Die Leidenschaft der Selbstverachtung

Bernd Ternes

 

 

 

Ich will nicht den Eindruck vermitteln, etwas über Leidenschaft als Selbstverachtung zu sagen. Ich möchte eigentlich nur auf eine bestimmte Topographie innerhalb des psychosozialen Universums hinweisen, auf einen Topos, der sich nicht mehr mit Adornos Beschreibung deckt, nach der das masochistische Vergnügen, kein Ich mehr zu sein, genau die Rolle eingenommen habe, die vorher der Narzißmus inne hatte, als das Ich als libidinöses Objekt noch nicht zerfallen war; auf einen Topos, der sich aber auch nicht deckt mit der Beschreibung des Individuums als einer Wunschmaschine, die nur noch von dem Wunsch angetrieben wird, die unendliche Erniedrigung des Daseins wie die unendliche Qual des Sterbens abzukürzen in einer Welt, in der es längst Schlimmeres zu fürchten gibt als den Tod, nämlich das Leben. Olfaktorisch gesprochen: Zwischen dem wesenden Individuum, das nicht mehr seinen eigenen Verwesungsgeruch riechen kann, und dem wesenden Individuum, das seinen Verwesungsgeruch nicht mehr riechen will, könnte ein Individuum hausen, das sich an den eigenen Gestank gewöhnt in dem gleichen Maße, wie er zunimmt. Die Zwitterfassung dafür wäre vielleicht eine leidenschaftliche Selbstverachtung. Nach meiner jetzigen Erfahrung oder besser Nichterfahrung spielt es für das Einsetzen oder Aussetzen dieser leidenschaftlichen Selbstverachtung keine Rolle, ob man geliebt wurde, während man liebte, ob man nur liebte, ohne geliebt worden zu sein, ob man nicht geliebt hat, während man geliebt wurde. Will sagen: Liebespassion, Liebesintimität, Vermählung und dergleichen bleiben Parasiten – wenn auch mächtige – der Art der Selbstbeziehung. Das gilt – ich spreche als Mann – nur für eine Ausnahme nicht: für diejenigen Männer, die tatsächlich Frauen lieben, so lieben, wie Dantons Marion die Männer liebte („alle Männer verschmolzen in einen Leib“): Männer, die Frauen lieben, müssen soviel Verachtung der Frau gegenüber vor sich und ihr verbergen, daß ihnen kein Platz mehr bleibt für die Selbstverachtung. Nun gut.

 

 

I

 

» Die beste Verwahrung gegen Leidenschaften aller Art ist

nahe, gründliche Bekanntschaft mit dem Gegenstand. «

Johann Gottfried Seume

 

 

Leidenschaft hat im alldaylife immer einen kleinen Bonus parat für das, was sie adjektiviert. Es glänzen nicht nur die Augen des Leidenschaftlers, wenn er von seinem Sammeln, seiner Liebhaberschaft, seinem Engagement spricht, sondern auch die des Zuhörers. Nehmen doch beide teil an etwas, was sich auf eine implizit hoch angereichterte Form sowohl der Kontingenz als auch dem Zwang entzieht und einen eigenartigen dritten Horizont öffnet, in dem man zwar nicht mehr Herr seiner Sinne ist, aber auch nicht seinen Sinnen unterworfen; zwar nicht mehr auch anders könnte, aber auch nicht notwendigerweise das tun muß, was man tut. Leidenschaft läßt sich scheinbar nicht gradualisieren, nicht einordnen in eine Spanne, die auf der einen Seite markiert ist mit Kontingenz/ Indifferenz (entweder man hat sich zu etwas zu entscheiden, oder es reicht das vegetative Nervensystem aus, etwa beim fernsehen), und auf der anderen Seite markiert ist mit den Begriffen Pflicht/Zwang/Sucht (unübertroffen Peter Lorres Darstellung des Kindermörders in Fritz Langs „M. Eine Stadt sucht einen Mörder“ von 1931, als er vor dem ‚Ganovengericht‘ sein „Ich will nicht, ich muß. Ich muß!“ herausschreit).

Sogar das Recht kann sich ein Verbrechen aus Leidenschaft vorstellen und die überzeugt dargelegte Leidenschaftlichkeit der Tat als strafmildernd vereigenschaften, ohne an der Zurechnungsfähigkeit des de jure-Individuums Abstriche vorzunehmen (was bei konstatierten psychischen Defekten statt hat): Das leidschaftlich tätige oder zumindest motivierte Rechtssubjekt behält seine vollständige personale Integrität.

Und erst recht in der Wissenschaft hat die Leidenschaft ein derart komplexes standing, eine derart großes Oppositionsmandat gegenüber der Koalitionsregierung Logik, Rationalität, Reliabilität und intersubjektiver Approximation an Objektivität – das Seume-Zitat setzt Leidenschaft und Wissen beinahe in ein Ausschließungsverhältnis –, daß auch weiterhin die folgenden Sätze Webers stellvertretend für die Uneindeutigkeit der Bewertung von Leidenschaft in der Wissenschaft gelten: Einerseits: "Bei jeder beruflichen Aufgabe hat der, welchem sie gestellt ist, sich zu beschränken und das auszuscheiden, was nicht streng zur Sache gehört, am meisten aber: eigene Liebe und Haß". Aber: "Ohne [...] diesen Rausch, diese Leidenschaft [...] hat einer den Beruf zur Wissenschaft nicht und tue etwas anderes. Denn nichts ist für den Menschen als Menschen etwas wert, was er nicht mit Leidenschaft tun kann" (Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hg. von J. Winckelmann, Tübingen 31968, p494 und p589).

Nochmals: Egal, ob im Alltag, im Recht, in der Wissenschaft (die Kunst habe ich jetzt außen vor gelassen: hier gehört Leidenschaft nach Meinung von vielen eo ipso zu den Bedingungen zur Ermöglichung künstlerischer Aktivität überhaupt) oder sonstwo: immer, wo Leidenschaft als Eigenschaft ausgemacht wird, scheint sich das Tun, Lassen, Erleben und Empfinden einwenig zu veredeln, bekommt eine gewisse Dignität, wird ein Wert an sich, ja sogar Ziel vieler Anstrengungen. Zumindest für diejenigen, denen die ‚Pflicht und Schuldigkeit‘ nicht mehr im Nacken sitzt, weil sie sich vorstellen können, daß Pflicht und Neigung, Pflicht und Leidenschaft problemlos in eins fallen können. – Leben, so Viktor von Weizäcker, heißt nicht mehr und nicht weniger, als leidenschaftlich nicht tot sein. Leidenschaft scheint eine besondere Klebefläche für Lebendigkeit zu besitzen.

Nun scheint es also ausgemachte Sache, daß Leidenschaft in ihrer begrifflichen Dimension einen gewissen ästhetischen, einen ethischen, einen Lebens-Bonus mitschmuggelt. Oder ist es nur einer normalen konventionellen Sprachregelung geschuldet, Leidenschaft nicht als maligne, nicht als Malusträger zu betrachten (natürlich abgesehen von der amour fou, von der Leidenschaft, die den Tod ignoriert)? Man kennt das vom Begriff des Rhythmus: Auch dessen Erreichen, Einhalten und Erleben scheint, egal, worum es sich handelt, per se etwas Gutartiges an sich zu haben. Man fragt einfach nicht nach möglichen Rhythmen des Tötens, des Verzweifelns, des Analysierens, des Zerstörens, des Mißlingens. Und wenn, dann unter anderen Begriffen: Wiederholungszwang, Traumatisierung, Fixation usw. Diese einseitige Wertung des Rhythmus läuft darauf hinaus, Rhythmus per se als Ausweis des Lebendigen, des Lebenwollens zu deuten, ihn also nicht  indifferent zu halten gegenüber der Frage, ob Rhythmus eine Eigenschaft des Lebens ist oder eine des Sterbens. – Ähnliches hat meines Erachtens mit dem Begriff Leidenschaft statt: Man fragt nicht nach möglichen Leidenschaften etwa des Täuschens, des Verletzens, des Verachtens und des Selbstverachtens. Auch dafür stehen wieder andere Begriffe bereit, andere Vokabulare, die den infragestehenden Sachverhalt günstigenfalls psychologisierend, in der Regel wohl jedoch pathologisierend zu beschreiben und zu erklären suchen.

Kann man sich eine leidenschaftliche Selbstverachtung vorstellen, bar Pathos, bar Koketterie, bar Symptomatisierbarkeit? Und woher nähme sie ihre Glut? Oder schaffte es solch eine Leidenschaft nur bis zur Geste, zur Andeutung, zum Epigrammatischen, weil sie, als richtig praktische Paradoxie, reflexiv nicht auszuhalten wäre? Wäre sie fähig, Leiden zu produzieren, genau weil zu wenig Leidenschaft im Spiel ist? – Sicher hört man hier etwas heraus, was mit der Selbsterfahrung des Bewußtseins zu tun hat, oder auch mit der Erfahrung der eigenen Erfahrungslosigkeit; worum es aber geht, ist dies: Gibt es eine eigenständige Leidenschaft der Selbstverachtung, weil man weder fähig ist, sich selbst zu lieben, noch fähig, sich selbst zu zerstören? Also weder »leidenschaftliche Wärme noch leidenschaftliche Kälte.« (Novalis), aber trotzdem etwas, das nicht ausschließlich mit der Frage „Was steckt dahinter?“ bespielt werden müßte?

 

 

II

 

»Wahre Leidenschaft erkennt man daran, daß sie

den Menschen, den sie erfaßt hat, zerstört,

wenn ihr Gegenstand unerreichbar ist

Carl Jakob Burckhardt

 

 

Während nach Seume das Feuer der Leidenschaftlichkeit eines Menschen für Objekte, Sachverhalte, Handlungen, Erlebnisse usw. gelöscht wird durch die nahe und gründliche Bekanntschaft mit eben dem Leidenschaftsagens, er damit also implizit Wert darauf legt, Leidenschaft eher als ein Vermögen der Erfahrung denn als ein im Form-Imaginären zu sich kommendes Bedürfnis auszuzeichnen (die Leidenschaft als ‚Gegenstand‘ läßt sich durch die Erfahrung des leidenschaffenden Gegenstandes noch irritieren), forciert  Burckhardt dies in gewisser Weise noch, indem er die elementare Angewiesenheit der Leidenschaft auf Verkörperlichung, auf Realisierung, auf Habhaftwerdung so stark zum entscheidenden Kriterium ihrer Wahrhaftigkeit macht, daß sich die Erfahrung auch noch ex negativo als bestimmender Modus hält; da hilft kein Erinnern, Wiederholen und Durcharbeiten, kein Meditieren und Flüchten, kein „Es mit sich selbst ausmachen“. Aber nicht nur, daß Burckhardt Leidenschaft wohl unauflösbar verkoppelt mit dem Umgesetztwerden, dem Entfernen von widerständiger Welt, also Leidenschaft landen läßt in derjenigen Realität, die die Vorstellung immer und immer wieder der Wahrnehmung aussetzt, macht seinen Vorschlag, Leidenschaft zu umschreiben, so anspruchsvoll und immer noch diagnostisch wertvoll (dazu später). Vielmehr liegt bei ihm die Hürde deswegen so hoch, weil er in die wahre Leidenschaft einen point of no return einbaut, einen Moment, in dem man alle Brücken hinter sich abgebrochen haben muß, eine Stelle, die zu einem totalen „Alles oder nichts“ zwingt, eine Nacht, aus der herausgetreten man seinen Namen wechseln muß. Und die Hürde liegt deswegen so hoch, weil Burckhardt – so lese ich es zumindest – der Leidenschaft eine inhärente Ungewißheit auf Erfüllung, auf Erreichung, auf vorübergehende Stillung einbaut, so, als ob die Unsicherheit, die Leidenschaft überhaupt wahrnehmen zu können (wahrnehmen im Sinne von ‚einen Termin wahrnehmen‘), zur Bedingung der Ermöglichung der Leidenschaftlichkeit gehört. – Ein wahrer Leidenschaftler würde sich also dadurch zu erkennen geben, daß er auf die Frage, ob er wisse, daß er sich der Gefahr aussetzt, selbst zerstört zu werden, antwortete: ‚Ja‘ bzw. ‚Das ist mir gleichgültig‘. Es verhält sich hier mit der Leidenschaft vielleicht so wie mit dem Wollen: „wüsste man, wie das geschieht, was man wollen nennt, dann wüsste man schon insofern nicht, was man wollen nennt, als man nichts wollen kann, wenn man weiss, wie das geschieht, was man wollen nennt“, so Franz Josef Czernin. Heißt das aber, Leidenschaft sperrt sich dem Wissen, gar der Reflexion?

Nun gibt es sehr viele, keineswegs in Gram eingehüllte, keineswegs verharmte, keineswegs vertrocknete Menschen, die von sich behaupten können, wegen eines gebrochenen Herzens, nicht trotz eines solchen doch eigentlich recht unzerstört zu leben und gelebt zu haben. Und auch nicht wenige haben keine außergewöhnlichen Probleme, zu denen zu gehören, die Leidenschaft als Jugendsünde abtun und damit die Vernunft zur Alterserscheinung degradieren (Hans Kasper).

Die Mehrheit jedoch – das ist meine Vermutung, gestützt auf meine Perspektive auf das, was bürgerliche Existenz geheißen –, die Mehrheit also identifiziert sich ohne Wenn und Aber pejorativ mit dem koreanischen Sprichwort »Ein Raum, der sich leicht erwärmen läßt, wird auch leicht kalt«: Und leidet darunter. Die Mehrheit der Bürger leidet darunter, nicht so leidenschaftlich zu sein, sich nicht solch eine Leidenschaft zu leisten, wie es die Burckhardtsche Fassung nahelegt. Und gleichzeitig kann sie diesen überfordernden, diesen das Selbst überschreitenden Anspruch an die wahre Leidenschaft nicht vergessen, nicht aufgeben, zwar pragmatisieren, variieren, modifizieren, realpolitisieren, aber es hilft nichts: Die Begegnungen mit ihm sind unvermeidlich. Diese Mehrheit der Bürger umschrieb Hans Peter Dreitzel einmal so (Haben und Sein. Notizen für die unterdrückte Seite, in: Günter Dux/ Thomas Luckmann [Hg.]: Sachlichkeit. Festschrift zum achtzigsten Geburtstag von Helmuth Plessner, Opladen 1974, p169-174):

 

„Hast Du nichts, bist Du nichts: das Bürgertum hat das Haben auf den Besitz gebracht. Das Sein als defizienter Modus des Habens, als sein bloßes Negativ. || Ich bin nicht, weil ich habe, ich habe nicht, weil ich bin: das ist unsere Welt“ (p172).

 

Und (p174):

 

„Anthropologisch sind Haben und Sein verschränkt; historisch geraten sie meist außer Balance. Heute habe ich, was ich nicht bin, und bin nur, was ich nicht habe. Das Haben hat sich verselbständigt, der instrumentale Aspekt obsiegt. || Selbst die Habgierigen sterben aus. Wir haben schon genug, wir sind nicht gierig. Wir haben genug. [...] Nur auf dem Umweg über andere hat sich der Mensch. Nur auf dem Umweg über sich selbst ist der Mensch“.

 

Was jetzt?

Was passiert jetzt, wenn man zu denen gehört, bei denen nicht mal mehr durch Leiden Erkenntnis produziert wird, aber auch nicht der Wahnsinn einsetzt, obwohl er für nichts anderes zu stehen scheint denn für einen Kummer, der keine Entwicklung mehr erlebt (E. M. Cioran, Die verfehlte Schöpfung, dt., FFM 1979, p100 + 97)? Nach Hans Peter Dreitzel passiert eine Lähmung, ein auf Eis gelegtes Getriebensein, eine Selbstunterdrückung, die als letzte Form noch rumort, sich noch raffiniert, aussichtslose Versuche, sich mit dünner Haut dickes Fell zuzulegen. Unter dem Titel „Angst und Zivilisation“ (Reader der Arbeitstagung ‚Ungewollte Selbstzerstörung? – Soziologische Zugänge zum Verständnis und zur Abwehr von Entwicklungsprozessen, die in weltweiten Katastrophen enden‘ des Instituts für Soziologie der FU Berlin, 25.11. bis 27.11.1988, p1-35, hier: p23f.) bestätigt Dreitzel Burckhardts Leidenschaftsbeschreibung, nimmt ihr dabei jedoch jeden romantisch-heroischen Beigeschmack, mehr noch: läßt sie zu Sprengstoff werden. Dreitzel schreibt:

 

„Es ist meine These, daß die Menschen in den Industrieländern durch die Kraft ihrer Selbstzwangsapparatur wie durch die übermächtige Komplexität der Handlungsketten doppelt gelähmt sind. Daß es ihnen dabei gut geht, ja besser als jeder vorangegangenen Generation geht, ist ihnen offensichtlich kein Trost, sondern bloß Ablenkung. Wie manches psychische Leiden, so wird offenbar auch diese Lähmung umso spürbarer, je länger und je besser ernährt man lebt. Und sie wird auch umso spürbarer, je augenfälliger für jeden die Totalität der Bedrohung inmitten des Wohllebens wird: der Angstpegel steigt. Und diese Angst wird abgewehrt. Ich glaube durchaus, daß einige der in der klinischen Psychologie beschriebenen Abwehrmechanismen auch soziologischen Erklärungswert besitzen. Allen solchen Abwehren zugrunde aber liegt die Selbstunterdrückung überhaupt. Paul Goodman [...] hat das bereits 1952 – Auschwitz und Hiroshima waren noch ganz nah – in eindrucksvoller Weise formuliert: ‚Der sich selbst unterdrückende Mensch, der zivilisierte Mensch also, muß die Sehnsucht nach Hingabe, den Wunsch nach der letzten Befriedigung, nach dem Orgasmus [..] als Wunsch nach totaler Selbstzerstörung‘ interpretieren.“

 

Man könnte – um jetzt gleich zu schließen – diese Diagnose für all die Bürger zutreffend finden, die es nicht geschafft haben, eine Jean Paulsche Selbstironie zu entwickeln, die es nicht mehr schaffen, zu beten – denn dafür, so eine chinesische Weise, habe man vorher alle Leidenschaften zu töten –, die sich nicht durchringen können, im Mitleid die beste Leidenschaft zu empfinden, die ihre Selbstverachtungsleidenschaft, ihre Selbstzerstörungsleidenschaft nicht mehr mit einer anderen Leidenschaft heilen können (das einzige, was überhaupt heilen kann, so Ludwig Börne), bei denen Trennung matte Leidenschaften nicht verkümmern und starke nicht wachsen läßt (so Françoise Duc de la Rochefoucauld), kurz: für all die Bürger, die zu den vormals revolutionären Horizonten, die die bürgerliche Emanzipation wie verkümmert auch immer mit sich brachte, solch ein Verhältnis haben wie der Heiner Müllersche Prometheus zu seinem Befreier Herakles (wie bekannt wehrt sich der Müllersche Prometheus gegen seine Befreiung durch Herakles, der ihn vom Fels ablösen will). Aber: Sie blieben Bürger, d.h. – wenn ich grobschlächtig sprechen darf: sie blieben bis auf weiteres harmlos resp. noch weitgehend den sozialen und rechtlichen Sanktionen subsumiert. Ihre Selbstverachtung war noch diplomatibel, einfangbar in konventionelle Abrüstungrituale. Um nicht mißverstanden zu werden: Er ist weiterhin als eine noch nicht explodierte explosive Bombe anzusehen, der Bürger. Die Lunte ist aber noch in der Regel feucht (im Gegensatz zu manch anderem).

 

Aber was passiert mit solchen Menschen, die nicht mehr die bürgerliche Anonymität nutzen können, um das Schädigen und Verachten auf die eigene Person zu beschränken? Denen Bildung nicht mehr hilft, beim ‚Alles herunterschlucken‘ den Kotzreiz zu unterdrücken? Bzw. was passiert mit denen, die mehr oder weniger zufällig in deren Nähe sind? – Daß ich jetzt auf die Amok-Kinder und Amokjugendlichen zu sprechen komme, die in den letzten Monaten verstärkt in den Nachrichten auftauchten, ist keinem modischen Gedanken geschuldet noch ein implizites Hochlebenlassenwollen der Bürgerlichkeit sozialer Ordnung. Im Gegenteil: Sie sind bloß die andere Seite eines sich modernisieren müssenden Individuums, das sich als flexibel, volatil, allseits einsetz- und einsatzbereit, vollkommen gleichgültig gegenüber bestimmten Kontexten, Texten und Diskursen zu restrukturieren, besser: zu entstrukturieren hat. Aus den alten Bomben mit langer, feuchter Lunte werden Zeitbomben, werden Menschen, die man, so Wolfgang Pohrt, außer mit dem Messer nicht verletzen kann (in: konkret, 1/2000, p26f.):

„Menschen ohne Gewissen, ohne Selbst, ohne Scham und ohne Würde kann man außer mit dem Messer nicht verletzen. Man kann sie weder bloßstellen noch kränken, weil hinter der Fassade oder der Maske nichts ist. Sie brechen nicht zusammen, und es bricht keine Welt für sie zusammen, wenn ihnen bewiesen oder wenn öffentlich bekannt wird, daß sie verächtliche kleine Schurken sind.“

 

Leidenschaft ist in der moralischen Welt, was in der physischen die Bewegung, sagte Karl Julius Weben. Ist die Leidenschaft der Selbstverachtung noch Erinnerung an Bewegung im Stillstand, ist sie der Restposten der Erinnerung an eine moralische Welt, die, wenn nicht im Verschwinden begriffen, zumindest immer schwerer aufzufinden ist (ich meine hier natürlich Gerechtigkeit)?

Und, um damit zu schließen: Kann man sich Immunsysteme, zu denen immer mehr Menschen in ihrem Erleben und Handeln werden, kann man sich also Immunsysteme als leidenschaftliche vorstellen? Oder sind Immunsysteme nichts anders als Leidenschaften, die nicht mehr fliehen konnten?