfachern sozialer Verhältnisse, die sich Aufklärung widersetzen?; zeigt sich Schuld praktisch sozial unbeeindruckt von ihrer Auflösung in Wissen, das nicht mehr die einfachen Zuschreibungen ermöglicht, die durch Schuld möglich sind? Sind also Schuldverhältnisse tragende Wände nicht nur des menschlichen Umgangs, sondern auch für den eigenen Selbstbezug? D.h.: Bleibt Schuld auch dann noch vorhanden, wenn Schuldräume längst in Schutt und Asche liegen, vergleichbar dem Faktum Selbsterhaltung, das auch dann noch erhält, wenn kein Selbst mehr vorhanden ist?
1620 erscheint Francis Bacons Novum Organum. Dort heißt es an einer
Stelle:
"Die Menschen gesellen sich mit Hilfe der Rede zueinander; aber
die Worte werden den Dingen nach der Auffassung der Menge beigelegt. Daher
behindert die ungeeignete Namengebung den Geist in merkwürdiger Weise... Die
Worte tun dem Geist Gewalt an, stören alles und verleiten den Menschen zu
zahllosen nichtigen Debatten und Trugschlüssen." - Novum Organum I, 43
Mit diesem Zitat will ich nicht sagen, daß Fragen nach dem
Schuldbegriff, Fragen nach Schuld nur im Rahmen sprachkritischer Analysen
methodisch richtig angegangen werden können. Es ist ersichtlich leider Unsinn
zu sagen, Schuld sei nur ein Wort bzw. Effekt der falschen Verwendung
von Rede und falscher Namengebung, auch wenn es genau dafür erfreuliche Beispiele
gibt (ich erinnere an die Kämpfe der Gewerkschaften, Arbeitslosigkeit als soziale
Tatsache aus dem Bannkreis privater Schuld herauszureißen und der
administrativen Gesellschaft zu überantworten). Im Gegenteil: Schuld als Wort
ist mit solch Animismus ermöglichenden Kräften ausgestattet, daß man denken
könnte, es gebe eine privilegierte Beziehung zwischen dem Wort und der dadurch
bezeichneten Sache. Es gibt der Worte nicht viele, die, zwar nur Zeichen, doch
wie Symbole, fast schon wie Emanationen wirken.
Schuld ist ein genuin soziales Produkt, egal, ob man sich selbst
schuldig macht, andere schuldig spricht, schuldig gesprochen wird oder sich und
andere entschuldigt. Damit behaupte ich etwas, daß ich hier in diesem Rahmen
nicht einmal plausibel gemacht werden kann, nämlich: Schuld ist kein genuin
juridischer Terminus, keine genuin moralische Markierung, sie ist auch keine
genuin religiös gespeiste Abstraktion, sondern sie ist, tiefergelegt, eine
soziale Kategorie. Soziale Kategorien sind begriffliche Fassungen für soziale
Strukturen, die sich automatisch ergeben, wenn Menschen miteinander in
bestimmten Formen der Gesellung umgehen und zugleich umzugehen haben mit
ebendiesen Formen, mit denen allerdings keine Interaktionen möglich sind, so
daß ein unabschließbarer Koordinationsbedarf besteht von einerseits der
Koordination der Menschen in den
Formen und andererseits der Koordination der Menschen mit den Formen. Soziale Kategorien sind also Koordinationskoordinationen
mit einer bis auf weiteres unbeobachtbaren Komponente, nämlich der Gesellungsform
(Beispiel: Sind 6 Menschen eine Gruppe, so sind sie zu siebt: Die Gruppe ist
der genau auf der Grenze innen/außen stehende Teilnehmer, mit dem man nie
direkt Kontakt aufnehmen kann). Wenn hier behauptet wird, daß Schuld eine genuin
soziale Kategorie ist, dann heißt das: Sie übernimmt - wie etwa auch das
Phänomen Vertrauen - die Aufgabe, die
Koordinationskoordination eindeutig auf die Seite hin umzubrechen, in der die
Menschen ihr Miteinander koordinieren. Schuld ist der auf Augenhöhe ansetzende
Versuch, Geschehnisse, die sich der Anschauung entziehen, weil sie aus den
Koordinationen mit den Gesellungsformen entstehen, anschaulich zu machen, indem
sie sich die erstbesten Komponenten greift, die am einfachsten identifiziert
werden können: Und das sind immer noch diese kompakten Menschen. Schuld ist
also - wie Vertrauen - eine Vereinfacherin, eine notwendige und sich automatisch ergebende
Vereinfacherin sozialen Verkehrs, ein notwendiges
Ingredienz dafür, daß Menschen selbstverständlich glauben, die soziale Welt
konvergiert auf sie.
Dem steht natürlich nicht im Wege, daß es vornehmlich juridische, moralische
und religiöse Diskurse, Interessen und Teilsysteme der Gesellschaft sind, die
sich der Schuld existentiell, psychisch und ordnungstheoretisch annehmen. Und
auch die hinlänglich er- und bekannte Tatsache, daß diese Diskurse, Interessen
und Systeme erst das konstruieren und erfinden, was sie als Gegebenes dann voraussetzen
und zu dessen Normierung, Eindämmung oder auch Proliferation
sie sich aufschwingen, ist keine Gegenrede zur These, daß Schuld eine genuin
soziale Kategorie ist.
Schuld also als soziale Kategorie, vielleicht sogar als der heimliche,
synchronisierte Treibstoff desjenigen Prozesses, den man mit dem Begriffspaar
Individuation/Sozialisation bezeichnet. Aber: Ist Schuld auch eine soziologische Kategorie?
Die moderne Sprachkritik diente einstmals zur Emanzipation von dem in
der Sprache konservierten archaischen Weltbild. Neue Weltbilder sind dazu
gekommen, nun nicht mehr archaisch, sondern modern, zum Teil zivilisierter, zum
Teil barbarischer. Die Kritik der Sprache sollte bewußt machen, daß die Sprache
nichts schlechthin Gegebenes ist, sondern als Instrument betrachtet werden
kann, das der Mensch in verschiedenen Lebenssituationen zu verschiedenen
Zwecken gebraucht und diesen Zwecken entsprechend auch zu ändern vermag. Pierre
Bourdieu hat meines Erachtens sehr plausibel
vorgeführt, wie bestimmte Kriterien des Erfolges und der Macht sprachlicher
Kommunikation aus den Komponenten Grammatik, Syntax und Semantik herauszuziehen
sind, um sie den Kontexten der Pragmatik und des sozialen Feldes zuzuführen.
Die Frage auf "Ce que veut dire
parler?" beantwortete Bourdieu
also erheblich in den Dimensionen der Zeit, der Situation des Sprechens und der
Positionierung der Sprecher im sozialen Raum.
Die moderne Gesellschaftskritik, nennen wir sie der Einfachheit halber
Soziologie, hatte ein ähnliches Ziel: Bewußt machen, daß Macht, Zwang, Leid,
Formen des Wirtschaftens, Handelns, Verhaltens, Tun und Lassens nicht per se
Gegebenheiten/Geworfenheiten sind, sondern historische Gestalten und
Dispositionen, die, immer in Bewegung, entweder sich wandeln, sich nicht
wandeln, obsolet sind oder schon zukünftig in den gegenwärtigen Gesellschaftsbetrieb
einwirken. Der Preis dieser Kritik
im und des okzidentalen Rationalismus, der Preis der Entzauberung, der Säkularisierung,
der Dezentrierung, der Verwissenschaftlichung, der Artefaktisierung ist, grobschlächtig gesagt, heute der:
Radikaler Konstruktivismus, radikale Dekonstruktion, radikale Digitalisierung,
radikale Visualisierung. Das Auflöse- und Rekombinationsvermögen
moderner Gesellschaften scheint nun voll entfaltet (Kopernikus, Darwin, Freud,
Wittgenstein, Wiener, Systemtheorie, Gentechnologie); die Habermas’sche
Dauerreflexion zertrümmert mehr Tradition als sie selbst schafft; Kontingenz
wird als der Eigenwert moderner Gesellschaften ausgerufen; sich vorübergehend
auf vorübergehende Lagen vorübergehend einstellen scheint unter dem Wort des flexiblen0Individuums
die gesellschaftsweite Runde zu machen. Das Ich, das ausruft "Ich war es
nicht!" steht im Wechsel mit einem anderen Ich, das vom Selbst eine permanente Gegenwärtigkeitsproduktion seiner selbst verlangt
und das jedes Jetzt unter Verdacht stellt, ein maskiertes Ich zu bergen.
Ersichtlich macht dieser mittlerweile auch gesellschaftlich angekommene
Stand der Einsicht in die Unmündigkeit produzierenden Bedingungen zur
Ermöglichung mündiger Bürger angst. Er macht angst und reizt zu sozialstrukturellen, sozialpolitischen
und theoretischen Gegenschlägen. Alain Tourraine hat Anfang der 80er Jahre
davor gewarnt, daß genuin soziale Kategorien der Selbstbeschreibung von
Gesellschaften schleichend ausgetauscht würden durch ethnische und kulturelle
Markierungen. Botho Strauss' Intonation des Bocksgesangs drückte einen
weiterhin herrschenden Zeitgeist aus, als er in groben Zügen den
vergesellschafteten und modernen Menschen abräumte, um dem archaischen, dem
mythischen, dem irrationalen und konservativen Menschen wieder einen Raum zu
geben. Reregionalisierung passiert allenthalben,
Kriege passieren aus für uns unerfindlichen Motiven, die Konventionalisierung
und Reglementierung gesellschaftlicher Verkehre zieht in vielen Bereichen an.
Heimat, feste Bindungen und Übersichtlichkeit sind wieder gefragt, das
Bedürfnis nach Wirklichkeit und nicht nach Möglichkeit nimmt zu. Die
symbolische, die imaginäre, die Zeichenwelt, die vom Kopf aus entworfene Welt
verliert Aufmerksamkeit zugunsten anthropologischer, performativer,
vermeintlich der menschlichen Natur entsprechender Attribute. Man könnte hier
durchaus plausibel Parallelen ausmachen mit bestimmten Eigenarten der
ästhetischen und politischen Romantik im Sinne Karl Mannheims, nämlich als
Sammelbegriff oder Container eines reflektierten Traditionalismus, der auf das
durch die Aufklärung scheinbar Unterdrückte oder Vernichtete aufmerksam machte,
dies aber auch nur im aufgeklärten Modus tun konnte (Beispiel: Baumgartens Aisthesis-Theorie). Der Unterschied heute ist allerdings,
daß die Gegenreaktionen nicht mehr wie auch immer ästhetisch, theoretisch oder
intellektuell sublimiert sind, sondern direkt gesellschaftlich wirken, ohne
über Psychen in den gesellschaftlichen Verkehr einfließen zu müssen. Das Unbehagen,
so kann man überspitzt formulieren, deponiert sich nicht mehr nur psychisch und
unbewußt, sondern hat sich, positiviert, in die
Vergesellschaftung selbst hineinevakuiert.
Die Gesellschaft emanzipiert sich zunehmend von Menschen (aber noch
nicht: vom Menschen), von Menschen,
denen fast nichts mehr geblieben ist als: geboren zu werden, zu sterben, zu
leiden, kaum mehr etwas zu verstehen, manchmal zu lieben und: sich schuldig zu
machen resp. schuldig zu sprechen. Nachgerade hat es den Anschein, als sei
Schuld neben dem Haß (in der Baudrillardschen
Sichtweise) eine der letzten eingreifenden Beziehungsorganisationsformen, die
den Menschen zur Verfügung steht, um sich als soziale Wesen zu verstehen, um
wirklich zu erleben jenseits von Unterhaltung und Kontingenz. Vielleicht ist
das, was Liebe geheißen, nur möglich, wenn man sich schuldig fühlen kann. Und
umgedreht: Existiert Schuld nicht mehr, verliert man die Fähigkeit, sich und
andere zu lieben. Ein Verlust, den die wenigsten als Gewinn ansehen können, solange
daran geglaubt wird, daß wahre Liebe selbst die Zeitlichkeit überwinden könne.
These wäre also: je weniger Anhaltspunkte Gesellschaft bietet, die
Ursache oder das Subjekt von Handlungen im einzelnen Individuum auszumachen,
desto größer wird der Bedarf, die zunehmend amorph werdenden Sozialbeziehungen
durch Be-Schuldigung zu vereindeutigen. „Mitten unter
den standardisierten und verwalteten Menscheneinheiten“, so Adorno, „west das
Individuum fort“ (Minima Moralia, p176f.): Schuld als
eine Verwesungsgestalt des mitgeschleppten, neutralisierten Individuums; da, wo
der Gestank am penetrantesten ist, suggeriert man die höchste Dichte an Menschlichkeit.
Das kann subjektiv soweit gehen, daß das Verbrechen als Akt der existentiellen
Identitätsvergewisserung benutzt wird. „Ein Königreich für einen Staatsfeind“,
ruft die Macht; „Ein Verbrechen für meine Identität“, ruft das überflüssig
gewordene Individuum. Nochmals: Je
weniger eine Gesellschaft angewiesen ist auf soziales Handeln von Menschen, um
sich systemisch zu reproduzieren, desto rigider werden Moralsysteme eingeführt,
die als Triebkräfte und als Regulatoren sozialen Handelns und der
Verhaltensorientierung fungieren. Bei Ruth Benedikt[1]
sind dies Moralsysteme, die sich entweder auf eine „guilt
culture“ oder auf eine „shame
culture“ beziehen. Hinterrücks jedoch scheint sich
die Kultur der hochkapitalistischen Gesellschaft zu emanzipieren von einem Moralsystem,
das soziales Handeln, Erwartungen stabil verstrebt und aufrechterhalten muß. So
wie Baudrillard einst die Sphäre der Politik der
Simulation überantwortete, so könnte man nun, eine Etage tiefer quasi, bei der
Kultur ansetzen: Die Kultur simuliert sich mithilfe der Moral, und, leider zunehmend,
mit Ethnifizierung.
Ich möchte also im folgenden nicht über Schuld
reden innerhalb eines Rahmens, der durch Begriffe wie Sühne, Bürde, Last, Erlösung,
Verzeihung, Befreiung, Buße oder Kollektivschuld markiert wird. Kein weiteres
Derivat des Gedankens eines schuldlosen Schöpfers und einer schuldig/sündig gewordenen
Geschöpfe-Schar (oder umgedreht: Luthers Bild des vom
Pferd Adam absteigenden Gottes, der damit für den Sündenfall verantwortlich
ist), des Gedankens eines ursprünglichen Schuldverhältnisses der Menschen zu
ihrem producer
soll zu hören sein. Das religiöse Bündel Sünde, Schuld, Erlösung bleibt also
links liegen; ebenso der Gedanke notwendiger Schuldverstrickung und notwendigen
Verbrechens der Töchter und Söhne gegenüber dem Vater, damit das Gesetz-des-toten-Vaters Kraft, Gesetzeskraft erlangt. Es
wird also nicht von Interesse sein, daß und wie Freud in der Funktion des Todes
Gottes den Vatermord als direkteste Repräsentanz desselben als modernen Mythos
einführt (Freud, Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse, Bd. XI,
p343). Und auch nicht interessiert der sehr interessante Gedanke Freuds, die
Menschheit als Ganzes habe zu Beginn ihrer Geschichte ihr Schuldbewußtsein am
Ödipuskomplex erworben; sowenig, nun abschließend damit, der interessante Satz Lacans interessiert, nach dem alle Übungen des Genusses etwas
mit sich bringen, das sich im Schuldbuch des Gesetzes einschreibt (Lacan, Die Ethik der Psychoanalyse, Seminar VII, p215); und
sowenig, last but not least, Zizeks
Konzept eines Subjekts bar der Subjektivität aufgegriffen wird, demzufolge das Cartesische Subjekt sich als Monster herausstellt immer genau
da, wo wir das Subjekt von all seinen Vermögen als 'menschlicher Person'
ablösen (S. Žižek, Das Unbehagen im Subjekt, p18).
Vielmehr will ich wie grob auch immer hinweisen auf eine Gegenläufigkeit,
die schon im Titel zu lesen ist: Daß nämlich einerseits Schuld immer noch eine
wesentliche Verkörperung dessen darstellt, was soziale Anerkennung geheißen,
daß also Ich-Identität immer noch maßgebend über die Anerkennung des
Schuldseins, des Schuldig-gemacht-Habens, des Schuldhabens
und des In-der-Schuld-des-anderen-Stehens produziert
wird; und daß andererseits ebendiese Form der Sozialinklusion immer weniger
dazu beiträgt, daß sich die Menschen als Iche, als
von anderen Subjekten anerkannte Subjekte, verstehen und erleiden. In der
klassischen Sozialisationsforschung wird davon ausgegangen – ich verkürze jetzt
fahrlässig –, daß es eine wesentliche Bruchstelle in der semantischen, sozialen
und kulturellen Reproduktion einer Gesellschaft gibt, nämlich die Stelle der
Adoleszenz, weil hier sich zeige, ob ein systemkonformer Anschluß der jeweils
nächsten Generation an die vorhergehende gelingt oder nicht. Kultur, Tradition,
Semantik, Matrizen gesellschaftlicher Ordnung müssen hier gewissermaßen über
einen synaptischen Spalt. Am Gelingen oder
Nichtgelingen könne man absehen, inwieweit eine Gesellschaft noch ausreichend
ausgestattet ist mit funktional notwendiger Motivation und Legitimation ihres Soseins.
Ebenso ist daran absehbar, inwieweit die Individuen fähig sind, ein Ich zu
entwickeln, ein Ich, das als psychologischer Begriff mit dem soziologischen
Begriff der Identität korreliert. Ich-Identität soziologisch verstanden
bedeutet also eine symbolische Struktur, die es einem Persönlichkeitssystem erlaubt,
im Wechsel der biographischen Zustände und über die verschiedenen Positionen im
sozialen Raum hinweg Kontinuität und Konsistenz zu sichern" (Döbert, Habermas, Nummer-Winckler, Entwicklung des Ichs, Köln 1977, p9). (Indem die Einzelnen, so die
gesellschaftstheoretische Richtung, ihre Identität erhalten und unterhalten,
sichern sie nämlich zugleich die Intersubjektivität möglicher Verständigung
untereinander.) Was wäre nun aber,
wenn man davon ausgeht, daß der Holismus und die Homogenität des phänomenalen Bewußtseins
Illusionen sind, die durch einen niedrigen zeitlichen Auflösungsgrad
derjenigen Funktionen bedingt ist, die mentale Repräsentate
zu bewußten machen; und also davon ausgeht, daß sie nicht mal Bestandteile
einer Ich-Illusion sind, weil diese Illusion niemandes Illusion ist, so Thomas
Metzinger[2]? Und daß ebendieses Wissen mittlerweile wirklich
gewußt wird, vielleicht noch nicht in Gänze kognitiv aufgeschlossen, aber schon
bemerkbar als eine Art manifestes Unbehagen in der Gesellschaft? Als ein
Unbehagen, das durch bestimmte, m.E. anwachsende Selbstbeschreibungen manifest
wird, Selbstbeschreibungen der Art, nur noch durch die Jahre zu fallen resp.
nur noch zu altern, Selbstbeschreibungen also, die keine clevere Flucht vor
sich und zu sich selbst mehr garantieren, die das Ich nicht mehr in der Arbeit,
in der Liebe, im Denken sich so enthalten lassen, daß Sicht auf die Grenze zwischen
Selbst- und Fremdreferenz jederzeit möglich ist, Selbstbeschreibungen, die
Pflicht, Forderung, Gesichtwahrung und Sorgen einzig nur noch als Wegweiser
vorkommen lassen, um nicht vom Weg der Normalität ab- und ins Gelände lallenden
Wahnsinns hineinzukommen.
Schnittig kann man das so fassen: Die Menschen als soziale Wesen werden
ob der Abnahme psychischer Gratifikationen und Identitätsstiftungen durch ihr
Teilnehmen an der sozialen Veranstaltung Gesellschaft zunehmend gezwungen,
soziologische Wesen zu werden.
Als soziologische Wesen erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, immer weniger
Zuschreibungen auf die eigene Psyche, auf das eigene Wahrnehmen/Wahrgenommenwerden,
auf das eigene Bewußtsein, auf die eigene, durch Haut und Kleidung als Einheit
anschaulich gemachte Identität durchführen zu müssen, um sich gesellschaftlich
zu behaupten. Soziologische Wesen sind, um mit Namen zu markieren, solche, die
Einsichten Fernando Pessoas, Emile Michel Ciorans und
Peter Fuchs‘ nicht mehr nur lesen, sondern leben. Und dabei ist es nicht
soziologisch zwingend, daß man die Perspektive des Mangels und des Verlustes
ansetzen muß! Nicht mehr zu wissen, daß der Körper gewiß existiert, nicht aber
das Wissen; nicht mehr zu wissen, wann etwas anfängt und aufhört; davon auszugehen,
daß das Bewußtsein das Unbewußte schlechthin ist für die Kommunikation; davon
auszugehen, daß es Erfahrungen gibt, die man nicht überleben kann, und die man
trotzdem überlebt hat: All das muß keinesfalls als Abfall vom Begriff Mensch
aufgefaßt werden. Man wird sich selbst einfach das, was man sonst, als soziales
Wesen, immer nur für andere ist: Adresse und Person. Man unterhält ein unpersönliches
Verhältnis zu sich als etwas, was einem nicht gehört, als etwas, dem man nur zu
Teilen angehört. Man enthält sich, man kommt sich nur noch vor, aber nicht mehr
vor sich.
(Vielleicht darf man es auch
so analogisieren: So wie Wahrheit als
der focus imaginarius
innerhalb der Philosophie und Wissenschaft zur inneren Führung des Denkens,
Forschens und Interpretierens herhielt und sein Statuszerfall die Wissenschaft
in immer noch anhaltende Turbulenzen hineinriß, so erzeugt der Zerfall der
Schuld als Ordnungs- und Zuschreibungsbegriff sozialer Handlungen und Beschreibungen
enorme Turbulenzen für die innere Struktur der Psychen; der Psychen, nicht der
Sozialität: denn die hat sich schon längst eingerichtet in ein System der
organisierten Unverantwortlichkeit. Organisierte Unverantwortlichkeit nennt
sich zur Zeit übrigens polykontexturale
Kommunikation.)
Vielleicht hilft ein Vergleich der soziologisch obsolet werdenden
Schuld mit der obsolet werdenden Einlösbarkeit von Schulden, den monetären
Schulden im globalen Ausmaß betrachtet. Das
Wachstum des Geldes, so sagen es einige Theorien, ist substanzlos geworden und
wird nur noch durch Kredite und auf spekulative Weise simuliert. Nicht nur der
Staat, auch der Markt muß jetzt zunehmend seine imaginäre Zukunft anzapfen und
fiktive zukünftige Gewinne verpfänden. Die Unternehmen und die privaten
Haushalte sind weltweit ebenso verschuldet wie der Staatshaushalt. Allein in
den USA kommen zu ca. 6.500 Milliarden Dollar Staatsverschuldung in Form von
Staatsanleihen und staatlichen Wertpapieren inzwischen fast 10.000 Milliarden
Dollar private Schulden in Form von Hypotheken, Unternehmensobligationen,
Konsumentenkrediten usw. Die Kosten für diese absurde Verschuldung werden nicht
mehr durch produktive Arbeit gedeckt, sondern großenteils durch spekulative
Wertsteigerungen. Das fiktive Kapital des Staatskredits und das fiktive Kapital
der kommerziellen Spekulation verschränken sich miteinander, die Schulden des
einen Sektors werden mit Schulden des anderen Sektors „bezahlt“ und das
simulierte Wachstum nährt die Simulation. Bei einer realen Bilanzierung ohne
die fiktiven Werte würden in allen Ländern der Erde massenhaft Unternehmen zusammenbrechen.
D.h.: Die weltweite kapitalistische Ökonomie hat
dazu geführt, daß die Geldschulden, die notwendig gemacht werden mußten, nicht
mehr gedeckt sind durch reale Wertschöpfung. Die gegenseitige Verschuldung der
großen Industriemächte USA, Europa und Japan hat dazu
geführt, daß keiner der Gläubiger die Schuld des anderen einlösen darf. Die Großökonomie
lebt davon, daß die Schulden unerlöst/uneingelöst bleiben: Einlösung/Erlösung
hieße rasende Entwertung. Damit es nicht zur Entwertung kommt, muß so getan
werden, als ob die Schulden temporäre Schulden sind, also in der Zukunft
durchaus eingelöst werden könnten. Die Imagination einer (Gläubiger-)Instanz
als Fixpunkt einer Verschuldung ist die Voraussetzung dafür, daß die faktische
Uneinlösbarkeit der Schulden ignoriert wird. Oder anders: Das Aufrechterhalten
einer möglichen Verzeihbarkeit der Schuld ist Voraussetzung dafür, nicht an der
faktischen Unverzeihbarkeit der Schuld zu zerbrechen. Die eigentlich befreiend
wirken könnende Unverzeihbarkeit wird nicht genutzt, um von Schuld zu lassen,
sondern sie wird mit der Brille der längst hyperfiktiv gewordenen Verzeihbarkeit
referenziert; ihr haftet damit ein Makel an, ein
Mangel wird sichtbar, der die Aussicht verstopft auf eine Sozialbezüglichkeitsform,
in der Unverzeihbarkeit nicht mehr zum Terror des In-der-Schuld-Stehens
oder des Sich-schuldig-Fühlens führen muß. Schuld
tragen, Schuld auf sich nehmen müßten nicht mehr eingesetzt werden, um dem
Individuum mit heißem Eisen eine Schwere des Verstricktseins
und eine Dauererinnerung an sich selbst zu verpassen, einzig zum Ziele der
Selbstidentifikation. - So wie in der Ökonomie nicht abgelassen wird von der
Instanz des Gläubigers, nicht abgelassen wird vom Zwang zu glauben, daß
Gläubiger Gläubige sind, so wird in der sozialen Gesellschaft weiterhin noch
nicht abgelassen von der Instanz des Verzeihers, damit
weiterhin Sozialverkehre über Pflicht, Verpflichtung und Verantwortung geordnet
werden. Man kann sich fragen, wann im Sozialen der Zusammenbruch eintritt, wenn
sich Individuen immer mehr darauf verstehen, sich nicht mehr verantwortlich zu
fühlen, sich nicht mehr zerfleischen ob der Unverzeihbarkeit von Schuld, sich
nicht mehr als Zuschreibungszielscheibe zur Verfügung zu stellen – das Wort
Sünde soll ja aus der Welt der Bogenschützen stammen: immer dann, wenn der
Pfeil das Ziel verfehlte, hatte man gesündigt.
Ob nun soziologische Menschen auch als soziale im moralischen Sinne zu
betrachten sind oder doch nur eine Fortführung der nietzscheanischen
Ästhetisierung darstellen, hängt davon ab, ob man davon ausgeht, Gesellschaft
bestehe aus Menschen oder aus dem, was man Kommunikation nennt; hängt davon ab,
ob man davon ausgeht, die Gesellschaft werde durch Konsens integriert oder
durch Zwang zur Erfüllung von Funktionen; und hängt schließlich davon ab, ob
man davon ausgeht, das Individuum sei eine reale oder eine bloß analytische
Kategorie zur Selbst- und Fremdidentifizierung.
Nun gut. Hier wird davon ausgegangen, daß sich seit dem 17. Jahrhundert
ein Prozeß ereignet, ein Prozeß, der Gott (als die Instanz des Schuldigsprechung und Erlösung) aus der Notwendigkeit
heraus- und in die Wahrscheinlichkeit hineinzog, ein Prozeß, der die Modalität
„Notwendigkeit“ von wahrscheinlich in unwahrscheinlich wechselte, ein Prozeß
schließlich, der die Raumexistenz des Menschen zunehmend in eine Zeitexistenz
zu wandeln begann. Die gesellschaftliche Zeitexistenz erfordert neue Formen des
sozialen Ordens, etwa, indem man folgendes sagt: „Nicht das Subjekt, sondern die in Ereignisse aufgelöste Zeit gibt der
Handlung ihre Identität“ (N. Luhmann, Soziale Systeme, p390). Stärkere
Beachtung der Zeitlichkeit von Handlungen, Personen und Kommunikationen verhindert
eine dinghafte Verfestigung der sozialen Dimension ebendieser Komponenten.
Heute wird, im Vergleich etwa zur alteuropäischen Tradition der Ding-Semantik,
viel stärker von der Zeitbedingtheit aller Einstellungen zur Welt ausgegangen;
abweichende Meinungen werden nicht mehr so stark als doxa abgetan; die soziale Ordnung
ist in der Zeit angekommen, mit ihr also auch ihr Erkennen. Warum soll das
nicht auch fürs Ich gelten, für diese spezifische Form des Selbstbezuges eines
Individuums?
Wie könnte nun ein Wesen
aussehen, daß nicht mehr nur soziales Wesen ist,
sondern ansatzweise schon soziologisches Wesen geworden ist?
Die junge dänische Schriftstellerin Solvej
Balle veröffentlichte 1993 ein Buch, das 3 Jahre später unter dem Titel „Nach
dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen“ ins Deutsche übertragen wurde. Der
zweite Bericht handelt von dem Menschen Tanja L, die am Basler Bahnhof mit dem
Zug abreist und einen Menschen auf dem Bahnsteig zurückläßt, der kläglich zusammenbricht
ob des Abschieds. Zitat (p50):
„Tanja L. wußte, wo die Ursache dieser Regung zu finden war. Sie wußte,
sie selbst war verantwortlich für das plötzliche Zusammensinken der Gestalt,
die Auflösung der menschlichen Form, den zerstörten Körper auf dem Bahnsteig.
Tanja L. war den Vorlesungen an der Juristischen Fakultät der Basler Universität
sorgfältig gefolgt. Das Strafmaß für Körperverletzung, die geltenden
Bestimmungen für die Feststellung und die Anrechnung von Schuld und der Ermessensspielraum
waren ihr bekannt. Sie wußte, daß nicht zum ersten Mal ein Mensch einen anderen
Menschen mit aufgelösten Konturen auf einem Bahnsteig zurückgelassen hatte, und
sie wußte, daß es für diese Form von Verletzungen keine Bestrafung gab. Für
Tanja L. war um 10.53 Uhr die Schuldfrage ein für allemal geklärt. Tanja L.
fühlte sich nicht schuldig. Das war kein Gefühl. Es war ein Wissen“ (p51) Zitat
Ende.
– Sie fährt dann nach Barcelona, um, wie es heißt, den Schmerz aufzusuchen,
ihn zu finden, ihn zu empfinden. Und reist dann weiter umher. Was wollte sie?
Zitat (p52):
„Wollte sich Tanja L. von der Schuld befreien, indem sie einen Schmerz
aufsuchte, der jenem glich, den sie einem anderen Menschen zugefügt hatte? Eine
Form von Selbstjustiz in der eigentlichen Bedeutung des Wortes?
Tanja L. wußte, daß nur Verrückte im Schmerz baden, um ihren Körper zu
reinigen. Nicht der Wunsch, sich von der Schuld zu befreien, schickte sie auf
die langwierige Suche nach dem Schmerz. Sie wollte ihre Schuld nicht sühnen
oder ihre Rechtfertigung mathematisch begründen. Sie wollte keine Strafe, weder
himmlischen Sündenerlaß noch irdische Verzeihung. Tanja L. hatte den Schmerz
gesehen. Sie wußte, daß es ihn gab, aber sie kannte ihn nicht.“ Zitat Ende.
Suchte sie einen Schmerz (p64), den sie tragen könne, wie man bei den Osterprozessionen
Jesu Kreuz irgendein vorgebliches Golgatha hinauftrage? Ein Mann, mit dem sie
mittlerweile Bekanntschaft gemacht hatte, antwortet ihr so: „Der Schmerz sei
schon lange aufgebraucht. Nach Auschwitz gebe es keinen Schmerz mehr. Das Wort
sei schön längst ins Exil der medizinischen Wissenschaften gegangen, wo es noch
sinnvoll verwendet werden könne. Aller anderer Schmerz
sei Teil der Geschichte“ (p64).
Schmerz als Teil der Geschichte, Schmerz nur als geschichtlicher
Schmerz, selber nicht mehr schmerzhaft in seinem Ihn-Erinnern.
Ist es möglich, sich an Schmerz zu erinnern, ohne auch daran, wer ihn auslöste,
ausführte, verursachte? Sind die ritualisierten Foren, Arenen und Konventionen
des Erinnerns an Schmerz nur möglich über das Erinnern geschichtlicher Schuld?
Braucht es den Schuldigen oder die Schuldigen, damit der Schmerz sich erinnerlich
macht? – Wer in der letzten Septemberausgabe ’98 des Spiegel unter der
Überschrift „Die Erinnerung der Täter“ den Bericht über Hans Münch, den letzten
noch lebenden KZ-Arzt von Auschwitz, aufmerksam verfolgt hat, müßte jetzt
strikt verneinen. „Juden ausmerzen, das war eben der Beruf der SS damals“, so
Münch. Und: „Das geht ganz schnell, ruhig an einem Platz zu leben, an dem
Hunderttausende Menschen vergast werden. Das hat mich nicht belastet“. Und:
„Der Tod sei das Erlöschen einer biologischen Einheit“: „Danach kommt nichts“.
Auf die Abschlußfrage, was für ihn Auschwitz bedeutet, antwortet Münch:
„Nichts.“ Ein Freund, der den Artikel las, sagte, er habe selten einen so
großen Schmerz empfunden, eben weil sich
Münch absolut nicht schuldig fühlte.
In Peter Weiss' „Die Ermittlung“ macht ein
Zeuge, der als Jude Auschwitz überlebte, Schluß mit Schuld. Er plädiert für
eine Rücknahme der Anmaßung, urteilen zu können über die, die sich schuldig
gemacht haben. Er behauptet, daß es historisch, strukturell, genau so gut hätte
sein können, daß die, die „ins Gas kamen“, diejenigen hätten sein können, die
ins Gas schickten. Und die, die Massenvernichtung betrieben, hätten selbst massenhaft
vernichtet werden können. — Eine böse These, die sträflich offen läßt, warum es
denn nun historisch-strukturell dazu kam, daß das kam, was kam. Doch: Mit
dieser These hat er meines Erachtens eine richtige Implikation getroffen,
nämlich: die Kategorie der Schuld nicht mehr zu verwenden, wenn es um gesellschaftliche
Ereignisse geht, die eindeutig nicht mehr interaktionistisch verstanden werden
können. Oder umgedreht: Die Implikation sagt, daß die Kategorie der Schuld
eigentlich unproblematisch nur noch in beinahe unmittelbaren Verhältnissen des
menschlichen Umgangs angewendet werden sollte; denn nur da ist die Illusion der
unbemerkbaren eindeutigen Zurechnung noch praktikabel.
These ist also: Für den Bereich
gesellschaftlich-historischer Ereignisse und Handlungen ist der Begriff Schuld
als Verteiler von Zuweisungs- und Zurechnungsanweisungen für Handlungen, Verhaltungen
und auch Erlebnissen nicht passend. Und zugleich: Dort, wo er passen kann, in
den oben genannten Bereichen des menschlichen Umgangs, des Im-Team-Seins
oder des Intim-Seins, wird er zumeist verknotet eingesetzt: immer dann nämlich,
wenn das Begehren nach nichts Benennbarem[3]
unerträglich wird und man ausweicht ins Begehren, absolut benannt, bezeichnet,
gekennzeichnet zu werden.
Gesetz, Schuld, Schmerz - das bis jetzt Gesagte versucht so zu tun, als
gäbe es einen ganz besonderen Zusammenhang zwischen diesen Großbegriffen, ein Zusammenhang
transkategorialer Art: Das Gesetz als Bindungsform
fürs Gesellschaftsgrundlegende; die Schuld als zunehmend verkehrte Bindungsform
für das Zwischengesellschaftliche (Individuen/Normen); der Schmerz fürs innere
Verhältnis eines Individuums. Das Gesetz also als Abstimmung der Gesellschaft
mit der Geschichte und Natur; die Schuld als zunehmend verkehrte Abstimmung der
Gesellschaftsmitglieder mit dem Gesellschaftlichen; der Schmerz als Abstimmung
des einzelnen Individuums mit den Bedingungen seiner eigenen physischen und
symbolischen Existenz.
Was könnte da der Zusammenhang sein, was könnte ihn stiften? Oder gibt
es gar keinen Zusammenhang? Wer könnte uns darüber belehren und aufklären?
Nochmals: Schuld ist eine soziale Tatsache, so wie Vertrauen, Erwartungen
oder Angst. Die Frage ist nur, ob sozialräumliche Aktome,
in denen dies relevant oder gar konstitutiv ist, Sozialräume sind, die auf der
Höhe der Vergesellschaftung sind. Der Gedanke ist nun, daß die
gesellschaftliche Abstraktion, Differenzierung und Kommunikation einen Zustand
erreicht hat, der es ermöglicht, nicht mehr davon auszugehen, daß ein durch
seine Haut abgegrenztes oder durch seine jeweilige Zugehörigkeit bestimmbares
Individuum Schuld auf sich laden kann. Umgedreht: Daß also all diejenigen, die
noch über Schuld soziale und psychische Beziehungen zu erklären und beschreiben
suchen, „selbst Schuld sind“, wenn sie es denn noch so machen.
Man muß hier jetzt aufpassen, um nicht falsch falsch
verstanden zu werden. Im Zuge der 68er-Kulturrevolution konnte man individuelles
menschliches Versagen im kapitalistischen System auf die Gesellschaft
rückführen: ‚Die Gesellschaft ist schuld!‘ Die Folge
war ein Abbau persönlichen Verantwortungsgefühls,
der subjektive Faktor wurde zum großen Teil geopfert. Als Margaret Thatcher in
den 80er Jahren die moralische und ökonomische Renaissance ihres Landes
betreiben wollte, tat sie dies daher mit der klaren Einsicht: ‚There is no such thing as society‘: Die Folge war
ein Abbau gesellschaftlicher Verantwortung, der objektive, strukturelle oder
auch systemische Faktor wurde größtenteils geopfert. Die maximale Einheit
dieser Gesellschaftsbeschreibung war das rational sich entscheidende einzelne
Individuum.
Zwischen ‚Es gibt kein individuelles Handeln‘ und ‚Es gibt nicht soetwas wie Gesellschaft‘ sollte man nicht wählen und sich
nicht entscheiden. Vielmehr könnte es sinnreich sein zu fragen, ob die
Gesellschaft mittlerweile einen Grad an Entwicklung erreicht hat, der es ihr
gesellschaftsstrukturell erlaubt, von Schuld abzusehen. Man kennt das an sich
selbst: Es gibt einen großen Abgrund zwischen dem Wissen in der Literatur, der
Wissenschaft, der Kunst, das sich der Frage annimmt, wie weit schon die Wirklichkeit
explodiert ist, das Individuum aufgelöst, Selbstbestimmung Selbstverstimmung
gewichen ist, wie porös die Haftigkeit der Regeln
sind, die sich Gesellschaften geben, also: Wissen von der Unwahrscheinlichkeit
gelingender gesellschaftlicher Verkehre, Verständigungen, Einhaltungen und
Identifikationen, und dem anderen Wissen des tagtäglichen Lebens, das von Hierarchien,
Zuständigkeiten, von Recht- und Schuldigsprechung ausgeht, für das es ‚Das
warst du, das war er, das war ich, vorallem: das
waren die anderen‘ gibt.
Die Frage wäre also, jenseits eines theoretischen Zynismus oder einer
Wiederbelebung dichotomischer Weltbilder, diese: Kann
man auf das Syndrom Schuld verzichten, wenn davon ausgegangen wird, daß nicht das Subjekt, sondern die in
Ereignisse aufgelöste Zeit der Handlung ihre Individualität gibt?; wenn
davon ausgegangen wird, daß die Adresse, die man ist für den Vollzug von
Gesellschaft, nichts ist, was auf irgend etwas zurückweist, daß man Ich nennt?
Tucholsky sagte einmal, es gebe keine Schuld (in: Derselbe, Schnipsel. Hg. v. W. Hering u. H. Urban,
erw. Ausg., Reinbek 1995, p292 (Nr.2519)); es gibt nur den Ablauf der
Zeit. — Muß man also mit der Zeit beginnen als letztes großes Medium, um dann
von da aus die Formenbildung geschichtlicher, gesellschaftlicher und psychischer
Art in den Blick zu bekommen? Wenn es stimmen sollte, daß die genuin
ökonomische Vorgabe der ‚just in time‘-Produktion
sich sozial und psychisch ausgeweitet hat, sich also in den letzten 10 Jahren
eine Konsolidierung des alten Marxschen Satzes ergeben hat, des Satzes, daß
alle Ökonomie letztlich Ökonomie der Zeit sein wird, und daß an Begriffen wie
Kontaktgesellschaft (versus Kontraktgesellschaft), Pointcasting (versus Broadcasting), Erlebnisgesellschaft (versus
Arbeitsgesellschaft), und an der Auflösung eher statischer Bindungen (der Arbeitszeit,
der Intimbeziehungen, der Wohnorte) und organisierter Einheiten
(Gewerkschaften, Parteien, Überzeugungen) ablesbar ist, daß vormals stabile,
verläßliche Strukturen ihr resistentes Verhältnis gegenüber Zeitlichkeit
auflösen und man sich immer mehr von Fall zu Fall, von Ereignis zu Ereignis,
von Zeit zu Zeit, von Kombination, Auflösung und Rekombination, von momentaner
Gebundenheit statt kollektiver, allgemeiner Verbundenheit über die Zeit zu
retten hat: Warum dann noch im Ich einen erkennbaren Halt ausmachen und die
Haltestelle Ich mit Schuld versorgen, damit es sich selbst nicht verwechselt?
Diese Fragen zu stellen heißt eigentlich nur, dafür zu plädieren, bei
der Frage nach Schuld nicht mehr davon auszugehen, daß der Schöpfer vor einer
Schöpfung steht, in der sein Abbild nicht mehr zu erkennen ist; nicht davon
auszugehen, daß er vor zerbrochenen Lebensgemeinschaften, vor List, Betrug und
gegenseitiger Unterdrückung steht; und also nicht davon auszugehen, daß der Riß
durch alle Beziehungen, aber auch durch jeden einzelnen Menschen hindurch geht
im Sinne von (Röm 3,12): „Alle haben gesündigt.
Keiner ist gerecht, auch nicht einer“. – Sicher ist zu klären, inwieweit Ungerechtigkeit
mit Schuld in Verbindung steht. Geklärt scheint mir aber, daß Schuld als „Als-ob“-Identifikation immer weniger Individuen trifft, je
mehr ebendiese sich soziologisch verstehen.
(In Christoph Buggerts
Hörspiel Trilogie des bürgerlichen Wahnsinns
werden u.a. Menschen beschrieben, die töten, weil sie sich schuldig fühlen. Da
ist von einem normalen Vater die Rede, der wieder mal an das Bett seines schlafenden
Töchterchens tritt, um sich 10 Minuten an dieser flach ausgestreckten, ruhig
atmenden Unschuld zu erfreuen; dem sich dann plötzlich die Frage stellt, ob er
überhaupt das Recht habe, sein schwaches, durch und durch von Subalternität und Kleinmut zerfressenes Leben in die
nächste Generation hinein zu verlängern; der dann durch allerlei Selbstanklagen
den Spiegel der Scham bis unter die Hirnschale hinauf anschwellen läßt, sich daraufhin
entscheidet, daß es so nicht mehr weitergehen könne, aus der Küche mit einem
Messer zurückkehrt zur schlafenden Tochter, ihr mehrmals in den Hals sticht
und das hervorschießende Blut in sich aufzunehmen versucht, weil, ja weil er
seine eigene Mediokrität und Schändlichkeit in sich
zurücktrinken mußte: um die Korrektur eines Makels, nicht um ein Verbrechen
habe es sich handeln sollen.
Oder: Die Stationsärztin, die in der Zeitung die
kleine Nachricht liest, nach der ein Observatorium dreitausend bisher
unentdeckte Milchstraßensysteme photographiert hat; diese Nachricht habe nun
in ihr einen Sogeffekt erzeugt: Ihr kam es vor, als haben sich diese 3000
Milchstraßensysteme ihrer bemächtigt. Seitdem wuchs eine innere Scham in ihr,
genährt durch die total vernichteten und ausgelieferten Gesichter abends in
der U-Bahn, genährt durch die bis zur Wehrlosigkeit leergesaugten Blicke,
genährt durch die geräderten Körper, die sich mit letzter Kraft auf die Wohnungen
am Stadtrand verteilen. Gefüllt also mit der Scham über den trostlosen Ernst,
mit dem wir unsere eigene Zerstörung betreiben, mußte sie den 3000 neuentdeckten
Galaxien ein Zeichen geben, daß wir zumindest unsere Verirrung zu durchschauen
vermögen: Unsere Ehre habe sie retten wollen vor allen, die der zu Fall
kommenden Welt von außen zusehen. Sie tötete daraufhin innerhalb von 4
Monaten 13 Patienten durch Injektion von Curare:
Sühneopfer.
Beide, Vater und Nachtschwester, töteten, weil
sie maßlos Schuld auf sich genommen haben. Ihre Maßlosigkeit ist nichts sonderbares,
sie ist der Schuld inhärent, solange sie aufs Subjekt umgebrochen wird. In der
Schuldübernahme kommt das transzendentale Subjekt, das in sich die Welt birgt,
zu sich. Das hat ersichtlich nichts mit der Verfasstheit von Gesellschaften zu
tun, wie wir sie gegen Ende des Jahrhunderts vor uns sehen.)
Schlußsatz:
Von Emile Michel Cioran
stammt der Gedanke, daß in dieser Welt noch nie jemand am Leiden des Andern
gestorben sei. Das gilt wohl im großen und ganzen auch
für Schuld: daß in dieser Welt noch nie jemand an der Schuld des Andern
gestorben sei. Es wäre wünschenswert, wenn immer mehr Menschen es schaffen würden,
sich nicht mehr dadurch symbolische Existenz zu verschaffen, indem sie sich
selbst gegenüber oder anderen gegenüber schuldig machen. Dringlicher aber wäre
es, daß Menschen aufhören, andere schuldig zu sprechen, um Ich sagen zu können.
Das Hilfsmittel dafür ist die Anerkennung, daß es die soziale Zeit ist, die das
produziert, was man sich selbst oder anderen zumutet. Und diese soziale Zeit
erzwingt für immer mehr Menschen, sich das Attribut der Überflüssigkeit
anheften zu müssen, sich von der Selbstliebe zu emanzipieren, Subjekt ohne
Subjektivität, also monströs zu werden. Ob das eine Befreiung von der Last bestimmter,
geschichtlich obsoleter Ordnungsformen des Sozialen und der Psychen sein könnte
oder vielmehr das Entrée in ein transgrediertes
Überleben, weiß ich nicht zu entscheiden.
[1] Dieselbe, The Chrysanthemum and the Sword. Patterns of japanese
Culture, London 1967
[2] Th.
Metzinger, Niemand sein. Kann man eine
naturalistische Perspektive auf die Subjektivität des Mentalen einnehmen?,
in: S.Krämer (Hg.): Bewußtsein. Philosophische
Beiträge, FFM 1996, p130-154, hier: p147 + 153.
[3] J. Lacan,
Das Ich in der Theorie Freuds und in der Technik der Psychoanalyse; Das
Seminar, Buch II, Weinheim/Berlin 1991 (2. Aufl.), p284.