Bernd Ternes
„Aber
wenn wir in einer Kultur der Verleugnung den Erkenntnisfortschritt verdrängen,
taucht das tabuisierte Wissen wie ein Dämon aus dem
Unbewussten in der Lebenswelt wieder auf – in Form neuer Technologien“
Interview
mit Thomas Metzinger in: DIE ZEIT, 16.08.2007/Nr.34, p31
„Im
Jetzt ist also nicht das, was war, wie es war, noch das, was sein wird, wie es
sein wird, sondern die Entrückung des Gewesenen
und
das Unvordenkliche des Offenen“
José
Sánchez, Der Geist der deutschen Romantik, München 1986, p27
„Industriestaaten
kämpfen gegen den Crash“ (Überschrift des Eingangsartikels auf Spiegel online,
08.08.2011,
http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,778884,00.html)
Dies ist der zweite von insgesamt drei Teilbänden
des Einführungsbuches zur „technogenen Nähe“, der sich, nach Einführung in die
und Durchsuchung der begrifflichen Umgebungen technogener Nähe im ersten Band,
nun der Durch-, aber noch nicht einer abschließenden Verführung widmet – und
der gleichsam den Skizzen-Status der Aussagen nicht übersteigt, also weiterhin
nur beansprucht, ‚Schatten’ des Themas zu konturieren. Dieser Teilband stellt
sich für die Ausrichtungen „Intensität durch Technik“ sowie „Nähe durch
Technik“ der Durchführung in Form einer Anwendung der sogenannten Textinstrumente,
die im ersten Teil vorgestellt und als hilfreich angesehen wurden, um dem Term
„technogene Nähe“ Spuren und Horizonte zu entlocken, die nichts mit einer
Fetischisierung von Nähe[1],
nichts mit „Familiarisierung, Simplifizierung, Polarisierung, Melodramatisierung
und Visualisierung aller Themen“[2]
zu tun haben sollen. Die dritte und damit alle Ausrichtungen zu einem
Triumvirat komplettierende Thematik, „Sozialität durch Technik“, wird ob
privater Schreibumstände und weit ausholendere Rechercheaufgaben denn gedacht
im dritten und letzten Teilband der Einführung vorgestellt werden müssen. In
diesem soll schließlich in der letzten, „verführenden“ Ausrichtung der
Zusammentrag in einem erneuten Beleuchten der bekannten Denkfigur namens „Techniker
Mensch“ zu sich kommen.
Die folgenden Sätze gehen weiterhin davon
aus, daß es nicht sinnlos ist, im Rahmen einer Kategorik des Sozialen (und
nicht: des Ökonomischen, des Metaphysischen, des Neurophysischen etc.) dem
Verhältnis von Mensch und Technik auf die Spur zu kommen – im Wissen, daß die begriffliche
und soziale Zerrüttung/ Differenzierung des Wortes und der Realie „Gesellschaft“
fortgeschritten und gegenwärtig in Auszügen schon beim Begriff Vergesellschaftung
(statt Gesellschaft) und bei der Realie namens Ligen-Bildung (statt
gesellschaftliche Synthesis/ Differenzierung) angekommen ist.
Soziale Kategorien sind begriffliche
Fassungen für soziale Strukturen (Verarbeitungsmuster sozialen Erlebens/ Erfahrens/
Erwartens), die sich automatisch ergeben, wenn Menschen miteinander in
bestimmten Formen der Gesellung umgehen und zugleich umzugehen haben mit
ebendiesen Formen, mit denen allerdings keine Interaktionen möglich sind, so
daß ein unabschließbarer Koordinationsbedarf besteht von: einerseits der Koordination
der Menschen in den
Formen, und: andererseits der Koordination der Menschen mit den Formen. Soziale Kategorien
sind also Koordinationskoordinationen mit einer bis auf weiteres
unbeobachtbaren Komponente, nämlich der Gesellungsform selbst. Für diese
unbeobachtbare oder zumindest nicht beobachtete Gesellungsform soll im Begriff
der technogenen Nähe ein mögliches Medium vorgestellt werden. Der Gedanke ist
also, daß es weiterhin sinnvoll ist, auf das Soziale, auf soziale Beziehungen
als maßgebende Ursache zurückzugreifen, wenn man Vorgänge, Gruppen, Populationen,
Semantiken, Handlungen begreifen möchte, die nicht durch Addition von
Individualitäten, sondern durch „Emergenz“, durch Umsprung von Quantität zu
Qualität entstehen – und damit nirgends einen ihnen zukommenden Identifizierungsausdruck,
einen Träger quasi, ihr eigen nennen; ein Grund übrigens, warum so etwas wie
Soziologie einmal entstanden ist. Mit der Technik soll nun ein möglicher
Bildner der Gesellungsform in den Blick rücken, die bis dato unbeobachtbar war
(aus einer humanistischen Perspektive freilich, nicht aus einer soziobiologischen[3]),
und für die die Deckadressen Arbeit, Sprache und Vernunft zuständig waren.
Im Mittelpunkt steht die Annäherung an
das, vielleicht gar „Aufhellung“ des Syndroms Intensität–Nähe–Technik (das hier
als Derivat und „Transzendentat“ des Syndroms Pflicht–Anerkennung–Arbeit
konzeptualisiert wird). Diese drei Begriffe markieren drei verschiedene
Tableaus, Ansätze, Ebenen der Inblicknahme und der „Rahmensetzung“:
Intensität
steht ein für eine „daseinsanalytische“ Fokussierung des Themas – also für das
Gewahrwerden von Vergänglichkeit als die weiterhin entscheidende Form des
Prozesses der Endlichkeit des Menschen und seiner Aktivitäten; des weiteren
verlangt Intensität eine massive Gestaltung immersiver Mit- und Umwelt – als
Ersatz und Ausgleich für die in der Innenwelt („Moral“, „Ich-Identität“) zu
installierende Pflicht, deren immersive Grammatik allerdings kaum mehr in
Gestalt der kategorischen Verinnerlichung zu vermitteln ist.[4]
Nähe steht ein für
eine kulturanthropologische Fokussierung – also für das Gewahrwerden einer
unabschließbaren und nicht substituierbaren Angewiesenheit des Menschen auf
Mit-Welt- und In-der-Welt-Sein sowie den dementsprechenden Einlösungen dieser
Angewiesenheit entweder in/mit interaktionistischer oder gesellschaftlicher Manier/
Mentation; zugleich verlangt Nähe in der technogenen Fassung eine (allerdings
schwierig zu bewerkstelligende) Entkopplung von Zugehörigkeit und sozialer
Anerkennung sowie eine klare Trennungslinie zwischen Nähe und Intimität[5]
resp. eine ebensolche zwischen bisher bekanntem „Mitgefühl“ und technogenem[6];
Technik schließlich
steht ein für die gesellschaftstheoretische/ soziologische Fokussierung des zu
verhandelnden Problems – also für die Entscheidung, die Befriedigung der
Nähebedürfnisse des Menschen nur in/mit gesellschaftlicher Manier/ Mentation
einlösbar zu sehen –, so man weiterhin ein Interesse daran hat, daß Menschen
gesellschaftlich, d.h. hier: grundlegend anonym organisiert werden, und nicht
in Ligen, in korporatistischen Gemeinschaften oder in religiösen/
weltanschaulichen Bünden[7]
und Banden. Oder etwas ausführlicher: „Tribalistische, völkische, rassistische,
religiöse Attacken aufs Bestehende, Rebellionen, die nach Dorfgemeinschaft,
Scholle, Urkommunismus oder überhaupt der Zeit vor der entwickelten
Arbeitsteilung stinken, verschärfen den katastrophalen Zerfall einer Weltgesellschaft,
die das Kapital erst bewußtlos hergestellt hat und die es jetzt ebenso
blindlings zerstört.“[8]
Die Entscheidung für Technik als soziologische Fokussierung schließt auch ein,
bei der Frage nach Entwicklungen von Anthropotechniken defensiv, bei der Frage
nach Entwicklungen von Soziotechniken offensiv Verbindungen zu suchen, die Bedingungen
bilden können für eine ‚Vergesellschaftung’ technogener Nähe;[9]
des weiteren setzt Technik als Ersetzung/ Erweiterung der Arbeit die Annahme
voraus, daß die sozial- und systemintegrativen Funktionen, die mit der Arbeit
verbunden sind (waren), nun schrittweise an die technisch hochvermittelte Kommunikation
übergehen. Als Basis übernommen wird die von Henri Lefebvre entwickelte Sicht
auf die Neubildungen von Systemen, Strukturen und Formen gesellschaftlicher
Praxis, Dynamis und auch Synthesis des 20. Jahrhunderts[10].
Lefebvre zählt dazu: die Alltäglichkeit, die ‚Welt der Bilder’, das Automobil,
die Technizität mit ihrer gesellschaftlichen Stütze, sowie das System des
Überlebens. Allerdings wird im Gegensatz zu Lefebvre angenommen, daß
Technik und technische Erfindungen zum Feld der Poiesis gehören, also als
Aneignung innerer und äußerer „Natur“ und damit als Schöpfung, als Kreation
einzuordnen sind.[11]
Im Begriff der technogenen Nähe soll der
Versuch unternommen werden, die Alltäglichkeit, die Bilderwelt und die
Technizität kurzzuschließen; und zwar mit der möglicherweise all diese
Neubildungen transformierenden Bildung resp. Gestaltung elektronischer,
computerisierter, virtueller Kommunikation auf der Grundlage einer neuen Warenform
sozialer Interaktion.
Die Probleme, Intensität, Nähe und
Technik im aufgeladenen Term der technogenen Nähe zu entfalten, rühren her von
der ihnen gemeinsamen (gegenwärtigen) Kontrafaktizität in bezug auf die
jeweilige Leistung, die ihnen hier theoretisch zukommen soll:
·
Intensität soll nun auch gelten und vor
allem realisierbar sein innerhalb von Daseinsbereichen, die maßgebend durch
Sinn und Pflicht orientiert werden;
·
Nähe soll nun auch dort sich einstellen,
wo Abstraktheit und Funktionalismus des gesellschaftlichen Verkehrs und Umgangs
im günstigsten Fall dazu führen, „den Anderen“ als Mittel zu behandeln (und nur
in Konflikt- und Ausnahmenfällen als Zweck, d.h.: als Rechtssubjekt[12]),
in der Regel jedoch „den Anderen“ vollständig ausschließen[13];
·
Technik schließlich soll nun als
integrative Klammer auch diejenigen sozialen und systemischen
Integrationsleistungen übernehmen, die bisher maßgebend durch staatliche,
erzieherische und gemeinschaftsnormierende Sozialisationspraktiken realisiert
werden.
Gewissermaßen werden Leistungen, die
sonst den Systemen der idealisierenden Semantik, der gewohnheitsmäßigen und
kontrolliert extraordinären Interaktion, der intimen und institutionalisierten
Anerkennungsspiele als Funktionen zugeteilt wurden, abgezogen resp. als
Techniken ‚entanthropomorphisiert’, um sie in der bisher als „Umwelt“ resp. als
Mittel/ Medium verstandenen Welt erneut zu performieren. Gleichzeitig werden bisher
als (Um-)Welt und nicht als Mitwelt verstandene Bereiche des Sozialen,
vornehmlich technische, interaktionsarme oder -freie Kommunikationen,
herangezogen als Potentialitäten zur Einlösung intensiver und nähe-stellender Bedürfnisse
– doch hier wäre das Etikett der Re- oder schlicht Anthropomorphisierung fehl
am Platze, da davon ausgegangen wird, daß mittels technogener Nähe eine
Konvergenz auf „den Menschen“ passiert, im Sinne von: daß die bisherigen, in Menschen
gearbeiteten Näheformate eine permanente Überlastung und Stressierung darstellen,
die mit den als möglich erachteten, in Technik gearbeiteten Näheformaten eine
Alternative erhalten, die nicht das Distanzbedürfnis erhöht (dialektischer
Modus), sondern das Bedürfnis nach Nähe auf der Höhe der gegenwärtigen
Zivilisationsstufe anzusprechen vermag (selegierender Modus).
Mit technogener Nähe, dies sei nochmals
betont, soll eine ernsthafte Alternative bedenkbar werden zur bisher einzigen,
quasi monopolistischen Skulpturierung menschensozialer Nähe, nämlich die der
raumzeitlich geteilten Interaktion; diese blieb immer maßgebende Referenz, auch
bei den Romantikern, den Monotheisten, den Gesellschaftspartizipationisten. –
Wer bei dem Gedanken, daß Menschen in die Lage versetzt werden sollen, mit
fernen, abwesenden „Dingen“ eine Nähe herzustellen, die ihr sozio-psychisches
Bedürfnis nach Zugehörigkeit, nach Geteiltsein, nach Erkannt- und Anerkanntwerden
befriedigt, an Animismus denkt, denkt m.E. richtig orientiert, indes sichtet er
den falschen Attraktor – doch dazu später mehr. Wer hier an die Marxsche
Analyse der verkehrenden Umstülpung von sozialen und sachlichen Beziehungen als
gesellschaftskonstituierende denkt, denkt gleichsam richtig orientiert, indes
gilt nicht mehr die klare Unterscheidung zwischen sachlich und sozial.[14]
Wer drittens und abschließend beim Gedanken einer Übernahme von Leistungen
„gesellschaftlicher Synthesis“ durch bisher randständige, ‚umweltliche’ und
nicht sozialsystemisch begriffene gesellschaftliche Agenturen des Handelns und
Beziehens an Geld denkt, denkt gleichsam richtig orientiert – indes gilt es
hier, den größten Unterschied zwischen Geld und (IuK-)Technik hervorzuheben,
nämlich daß die Erziehung durch Geld basal über Knappheit und die durch sie
bewirkte Aufhebung von Distanz („Globalisierung“) basal über nichtkultivierte
Aneignung gewährt wird (mit Geld können Menschen, Kulturen, Produkte,
Verhaltensweisen in Beziehung gesetzt werden, ohne „lernen“ zu müssen), während
die Erziehung durch IuK-Technik realiter nicht mehr durch Knappheit und Mangel
definiert werden muß (prinzipielle Schrankenlosigkeit der Vervielfältigung
durch einfaches „Kopieren“[15]),
und die Aneignung strukturell auf Kultivierung, zumindest auf Einhaltung der Regeln
zur Produktion von operationaler Sozietät angewiesen ist (gegenwärtig noch
unter „Communities“, „social network“ etc. subsumiert).
Gewiß ist dies eine zukunftsspekulative
Sichtweise, die für die Gegenwart und für die nahe Zukunft noch damit zu
rechnen hat, daß „der freie und offene Austausch von Wissen – das Recht auf
Wissen – grundsätzlich unvereinbar mit den Gesetzen der Marktwirtschaft ist“;
und die davon auszugehen hat, daß es „auf einem wirklich offenen Markt“ schon
deshalb „keinen kostenlosen Austausch von Wissen geben“ kann, „weil Kommunikationsmöglichkeiten
wertvoll sind.“[16]
Kurz: Die Annahme ist, in den
elektronisch vernetzten Kommunikationen, die nach ihren dezidiert
nicht-profitorientierten Anfängen mittlerweile weltweit politökonomisch organisiert
sind, weiterhin Möglichkeiten zu vermuten, die sich nicht den „klassischen“
gesellschaftskritischen Beobachtungen fügen, wonach die Individuen ihre
Selbstverwirklichung in der Verdinglichung zu suchen haben und alle Kulturgüter
durch und durch Waren werden müssen. Die stärkste „klassische“ Beobachtung
scheint mir Pier Paolo Pasolini Mitte der 1970er Jahre formuliert zu haben:
davon ausgehend, daß zwischen technologischem Kapitalismus und humanistischem
Marxismus keinerlei Dialektik mehr möglich sei[17],
sah er (maßgebend in Italien) im Übergang der Kultur zur Massenkultur eine
anthropologische Mutation wirksam[18],
die als Konsumismus weit ausgreifender denn der historische Faschismus jegliche
Form von Lebendigkeit und Freiheit der Menschen zerstöre (Pasolini spricht in
diesem Zusammenhang auch von „Völkermord“)[19]
– damit unterstellte er allen fortschrittlichen Idealen und dem Kampf von unten
eine totale Vergeblichkeit, ja mehr noch: er unterstellte Kollaboration. – Wie
kann man dieser Beobachtung etwas entgegensetzen, ohne zu beschwichtigen?
Das gesellschaftstheoretische Ziel
der Begriffsentfaltung technogener Nähe läßt sich in Anlehnung an die weit
praxisorientiertere und konzeptionell äußerst durchgehörte Arbeit der Knowbotic
Research-Gruppe in deren Worten so fassen: „Ziel wäre eine offene
Schnittstelle, die einen großen Handlungsspielraum zwischen öffentlichem
Zugang, exzessiven Manifestationen, konnektiven Konfrontationen und taktischen
Rückzügen ermöglichen würde. Solche mikropolitischen Schnittstellen, die neue
Formen der Gruppensubjektivierung und Heterogenisierung hervorbringen, müssen
entworfen, kodiert und aktiviert werden!“[20]
Auch das erscheint kontraintuitiv; denn wie soll es angehen, daß ausgerechnet
intensive, involvierende und technische Formationen mit geringer
Sprachvermittlungsabhängigkeit als Interface dienen sollen, um die Erfüllung
der gesellschaftlichen Bereitstellung von Sinn, Pflichtmotivation, Zugehörigkeits-
und Anerkennungspolitiken zu leisten?; denn ebendiese Bereitstellung war und
ist strukturell verbunden mit einer immensen sprachlichen Vermittlung und einer
hohen sprachlichen Aktualisierungsfrequenz (Alphabetisierung, „Lektionen“;
„symbolische Ordnung, Sinnverarbeitungszwang, Alltagkommunikation), deren
gegenwärtige Abnahme in der Gesellschaft sofort als Kommunikationsdefizit, gar
als Kommunikationspathologie kommuniziert wird (Verlust der Sprach-, Wort-,
Text- und damit auch Geschichtskompetenz).
Kontraintuitiv erscheint also der Gedanke
(zumindest für Skeptiker gegenüber einer Kittlerschen Medien- und
Apparatetheorie), daß ausgerechnet nur noch „schwach“-symbolische Handlungen,
Infrastrukturen und Beziehungen ausreichend Sinn (erweitert/ ergänzt durch
Intensität), Inklusion und Anerkennung (erweitert/ ergänzt durch technogene
Nähe) für Millionen von Psychen bereitstellen sollen – die, der Vollständigkeit
halber sei es gesagt, natürlich in Freundschaften, in der Liebe, in
Verantwortungen, in Schuld und Schulden, in der Arbeit, im biologischen
Nachwuchs etc. weiterhin Anker werfen können, um der Depersonalisierung, der
Alienation, dem sozialen Tod, der schwindelerregenden Kontingenz zu entgehen –
jedoch um einen immer höheren Preis, nämlich eine Identität behaupten und
jederzeitige Identifizierbarkeit gewährleisten zu müssen.[21]
Neue „Formen der Gruppensubjektivierung
und Heterogenisierung“ durch Konstruktion mikropolitischer Schnittstellen, so
wie sie von Knowbotic Research verlangt werden, bedeuten als im Rahmen der
technogenen Nähe-Problematisierung fürs erste nichts anderes, als in der Breite
gegenwärtiger Variation tele-technisch vermittelter Kommunikation Formen zu
finden/ für möglich zu halten, die weder als Freizeitvertreib, als Spiel, als
soziokommunikativer Jahrmarktbesuch richtig beschrieben werden können[22],
noch als neue, lebensernste Konkurrenten resp. Anwärter („Kapitalien“) für die
Verteilung gesellschaftlicher Positionen/ Existenzen in der Gesellschaft,
sondern als solche Formen, die die Erfahrung soziabel machen, daß symbolisch
vermittelte harte Realität (in der ich „ein Ich“, Bildung, Eloquenz, Freunde,
Arbeit, Liebe und Gebrauchtwerden-Imaginationen besitze) und sogenannte
virtuelle Wirklichkeit (in der ich Resonanz auf mein Mitteilen und Informieren
als Ausweis einer Interaktion imaginiere) nicht mehr durch eine Rangfolge
unterschieden – sondern als Entfaltungsweisen des Daseins im Ausschnitt
sozialer Existenz bedeutet werden: und zwar ohne Pathologisierungsverdacht!
Dafür indes mit einer nicht zu
minimierenden Skepsis hinsichtlich der Möglichkeit, daß eine erneute Vergesellschaftung
des kommunikativen Handelns eine negierende und dann transzendierende Wirkung
entfaltet: diese Skepsis ist unabdingbar, will man nicht zu blauäugig
Kommunikationsmittel und Kommunikationsverhältnisse theoretisch einfangen.[23]
An steht also im folgenden gleichsam ein
schon längst vollzogener Wechsel des Objekts der wissenschaftlichen
Betrachtung: der Wechsel des Objekts namens „Sinn“ als Mastermedium der
Schnittstellengestaltung Individuum/ Gesellschaft. Und dies in ähnlicher Weise,
wie es Paul Veyne (in seiner Beschreibung der Auswirkung des Foucault’schen
Denkens) mit Blick auf das Objekt „Mensch“ für die Humanwissenschaften andeutete.[24]
Alle sogenannten „turns“ (um vom barocken Titel des Paradigmawechsels zu
schweigen) der letzten drei Jahrzehnte innerhalb der Sozial-, Kultur- und
Geisteswissenschaften, maßgebend jedoch der der Pragmatik, der Performanz
und des Piktorialen, können als Nachdenkunternehmungen betrachtet
werden, die sich zum Ziel gesetzt haben, das Objekt Sinn und seine qua Zuschreibung
inhärenten Leistungen für psychische, soziale und kulturelle Viabilität unter
dem Verdacht des Defizits und unter Bereitstellung möglicher Alternativen dazu
in den Blick zu nehmen[25]
– der popkulturelle Imperativ der Gruppe Talking Heads aus dem Jahre 1984,
„Stop making sense!“, ist 20 Jahre später längst die wenngleich halbherzige
Ausgangslage nicht nur sozialwissenschaftlicher Beobachtung und
Sonderforschungsbereiche.
Daß es für solch einen ‚sozialwissenschaftlichen’
Wechsel gesellschaftspenetrierender Begrifflichkeit schon zu spät sein könnte[26],
ist nicht von der Hand zu weisen – in Anbetracht des „In-Erinnerung-Rufens“
extremer und katastrophaler energie-, klima- und auch ernährungspolitischer Probleme
und einer Art Renaissance der Konflikte um Rohstoffe zu Beginn des 21.
Jahrhunderts, die schon jetzt die im weitesten Sinne kommunikationstheoretischen
Erörterungen wie nostalgische Meditationen erscheinen lassen.[27]
Indes ist es sicher nicht ganz falsch, den 2008 sich manifestiert habenden,
beinahe weltweiten Einbruch des „virtuellen“ Geldkapitals, das Marxens Diktum,
daß alle Wertverwertung letztlich in die Form von G – G’ drängt (also die
Waren-Realien namens Arbeitskraft und Ware in der Form G – W – G’ sowie das
Waren- und produktive Kapital hinter sich zu lassen sucht)[28],
mit Baudrillards medien- und kommunikationstheoretischen Übertreibungen zum
zentralen Moderne-Phänomen der Simulation verstehen zu wollen.[29]
Will sagen: Es besteht die Hoffnung, daß die Beschäftigung mit den Umstellungen
in den sozialtechnologischen Medien Sinn, Nähe, Verantwortung und
Kommunikationstechnik nicht eine Nachwehe medienphilosophischer Rauchschwaden
darstellt, die – einer Aussage Hans Ulrich Gumbrechts zufolge – gerade im deutschsprachigen
Raum ihr weltweites Epizentrum hatten (haben?).
Der Versuch, im Begriff der Technik den
generellen Beziehungsgestaltungen vergesellschafteter Individuen/ Personen
nachzugehen, kann man abschließend einordnen als Versuch, der zwischen einer in
weiten Strecken abzuschreibenden „ästhetischen Erziehung des Menschen“
(Friedrich Schiller) und einer noch nicht anzuschreibenden „pharmagenen“
Physis-Ebene der menschlichen Mentation (Hans Peter Weber)[30]
liegt: als Ansteuern der technogenen Dimension gesellschaftlicher Vermitteltheit,
in der ein Abhub der Menschen von unterkomplexer Wahrnehmungsweise und damit
mögliche Entlastungen für die Kommunikation mit den Formen der Gesellung
gedacht werden soll.
Technik, um dies vorweg und nochmals
paraphrasierend zu sagen, wird auf den folgenden Seiten weiterhin
·
nicht vordringlich
als „die“ gegenwärtige Erscheinungsweise des bestimmten Moments von Sein, von
Leben, von Willen gedeutet, des Moments, das sich als vermeintlich ewiges
Phänomen „Herrschen“ bezeichnen läßt – im hiesigen Fokus also nicht vordringlich
gedeutet in den Erfassungsoperationalisierungen von Überwachungs-, Fernobservations-,
Bildkontroll-, Bewegungskontroll- und Bestandsstrukturtechnologien, sozialtechnologischen
Kommunikationsstandards, Wissensgeheimhaltungs- und Wissenskriminalisierungsgesetzen[31],
technischen Adressabilitätszwängen und dergleichen mehr.[32]
Technik wird, wenn auch mit großen Mühen, des weiteren
·
nicht gedacht als
ein Wirklichkeitskomplex, dessen Ausmaße der Bedrohung deshalb ins Unermeßliche
wachsen, weil sie, die Technik, linear und rational, einer inneren Logik gemäß,
ihre Ziele verfolgt (; sie wird indes auch nicht gedacht als Technik, die deswegen
bedroht, weil „nur“ durch „falsche“ Anwendungen Katastrophen erzeugt werden).
Sie wird nicht gedacht als soziales Artefaktsyndrom, für das –
überpointiert gesagt – die Apokalypse nicht länger ein nicht vorhersehbares
Resultat ist, sondern vielmehr ein Medium ihrer Selbstvervollkommnung, der „normale“
Antriebsgenerator (Hans Ulrich Reck).
Und auch gilt – letzter Doppelpunkt der
Reihe, als was Technik nicht zuvörderst gedacht wird – Technik
·
nicht im Sinne eines
selbstexemplifizierenden Ausdrucks der Grausamkeit gegenwärtiger menschlicher
Beziehungen und menschlicher Handlungen, wie es etwa in Heinrich Hoerles Gemälde
„Denkmal der unbekannten Prothesen“ (1930) in bezug auf den ersten Weltkrieg
beinahe prototypisch realisiert wurde[33];
sowie nicht als selbstexemplifizierender Ausdruck der „Gottähnlichkeit“,
wie es Freud im Begriff des technisch armierten „Prothesengottes“ zu fassen
suchte: „Der Mensch ist sozusagen ein Prothesengott geworden, recht großartig,
wenn er alle seine Hilfsorgane anlegt, aber sie sind nicht mit ihm verwachsen
und machen ihm gelegentlich noch viel zu schaffen.“[34]
Und gleichsam gilt es abschließend und
zusätzlich, im/ beim Begriff der Prothese bleibend, Technik
·
nicht als erneuten/
erneuerten Versuch anzusehen, der „Schalenlosigkeit“ der Menschen seit der
Neuzeit etwas entgegenzusetzen in Gestalt ‚prothetischer Hüllen’, derer sie
gemäß einer bestimmten Menschenbildkonstruktion elementar zu bedürfen scheinen.[35]
Technik gilt hier vielmehr als in und mit
sozialen Systemen experimentierende Weise, das Dasein um die Dimension des
Wegseins, Anwesenheit um die Dimension der Abwesenheit, menschliche Nähe um die
Dimension einer technogenen Nähe zu erweitern[36]
und ineins damit neu zu formen – wobei dieses Formen nicht nur soziale, psychische
und biologische Strata betrifft, sondern vordringlich das anthropologische
Stratum: das offene Feld des human becoming. Diese experimentierende
Weise der Technik ist, dies sei nochmals grundsätzlich betont, nicht teleologisch
einzuordnen in eine wie auch immer sich gebende Evolution/ Entwicklung des Menschen.
Aus ihr sind keine Zeichen zu extrahieren, die qua implizitem Plan schon jetzt
ihre passenden Bedeutungen zugeschrieben werden können. Das einzige, das als an
und für sich Bedeutungsloses mit Sinn besetzt wird, ist die Tatsache, daß
Experimentation nötig ist. Gleich der Sicht Buckminster Fullers, der von einem eingebauten
Fehlen einer Bedienungsanleitung für den Umgang mit dem Raumschiff Erde spricht[37],
kann hier in unserem Zusammenhang von einem Fehlen der richtigen Organisation
sozialer Beziehung in Großpopulationen gesprochen werden – ein Fehlen, das sich
kognitiv immer nur durch Retrospektion und also Prospektion zu verdeutlichen
vermag.
Diese hier gewählte Geltung „der“ Technik
rührt her von der in Thomas Metzingers Sätzen des Eingangszitates steckenden
Überzeugung, daß eine wenn auch noch ängstliche „konstruktive Konfrontation“
mit den neuen Technologien weniger terroristische Folgen im Umgang der Menschen
miteinander zeitigt als eine „rekonstruktive Hege“ tabuisierter Bestände der
Lebenswelt oder gar die Konservierung „einer“ Lebenswelt, deren neophänomenologisch-begriffliche
Aufrechterhaltung sich immer mehr darin zu erschöpfen scheint, Artefakte auszuschließen,
die vermeintlich nichts in ihr zu suchen und mit der Lebenswelt der Menschen
nichts zu tun haben.[38]
Dieser Überzeugung vom Sinn einer konstruktiven Konfrontation ist dennoch
zugleich die modernitätskritisch geschulte Resignation inhärent, daß es bis auf
weiteres noch nicht möglich ist, „Erkenntnisfortschritte“ quasi unmittelbar,
unverdrängt und transparent zu vergesellschaften – man also erst „verspätet“,
anhänglich, nachträglich (supplémentaire) am monströsen, dämonischen Symptom
(„neue Technologien“) als materialer Eklat einer pathologisch werdenden
Lebenswelt anzusetzen vermag, um konstruktiv-experimentell die
gesellschaftsdynamischen Veränderungen durch Technik annäherungsweise so zu
organisieren, daß sie sowohl den in „seiner“ Lebenswelt gefangenen wie auch den
die Lebenswelt in Gefangenschaft nehmenden Menschen[39]
nicht mehr in toto eindimensional überfordern. D.h.: Auf Lebenswelt, auf
strukturelle Verdrängung, auf inkommunikables Unbewußtes, auf den Menschen als
‚Endverbraucher dezentral organisierter Real-Illusionen’ (Aktaş;
Sloterdijk), wie auch auf Metasprache namens „Alltagssprache“ ist weiterhin
nicht zu verzichten[40],
so man gewillt ist, „Lebenswelt“ nicht zu einem System unter anderen zu „schleifen“.
Aber es gilt zugleich, ebendiese Lebenswelt „auf- und auszufüllen“ mit
Eigenschaften, Beziehungen und Explizitheiten[41],
für deren Beschreibung das Attribut „lebendig“ gegenwärtig nur sehr schwer über
die Lippen zu kommen vermag, so man in einer strikt humanistischen und zudem
paradoxerweise bewußtseins-rationalistischen Tradition Theorie und
Menschenbilder anfertigt – und es gilt komplementär dazu, die dem Bereich des
Lebendigen zugeschriebenen Phänomene verstärkt zu betrachten/
konzeptualisieren/ operationalisieren unter der Maßgabe, daß sie in eine „übergeordnete
Kategorie“ gehören, deren eine Untermenge eben die Menge des Lebendigen
darstellt (– und etwa nicht der Kategorie namens Identität)[42].
Treffend drückt diesen Gedanken, besser:
dieses Forschungsprogramm, Norbert Wiener bereits 1955 aus: „Ich denke, man
kann mit Bestimmtheit vorhersagen, daß innerhalb der vereinheitlichten
Wissenschaft die Physik durch die Aufnahme solcher Phänomene stark verändert
wird, die wir zur Zeit noch eindeutig als zur Welt des Lebendigen zugehörig erachten“.[43]
Die Technisierung der Lebenswelt als
„lebensfeindlich“, als unlebendig anzusehen[44],
rührt aber nicht allein aus einer konservierten, alteuropäisch-subjektphilosophisch
gerahmten Menschenbildüberzeugung, sondern auch nicht zuletzt daher, daß die
makrogesellschaftliche Einschätzung, die Marx und Engels 1845/46 in den
folgenden Sätzen wiedergeben, für die heutige Situation, wenn auch vermindert,
noch Gültigkeit beanspruchen kann:
„In der Entwicklung der Produktivkräfte
tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel
hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil
anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte
(Maschinerie und Geld)”.[45]
– Die Hoffnung der folgenden Sätze zur technogenen Nähe ist, daß aus dem „nur
Unheil“ plausibel ein „noch Unheil“ gedacht werden kann, vielleicht
schon, fern jeder Heilsrhetorik, ausgestattet mit einem „schon X“. Dafür
braucht es indes andere, neue Vokabularien, neue Entwürfe der Beziehung
zwischen Menschen, Technik, Leben, Programmen, Kräften und Gemüth[46];
Entwürfe, die „die Biologie“ des Menschen erweitert und „den Sinn“ des Menschen
phantasmareduziert, insbesondere zusammengehörigkeitsphantasmareduziert zu
bedenken vermögen – sind es doch gerade die Phantasmen einer Zusammengehörigkeitspolitik
gewesen, die auf eine vermeintliche psychische Überforderung des einzelnen ob
des modernitätstypischen Fehlens von „Apriori-Informationen über das Wie-, Wo-
und So-Sein-Sollen“[47]
reagierten.
Zugleich besetzt die hier zu entfaltende
Technik der technogenen Nähe genau den Platz, den „die Sprache“ in folgendem
Gedanken innehat: „Im Menschen ist der eigentliche Prozeß die Öffnung
der Freiheit. Die ontische Erscheinungsform dieses ontologischen Ereignisses
ist die Sprache.“[48]
Diese vorzunehmende Platzbesetzung ist nicht exkludierend, sondern abstrahierend
gedacht:
Die weiterhin unfaßbare Generierung von
zum Teil unwahrscheinlichsten Horizonten des In-Verbindung-Stehens und auch
Getrennt-Werdens/ Seins für das Lebewesen Mensch durch die „Erfindung“ der Sprache/Schrift
setzt sich, so die These, in derjenigen Technik fort, die als
Kommunikationstechnik (Television, Telephonie, Telematik, Mixed-Reality-Techniken,
Virtual Reality-Techniken, „Second Life“ usw.) den Anklang, das Anstimmen, das Einstimmen,
aber auch das „Den-Menschen-Sprechen“ der Sprache und das
„Den-Menschen-Verletzen“ durch Sprache aus den Ordnungen der Bedeutung und des
Symbolisierens evakuiert – und handfest, d.h. digital operationalisiert.
Technogene Nähe meint genau dies: Mögliche Wirkungen von
Kommunikationstechniken auszuloten, die sich als Gemüthstechniken erweisen
könnten, indem sie einen neuen Horizont „menschlicher“ Nähe erzeugen (vergleichbar
der Stimme/ Sprache, die eine psychoakustische Hülle bildete im Prozeß der Anthropogenese),
der „endlich“ auf der Höhe der tatsächlichen gesellschaftlichen Abstraktion ebendiese
Abstraktion kontrapunktiert.[49]
Das damit erhebliche Änderungen des
sozio-anthropologischen Arrangements „des Menschen“ verbunden sind, wird auf
den nächsten Seiten mehr als ersichtlich werden. Und daß damit auch
Kritiklinien „unter Strom“ gesetzt werden, die die Abstraktifizierung und
Technisierung von Nähe unter Entfremdungs-, Verdinglichungs-, Pathologie-,
Schizophrenie- und Todesgesichtspunkten[50]
mehr als plausibel zu beschreiben wissen, wird im kommenden Verlauf immer
wieder vernehmbar werden.
Vor allem ist der mehr als begründete
Verdacht kritischer Gesellschaftstheorie nie aus den Augen zu verlieren, daß
eine mögliche ‚Technisierung’ menschlicher Kommunikation nur deswegen einen so
hohen Imaginationswert und zudem erstrebenswert erscheint, weil die Referenz
namens menschliche Kommunikation selbst schon einen so menschenunwürdigen Stand
erreicht hat, daß eine Kommunikation zwischen Objekt und Objekt als selbstverständlich
angesehen wird. Die prinzipiellen Defizite einer maschinellen
Kommunikationskompetenz aus der Sicht einer menschlichen – die Unfähigkeit,
normative, affektive und kontextuelle Präpositionen, Stimmungen, Valenzen, Atmosphären
zu kommunizieren – verschwinden in dem Maße, wie ebendiese Fähigkeiten des
Menschen als kommunikatives Subjekt immer weniger Anerkennung erfahren in den
Arenen des kommunikativen Verkehrs. Kurz: Eine Zunahme von
Mensch-Maschine-Kommunikationen als gesellschaftlich wünschenswert, ja als
immer mehr gesellschaftskonstitutiv anzusehen sei nur möglich unter der
Vorgabe, daß die Kriterien zur Bestimmung eines kommunikativen Subjekts längst
so ermäßigt worden sind, daß all die Defizite einer kommunikablen Maschine
nicht mehr ins Gewicht fallen – und „Rechner als Mitglieder der Kommunikationsgemeinschaft,
als kommunikative Subjekte anerkannt werden“[51]:
gewissermaßen eine Ausweitung des Turing-Experiments auf die gesamte Gesellschaft.
Dennoch sind die zu entwickelnden
Gedanken zur technogenen Nähe grundsächlich dem „Könnte“ und nicht dem
„Nicht-Mehr“ zugewandt. Sie vertrauen der Verwandlungsmöglichkeit von
geschichtlichen und gesellschaftlichen Formatierungen, allerdings kontrolliert
durch ein Mißtrauen, das kritisch-theoretisch belehrt wurde – und nun vor der
Aufgabe steht, sich selbst zu mißtrauen. Der Sprung zur „Pharmakologie des
Geistes“, wie sie von Hans Peter Weber weitausholend entworfen wurde in seiner
Theorie des „KreaturDenkens“, ist hier noch nicht möglich – wenngleich gewollt.
Technogene Nähe
als Term ordnet sich ein in die Arbeit an der Erörterung eines kulturalen
Sinns (dazu später mehr), der im Rahmen der Sinn-Semantik und Bedeutungsordnungen
einer kategorial aufgeschlossenen/ entborgenen Welt nicht recht untergebracht
werden kann – so lautet die leitende Hypothese des hier verfolgten grundlegenden
Ansatzes eines cultural engineering: eine Hypothese übrigens, die in kleineren
Formaten bereits im knowledge engineering-Ansatz resp. im usability engineering-Ansatz
eine plausible Anerkennung gefunden hat durch die Berücksichtigung des
Nicht-Wissens, und im Bereich des cognitive design-Ansatzes davon ausgeht, daß Design nun auf der anderen Seite des nicht Meßbaren und Inkommensurablen
von Kommunikation und Information tätig werden muß, also dort, wo die Territorialisierung
und Kartographierung von Wissensbeständen nicht analytisch-symbolisch
einzuholen ist.[52]
Genau hier ist die Schwierigkeit festzuhalten, daß mit Blick auf Möglichkeiten
zukünftiger organisierter Verantwortung in der Gesellschaft die Technik in der
technogenen Nähe nicht schon auf einer ‚Institutionalisierungsebene’, auf einer
schon adressenbesitzenden gesellschaftlichen Vermittlungsebene bedacht werden
kann – sondern tatsächlich nur auf den Ebenen, für die Giorgio Agamben die
Bezeichnung der „beliebigen Singularitäten“[53]
einsetzt. Sie bleiben bis auf weiteres Singularitäten – auch und gerade wenn
sie elektronisch/ technologisch millionenfach auftreten und agieren; d.h.: sie
überspringen die historische Schwelle der Jahrhunderte andauernden Vergesellschaftung
des ‚Vereinzelns des Einzelnen’ nicht – zumindest so lange nicht, wie weiterhin
am Modell der Akkumulation für Wissensvermittlung und am Modell der Übertragung
für die Kommunikationsdistribution festgehalten wird, ohne
vergesellschaftungsfähige Alternativen in Gestalt von Gesellschaftstheorien zur
Stimmung und zur Atmosphäralität zur Verfügung zu haben.
Aber gerade in dieser Gesellschaftsrealie
namens ‚Ausfällung von Millionen Einzelner’ (unter anderem auch bekannt als
außengeleiteter Charakter bei David Riesman, als Radar-Typ bzw. -Gerät bei Karl
Wittfogel, als eindimensionaler Mensch bei Herbert Marcuse, als autoritärer Charakter
bei Theodor W. Adorno) versucht das Konzept der technogenen Nähe nicht mehr nur
eine Sackgasse zu sehen, die bis hinunter ins Sozio-Anthropologische alles auf
Stop stellt (wie etwa bei Günther Anders und Ludwig Marcuse)[54],
sondern Möglichkeiten für Aufschlüsse, zumindest Kurzschlüsse und also für neue
Verbindungen, die jetzt erst realisierbar sind, seit Kommunikationstechnologien
nicht mehr nur kriegsfunktionale, ökonomieerweiternde und den Exzeß der
Mobilisierung vorantreibende Aufgaben zukommen, sondern in ihnen zunehmend
psychosoziale, zumindest -soziable Sozialisations- und gesellschaftliche
Synthesis-Dimensionen ausgemacht werden können, die bedenk- und deutbar wären
als Drift der sozialen Evolution: Menschen könnten aus ihrem einzigen,
anthropologiehistorisch seit hunderttausend Jahren wirksamen ‚sozialen Container’
namens anwesende Interaktion hervortreten und erste behutsame nichtspirituelle
Schritte wagen innerhalb eines ‚sozialen Abstraktums’ namens abwesende
Interaktion (technogene Nähe), nachdem alle historisch relevanten Versuche der
letzten 12000 Jahre, also seit Beginn der „Artifiziellen Gesellschaft“
(Heinrich Popitz), sich als mörderische Operationalisierungen der Neujustierung
von Nähe und Distanz in der Sozialität herausgestellt haben.
Es geht also, will man eine theoretische
Referenz des Vorhabens benennen, wieder einmal darum herauszufinden, ob man
nach dem bisherigen Scheitern von sogenannten Innen-Lenkungs-Modellen in der
Art des kategorischen Imperativs erneut die Außenlenkung der ausgefällten
Einzelnen mit Freiheit (früher: Autonomie), mit Gemüthsgratifikation (früher:
Seelenheil), mit Gerechtigkeit (früher: Gleichheit) zusammendenken kann, ohne
sofort abzuwinken und zu sagen, die Existenz in der Massenkultur erlaube nur
reflexartigen Konsumismus, bewußtfreie Zerstreuung und als Indifferenz
verkleidete Heteronomie. Es geht, nun an Namen festgemacht, darum, im Wissen um
Graciáns Handorakel die Arbeit Fouriers fortzusetzen und seine 13
Leidenschaften neu zu arrangieren mit Blick auf die technische Dimension der
sogenannten Sozialleidenschaften.[55]
Das „tieferliegende“,
historisch-anthropologische Problem, das mit der Annäherung an den „Begriff“
technogene Nähe ineins formuliert werden und zumindest als in Skizzen lösbar
erscheinen soll, ist weiterhin dies:
Es
gibt eine historisch-anthropologische Unhaltbarkeit, eine Unmöglichkeit, eine
Nicht-Faßbarkeit, die bis in die innersten Kapillaren der psychischen Systeme
reicht: nämlich die, daß der Mensch alleine ist, allein auf dem Planeten bzw.
dem Mirakel Existenz und dem Mirakel des Wissens ausgesetzt.[56]
Sogar die Welt, die wir als Kontrastbegriff zur Erde erfunden haben, um dem
sinnlosen Vergehen – exklusive dem Vergehen selbst – zumindest Einhalt zu gebieten,
ist nichts anderes als eine Form der Verunsichtbarung dessen, daß „wir“ (Menschheit)
alleine sind. Dieses Alleinsein rührt daher, daß die eigentümlichen menschlichen
Vermögen, zu sprechen (Sprache sein), zu denken (Bewußtsein), zu zeitigen
(Zukunft haben) und zu arbeiten (Lebens- und Lebensmittelproduktion), bis auf
die heutigen Tage zum Glück nicht integrierbar sind in das, was das Lebewesen
Mensch sein und bedeuten könnte – trotz der unzähligen Versuche innerhalb der
Geistes- und Gesellschaftsgeschichte[57],
Leben und Sein, Wesen und Schein, Potenz und Aktualität, Sein und Sollen des Menschen
in Deckung, in Über-Einstimmung zu bringen (sozialphilosophisch und dann sozialtechnologisch
war die letzte große „eine Stimme/ Einstimmung“ die der „Vernunft“ inklusive
ihrer praktisch-geschichtlichen Wiederholung als Farce in der „einen Stimme/
Einstimmung des Volkes resp. Nation“).[58]
Man
könnte die gesamte Geschichte der Menschen entlang der Frage durchdeklinieren,
welche hegemonial gewordenen Fassungen dieses Implementieren-Wollens von Geist,
Sprache und Arbeit, von diesem Humanum in das Lebewesen-Sein, passiert sind –
ausgenommen die wie immer religiösen Muster des Inkarnierens und Inkorporierens,
die der Ausgesetztheit des Menschen weder „intellektuell“ noch „kulturell/
passionar“[59] standhalten
konnten oder wollten und damit im Grunde die elementare Herausforderung, den
Menschen als Nichtganzen positiv zu denken und gleichzeitig seine „fehlenden“
Beziehungen in der Zukunft zu suchen, schon im Keim erstickten zugunsten einer
transzendentalen „Aufsicht“ namens Gott[60]
– zumindest desjenigen Gottes, der den Turmbau zu Babel mit aller Macht
verhindern wollte; und der damit die Herausbildung der Stadt als Menschenort zu
hintertreiben suchte (Gott der Stammesgesellschaften).
Die
uns gängigsten Fassungen der „Einholung“ des Menschen waren entweder
organistischen, holistischen oder atomistischen Zuschnitts und machten sich zu
schaffen entweder am „Naturwesen“ Leben, am Sozialwesen Sprache resp. am
sprachlichen Arbeitswesen. Zur Zeit scheint es wieder die Adressierung des Lebewesens
Mensch zu sein, mit der dem Wunsch nach Einholung/ Erreichen des Menschen
vermeintlich am besten nachgekommen werden könne – nun nicht mehr, wie noch
gegen Ende des 19. Jahrhunderts, in vitalistischer Gestalt (Nietzsche), sondern
in neuro-biologistischen und bio-technizistischen Programmen.
Und
auch die Adressierung des „Telekommunikationswesens“ Mensch ist noch im Spiel
der Einholungsversuche des Menschen: es sind die Kommunikationsmedien, die in
einer gesellschaftsevolutiven Beschreibungsperspektive als Kandidaten
ausgemacht werden, um die antagonistische Fassung des Mensch-Seins in eine Form
der Selbstverständlichkeit, der ‚gemüthlicher Ausgesetztheit’, streckenweise
gar der „Grazie“ (Hans Peter Weber) zu bringen: in den Verbreitungsmedien komme
der Mensch als gesellschaftlicher erst zu sich, erlange eine Begreifbarkeit seiner
selbst – und erst dadurch erfahre die Gesellschaft operativ-technisch ihren
erreichten Status als Weltgesellschaft.[61]
All
die verschiedenen Versuche, den Menschen auf die Erde, zur Geschichtlichkeit,
zu Bewußtsein, zur Sprache, kurz: zur Welt zu bringen, haben, jetzt zu Beginn
des 21. Jahrhundert, so viel „Grammatik“ (und so viele Leichen) angehäuft, daß
man versuchen könnte, aus der Grammatik etwas herauszulesen. Man könnte lesen,
daß all diese Formen und Fassungen in einem wenn nicht eigenen, so doch
eigenartigen Kosmos passiert sind, negativ und positiv, ödipal und pervers
motiviert – und dieser Kosmos heißt weiterhin Sinn, also: soziale Gesellschaft
– auch wenn dieser Begriff nur noch als Palimpsest begriffen werden kann, kaum
mehr lesbar, geschweige denn begreifbar, in einer letzten Zuckung Glaubens-,
Hoffens- und Wissenssamplings produzierend und im Platzhalterwort „Weltgesellschaft“
einen letzten Versuch startend, sich als eigenwertige Organisationsform des Sozialen
zu behaupten gegenüber der noch bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts evidenten
Überzeugung, Gesellschaft sei Wirtschaft, society eine Untermenge der company[62],
Verstehen ein Derivat des Profits – und Gesellung nur auf dem Umweg der
ungeselligen Unbrüderlichkeit zu erreichen, also als noch notwenige
Inkaufnahme, als „falscher Kostenposten“ „in Rechnung zu stellen“ zum Zwecke
genuin asozialen Markthandelns.
Der
Begriff der technogenen Nähe versucht demgegenüber Vorstellungen von Fassungen
und Formen eines „Menschen-zueinander-Bringens“, Formen des den Menschen auf
die Erde-Bringens auszuprobieren, die nicht mehr nur im Sinnkosmos beheimatet
sind, die nicht mehr vordringlich im Sinnkosmos (verstanden im Sinne der Austreibung
der Vergeblichkeit des Tuns und Einsatz zielerreichenden Handelns durch bewußte
Kontrolle) dingfest gemacht werden können – und die doch gleichsam noch
aufruhen auf einem Antagonismus der ungeselligen Geselligkeit (Kant), den es
nun eher technisch auszuloten gilt – als Präliminare einer zukünftigen Geselligkeit,
die technogenen Zuschnitts sein könnte. Weiter ausgeholt:
Das
Durchdrungensein der Gesellschaft von Verkehrs- und Kommunikationstechnologien,
von neuen sogenannten Technokulturen, von einer sogenannten Populärkultur
könnte Anzeichen sein dafür, daß der Kapitalismus längst eingetreten ist in
eine Phase, in der das kulturell-kommunikative Überstreifen der „alten
Welt“ im vollen Gange ist[63]
– mit allen negativen, katastrophalen, zerstörerischen Momenten versehen, die
eine ausgewiesene Kulturkritik zu benennen weiß (Stichwort: „Kulturindustrie“)[64];
aber auch mit Momenten, die nicht mehr eindeutig unters Diktum „Aufklärung als
Massenbetrug“ (ebenda) fallen, weil sie womöglich zu neuen Kulturtechniken
führen können.
Kurzum:
Wenn die Annahme richtig ist, daß die bürgerliche Revolution nicht überall mit
der Vergangenheit tabula rasa gemacht hat und daher viele wichtige Elemente des
„vorbürgerlichen ‚Überbaus’ stehen gelassen und sich einverleibt“[65]
hat – dann könnte es zumindest plausibel sein, in der Medien-, Informations-
und Kommunikationstechnologie heutiger Tage die materielle Bedingung zu sichten
für eine kulturelle Aneignung und Verwirklichung des ‚bürgerlichen Überbaus’;
eine kulturelle Aneignung oder Überstreifung, die erst noch vollzogen werden
muß, um dann das so Erreichte, die nun sich kommende „alte Welt“ in den neusten
Kommunikationstechnologien, wieder abzustreifen – um nicht die Hegelsche
Negation zu bemühen.
„Utopischer
Attraktor“ der hier zur Diskussion gestellten Gedanken ist weiterhin die
Annahme einer gesellschaftlichen Organisation, in der nicht mehr gilt, daß das
Stück Brot, das ich esse, den anderen nicht satt macht (Alfred Sohn-Rethel) –
und in der nicht mehr gilt, daß ein „Ich-Selbst“ resp. das „System Selbst“
(Peter Fuchs) nur dann Bestand hat, wenn „der Andere“ immer und immer wieder
zuvörderst als „Nicht-Ich“ identifiziert wird. Es geht also, explizit gesagt,
weiterhin darum, sowohl die Marx’sche Utopie aus dem 19. Jahrhundert, daß ein
Verein freier Menschen makrogesellschaftlich organisierbar sei, als auch die
Utopie Marcuses aus dem 20. Jahrhundert, daß der Begriff und Gehalt der Kultur nur
historisch und nicht strukturlogisch in der Aufopferung der Libido für und
ihre strikt erzwungene Ablenkung auf sozial nutzbringende Tätigkeiten und
Ausdrucksformen zu sich kommt[66],
gegenwartsdiagnostisch und prognostisch daraufhin abzuklopfen, ob sich
zumindest in Spurenelementen Unabgegoltenheiten bemerkbar machen könnten, Unabgegoltenheiten,
die elementar sind für die dringende Arbeit erneuter „Klimaschöpfungen“
(Ulaş Aktaş), die auf pazifizierende Zusammengehörigkeitsformen auf
der Grundlage technogener Nähe führen könnten.[67]
–
Daß solch ein Unterfangen mehr als immanente Kritik verdient; daß es das
„wissenschaftliche Konto“ theoretischer Kontrafaktizität und Kontraintuition,
das Register spekulativer Phantasie maßlos überzieht; daß es in Gefahr steht,
Haltlosigkeit mit Gehaltlosigkeit zu verwechseln: davon ist auszugehen. Aber
auch davon: „Zu sprechen im Namen des Fremden ist ambig – und fordert
entsprechend Kunstgriffe der Öffnung bzw. des Offenhaltens. Denn so zu sprechen
kann angemasst sein, oder aber eine Form der Selbstzurücknahme zur Fremddarstellung.“[68]
Daß letzteres hier statthat, ist die Hoffnung: Darstellung intensiver Fremdnis
und Herbe als theoretische (und nicht als ästhetische) Kur, deren Dauer
prognostisch nicht abgeschätzt werden kann. Zukunft ist nicht zu ergreifen.
Aber sie ist begreifbar.
Schließlich:
Die vorliegende Arbeit versteht sich weiterhin als Marginalie zum
Theoriekomplex und zur Daseinsanalytik namens „KreaturDenken“ (Berlin 2006) von
Hans Peter Weber – und auch hier gilt: auch wenn er im Grundlegenden anderer Meinung
ist. Ihm ist sie gewidmet.
Bernd
Ternes
[1] In der Tele-Gesellschaft maßgebend in Gestalt des noch an den unmöglichsten Orten auftauchenden Gesichts. Siehe Thomas Macho, Das prominente Gesicht. Vom Face-to-Face zum Interface, in: Manfred Faßler (Hg.), Alle möglichen Welten. Virtuelle Realität – Wahrnehmung – Ethik der Kommunikation, München 1999, p121-135, hier: p121.
[2] So Siegfried Weischenberg, zitiert nach: Tom Schimmeck, Am besten nichts Neues. Medien, Macht und Meinungsmache, FFM 2010, p181.
[3] Soziobiologie wie auch Neuro- und Genomtheorien ‚veranlagen’ resp. ‚verinstinktivieren’ das Mirakel genuin soziomorpher Prozesse/ Handlungen/ Adressabilität in die Biologie und Evolution des Lebewesens Mensch; das soziale Wesen Mensch wird eher als abgeleitete, als aufführende Figuration theoretisch verortet – ein Grund, warum in den Kulturwissenschaften im Zuge der neuro- und genwissenschaftlichen Aufmerksamkeit plötzlich mit Vehemenz auf Performativität als Quelle der Soziomorphogenese gesetzt wurde.
[4] Auf diesen Punkt wird im Laufe des Textes ausführlich eingegangen werden müssen – denn Intensität darf/ sollte hier nicht in ein Denkfahrwasser geraten, durch das das klimatisierte, langweilige, berechenbare, versicherte Leben plötzlich in eine verabscheuungswürdige Position rutscht. Das nietzscheanische „Lebe wild und gefährlich, Arthur“ führte und führt (?), gesellschaftlich mobilisiert, immer zu Massenmord. Daß das klimatisierte, modern-europäische Leben gleichsam auf Massenmord aufruht, ändert daran nichts.
[5] Journalistisch auf den Punkt gebracht im Titelthema von „Der Spiegel“, Heft 10/ 2009: „Fremde Freunde“. Vom zweifelhaften Wert digitaler Beziehungen. – Der gesamte Artikelkomplex (p118-131) kreist um das Problem der user, diese Trennlinie nicht zu ziehen.
[6]
Denn sonst wäre auf den ersten Blick der These Susan Greenfields zuzustimmen,
daß social media-Nutzung die Fähigkeit zum Mitgefühl schwäche. Siehe etwa David Derbyshire, Social
websites harm children’s brain: Chilling warning to parents from top neuroscientist,
auf: http://www.dailymail.co.uk/news/article-1153583/Social-websites-harm-childrens-brains-Chilling-warning-parents-neuroscientist.html (24.02.2010). Zur
kantianisch-maturanischen Sichtweise Susan Greenfields siehe dieselbe,
Tomorrow’s People. How 21st
century technology is changing the way we think and feel, London 2003.
[7] Siehe zur katastrophalen Bedeutung eines „Männerbundsyndroms“ für die nicht nur deutsche Geschichte Nicolaus Sombart, Die Frau ist die Zukunft des Mannes. Aufklärung ist immer erotisch, hg. von Frithjof Hager, FFM 2003, p21-90.
[8] Dietmar Dath, Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine Streitschrift, FFM 2008, p85.
[9] Es geht bei der Unterscheidung Anthropo- versus Soziotechniken nicht primär um einen sachlichen Unterschied (allenfalls an die Technizität der Techniken wäre hier zu denken), vielmehr um einen methodologischen Unterschied: Wenn etwa Peter Sloterdijk die Menschenformung ausgehen läßt von kleinen insularen Soziallaboratorien individueller Praxen der gerichteten Lebensveränderung (Du mußt dein Leben ändern, FFM 2009, p173 ff., 329 ff.), wird hier eher der Fragenorientierung gefolgt, wie und warum es Sozialtechnologie schafft, das das Leben der vielen geändert wird resp. sich ändern könnte – und zwar in der ihnen zukommenden sozio-anthropologischen Dimension, ein nähebedürftiges Wesen zu sein.
[10] Henri Lefebvre, Metaphilosophie. Prolegomena, dt., FFM 1975, p12.
[11] Ebenda, p14.
[12] Hier war es noch Habermas, der mit einer politischen Theorie des Rechts und der Moral das normale Ausschließungsverhältnis politischer Techniken auszuschließen suchte. Siehe derselbe, Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen Theorie, FFM 1996.
[13] Hier ist vor allem das Werk Dietmar Kampers zu nennen, der die Vernichtung des Anderen durch Abstraktionstechniken „des Bildes“ in den Blick nahm.
[14] Marx legte größten Wert darauf, daß alle
Vergegenständlichung, alle Warenwerdung sozialer Beziehungen undurchschaute, ja
sogar notwendig undurchschaubare Widerspiegelungen der wirklichen Verhältnisse
der Menschen sind. Sie stellen nichts anderes dar als uneigenständige
Verkörperungen, als vergegenständlichte Einbildungen, also Materialisierungen
(Verdinglichungen) oder Fetischisierungen (falsches Bewußtsein/ Ideologie)
dessen, was in den Köpfen der Menschen wie in den wirklichen sozialen Beziehungen
(Klassenverhältnissen) vorhanden ist.
[15] Ein Beispiel pars pro toto: Chris Anderson, Chefredakteur des Magazin „Wired“, bietet neben der käuflichen Version seines Buches „Free“ die Audioversion kostenlos (und etwas gekürzt) im Netz zum Herunterladen an (spiegel.de/netzwelt/web/ 0,1518,634494,00.html; 06.07.2009).
[16] So sieht es Robert B. Laughlin (Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft, dt., FFM 2008, Zitate p118 und 119), der prinzipiell die nichtmonetären Formen der Sozialisation durch das Netz eher gering wirkend einschätzt.
[17] Derselbe, Freibeuterschriften. Die Zerstörung der Kultur des Einzelnen durch die Konsumgesellschaft, dt. (orig.: Mailand 1975), hg. von Peter Kammerer, Berlin 22006, p45.
[18] A.a.O., p49.
[19] A.a.O., p161-167.
[20] Christian Hübler/ Knowbotic Research, Knowbotic Agencies. Für eine Praxis der konfliktreichen Intervention in mediale Öffentlichkeiten (New Public Domain), in: Die Politik der Maschine. 5. Band der Interface-Reihe, hg. von Klaus Peter Dencker, Hamburg 2002, p229-235, hier: p235.
[21] Letzteres, das zunehmende Arbeiten an Identität und Zuschreibbarkeit, an sozialer Adressabilität, wird seit ca. 20 Jahren in ansteigender Kurve ergänzt durch die Konstruktion einer digitalen Identität/ Adressabilität und in exzessiver Weise durch Staat, Wirtschaft und „das Internet“ selbst augmentiert, kondensiert und zunehmend auch vom identifizierten Objekt (Käufer, Staatsbürger, user) akzeptiert. Siehe Stephan Humer, Digitale Identitäten. Der Kern digitalen Handelns im Spannungsfeld von Imagination und Realität, Winnenden 2008. Zum Problem der „tethered appliances“, also der angebundenen IuK-Geräte des users, die jederzeit elektronisch für den Hersteller, den Provider-Anbieter zugänglich sind: Jonathan Zittrain, The Future of the Internet – and how to stop it, New Haven 2008.
[23] Für die „Produktionsmittel“ beschreibt Herbert Marcuse sehr treffend diese skeptische Haltung folgendermaßen: „Die Vergesellschaftung als solche ändert weder den Horizont noch den Inhalt: Wenn bruchlos weiterproduziert wird, wird auch reproduziert, was vor dem Augenblick der Vergesellschaftung da war. Die angewöhnten Bedürfnisse wirken in den neuen Zustand hinein und auf die vergesellschaftete Produktion zurück. Die Vergesellschaftung der Produktionsmittel wird zum Sozialismus nur in dem Maße, als die Produktionsweise selbst zur Negation der kapitalistischen wird.“ Ders., Nachgelassene Schriften. Bd. 5: Feindanalysen. Über die Deutschen, hg. von Peter-Erwin Jansen, Springe 2007, p136 (These 25 der 33 Thesen, geschrieben 1947).
[24] Der Mensch sei zwar ein falsches Objekt der Analyse, so Veyne nach Foucault, doch deshalb „werden die Humanwissenschaften nicht unmöglich, aber sie sind gehalten, das Objekt zu wechseln, ein Abenteuer, das die Naturwissenschaften auch schon kennengelernt haben.“ Derselbe, Der Eisberg der Geschichte, dt., Berlin 1981, p58.
[25] Einzig die Luhmannsche Ära der Systemtheorie kümmerte sich basal gesellschaftsordnungssoziologisch um die Bedingungen zur Ermöglichung der ausreichenden Bereitstellung von Sinn fürs 21. Jahrhundert – und sah dafür konsequent von der psychischen und kulturellen Viabilität „der“ Menschen ab.
[26] Wie etwa die Auswechslung des „Objekts“ Arbeit durch Interaktion/ kommunikatives Handeln, Ende der 1960er Jahre beginnend.
[27] Pars pro toto: „Nordpol könnte im Sommer [2008] eisfrei sein“, so die Überschrift einer kleinen Meldung in der Süddeutschen Zeitung, 28./29.06.2008, p12 – etwas, das bisher erst für die Mitte des 21. Jahrhunderts erwartet wurde. – Die Zeit zwischen 2008 und 2010 kann man grundlegend betrachten als Rückkehr der politischen Ökonomie in die hegemonialen Diskurse einer „Weltöffentlichkeit“.
[28] „Denn die Bewegung, worin er [der Wert,
B. T.] Mehrwert zusetzt, ist seine eigne Bewegung, seine Verwertung also
Selbstverwertung. […] Als das übergreifende Subjekt eines solchen Prozesses,
worin er Geldform und Warenform bald annimmt, bald abstreift, sich aber in
diesem Wechsel erhält und ausreckt, bedarf der Wert vor allem einer
selbständigen Form, wodurch seine Identität mit sich selbst konstatiert wird.
Und diese Form besitzt er nur im Gelde. Dies bildet daher Ausgangspunkt und
Schlußpunkt jedes Verwertungsprozesses.“ Siehe Karl Marx, Das Kapital I, MEW,
Bd. 23, p169). Siehe zur Geldschöpfungsform der Aktienwertspekulation auch
Werner Heine, Kaufen Autos doch Autos?, in: konkret, Heft 6/2009, p16-18.
[29] Siehe etwa derselbe, Transparenz des Bösen. Ein Essay über extreme Phänomene, dt., Berlin 1992; Der unmögliche Austausch, dt., Berlin 2000; besonders jedoch: Das perfekte Verbrechen, dt., München 1996.
[30] „Pharmasizer: die Pharmazie hatte man in den postmodernen Medien-Diskurs-Einsätzen seltsamerweise nicht auf der Rechnung. Obgleich sie doch in der human-zivilisatorisch entscheidenden Physissebene als Episteme und Technik ausgespannt ist: in der neurosensationaren, pharmagenen“, so Weber (Orphisch oder Langsame Heimkehr [Labor], Berlin 2007, p141).
[31] Siehe hierzu Robert B. Laughlin, Das Verbrechen der Vernunft. Betrug an der Wissensgesellschaft, dt., FFM 2008, z.B. p11f. Laughlin hat besonders das sogenannte technische Wissen im Blick, das im Zuge der möglichen exponentiellen Verbreitung durch Kommunikationsmedien nun ganz besonders geheimgehalten wird (p8). Siehe auch als internetbasierte Opposition zur Geheimhaltung „nichttechnischen“ Wissens WikiLeaks (http://wikileaks.org).
[32] Siehe im Fokus dieser Referenzen nochmals Stephan Humer, Digitale Identitäten. Der Kern digitalen Handelns im Spannungsfeld von Imagination und Realität, Winnenden 2008, p190ff. Ein gegenwärtig aktuelles Beispiel (Juni 2010): „Apple will jetzt, dass die Nutzer dem Konzern das Recht geben, Bewegungsdaten zu erheben – anonymisiert, aber potentiell immer und überall. Apple will wissen dürfen, wo sich seine Kunden aufhalten“, so Konrad Lischka auf Spiegel online: „Wie Handys die Welt beobachten“
(http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,701230,00.html; 23.06.2010.) Siehe auch vom selben Autor: „Apple nutzt iPhone-Besitzer als Umgebungsscanner“; gesichtet 20.07.2010 (http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,707417,00.html).
[33] Siehe: Köln progressiv 1920-33. Seiwert – Hoerle – Arntz. Katalog zur gleichnamigen Ausstellung im Museum Ludwig Köln, hg. von Lynette Roth, Köln 2008, p95.
[34] Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: ders., Werkausgabe in zwei Bänden, hg. u. m. Kommentaren versehen von Anna Freud und Ilse Grubrich-Simitis, FFM 1978, Bd. 2, p367-424, hier: p387.
[35] Peter Sloterdijk, Blasen, Bd. I der Sphären-Trilogie (Mikrosphärologie), FFM 1998, p24.
[36] Wenn man möchte, können hier als freilich anders zugeschnittene Vorfiguren die kalte persona, der Radar-Typ und die Kreatur als Referenz einer Psychologie von außen dienen. Siehe dazu Helmut Lethen, Verhaltenslehren der Kälte. Lebensversuche zwischen den Kriegen, FFM 1994, p266f.
[37] Richard Buckminster Fuller, Bedienungsanleitung für das Raumschiff Erde und andere Schriften, dt., hg. von Joachim Krausse, Hamburg 2010, p49.
[38] Lebenswelt als Sachverhalt „verträgt jedoch keine Exklusion“, so Luhmann (Intersubjektivität oder Kommunikation: Unterschiedliche Ausgangspunkte soziologischer Theoriebildung, in: ders., Soziologische Aufklärung, Bd. 6: Die Soziologie und der Mensch, Opladen 1995, p169-188, hier: p177). – Es sei allerdings auch daran erinnert, daß diese Art von Lebensweltschutzbewegung, -theorie und Lebensweltschutzpolitik (in Anlehnung an den Umweltschutz) ihre gleichsam rigide Kehrseite hatte und hat – in Gestalt von zumeist leibfeindlichen, futuristischen, radikal systemtheoretischen und anthropischen Vorstellungen, in denen ein „take over“ der Lebenswelt durch Technik als Befreiung gedacht wurde und wird.
[39] Gemeint ist damit die Einschätzung Guido Ceronettis (Das Schweigen des Körpers, dt., FFM 1990, p230), daß es für „den Menschen“ nur so lange Abenteuer gibt, wie er Geschmack am Abgrund findet. – Die Entfaltung technogener Nähe hat auch den Sinn, diesen Geschmack sublimierbar zu denken, ohne sich dafür eine Apodiktik der reinen Oberfläche (à la Norbert Bolz) einhandeln zu müssen.
[40] Und zu verzichten ist leider auch nicht auf den Umweg über Institutionen (im Sinne Gehlens), auch wenn die gegenwärtige Abwesenheit dringend neu zu kreierender Institutionen dazu reizt, sie als überflüssig zu bedeuten. Der Geist der Entfremdung, aus dem die Freiheit geboren wird, so Gehlen, west immer noch an – zumeist dämonisch.
[41] Siehe als eine Herleitung des Zwangs zur Explikation Peter Sloterdijk, Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. III: Schäume, FFM 2004, p126ff. Zu den speziellen Implizit-/ Explizitheiten betreffs einer möglichen „natursprachlichen“ Kommunikation mit Computern siehe Grant Johnson, ... und wenn er Witze macht, sind es nicht die seinen. Dialog mit dem Computer, in: Kursbuch, Heft 75/1984, p38-56. Das Problem liegt in der (noch?) fehlenden Operationalisierbarkeit und damit Aufbereitung der unbewußten Regelkompetenz des Menschen für die Maschine Computer: Der Mensch kann eine beliebige Anzahl von Sätzen aussprechen und ausgesprochenen Sätzen einen Sinn verleihen, und zwar nach Regeln, die er selbst nicht formulieren kann (unbewußte Kompetenz). Diese unbewußte Kompetenz müßte aber zumindest gegenwärtig explizit gemacht werden für eine kommunikable Maschine namens Computer. Dabei entsteht die epistemologisch interessante Frage, inwieweit der Wechsel von Implikat zu Explikat die Funktion des Latenten verändert und damit Einfluß nimmt auf die latente Funktion der unbewußten Regelkompetenz.
[42] Identitätsbildung hat immer dann statt, wenn der Verlust impliziter Orientierungen nicht als erleichternd (befreiend), sondern als gefährlich erlebt und mit dem Einrichten von Selbstverständlichkeitsprothesen beantwortet wird. Identitätsprothesen sind in ihrer Anlage defensiv, in ihrer Ausführung zumeist aggressiv.
[43] Ders., Futurum Exactum. Ausgewählte Schriften zur Kybernetik und Kommunikationstheorie, hg von Bernhard Dotzler, dt., Wien/ New York 2002, p198.
[44] Prototypisch: Egon Friedells „[A]ber oh nein: die Maschine macht den Menschen“ (derselbe, Ecce Poeta, Berlin 1912, p213).
[45] Karl Marx/ Friedrich Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Bd. 3, Ostberlin 1983, p69.
[46] Nochmals sei verwiesen auf das singuläre Unterfangen Hans Peter Webers, im Begriff des „KreaturDenkens“ einen solchen und zudem kosmologisch geweiteten Entwurf zur Diskussion zu stellen. Derselbe, KreaturDenken, Berlin 2006.
[47] Ulaş Aktaş, Poetologie der Stimmung. Auf dem Weg zu einer Ästhetik der Existenz, Manuskriptauszug, Berlin 2008, p49.
[48] José Sánchez, Der Geist der deutschen Romantik, a.a.O., p359.
[49] Analogisierend möchte ich das folgende, vielleicht zu anschauliche Beispiel wiederholen: Es hat sich herausgestellt, daß kleine Abteile in den U-Bahnen dazu führen, daß die Fahrgäste bei Gefahr oder Gefährdung eines Gastes die notwendige Bereitschaft zur Verantwortung des Sich-Einmischens nicht aus der ‚Intimität’ der überschaubaren Anzahl anderer Gäste beziehen; Großabteilwagen sollen nun die passende Anonymität (‚Ferne’) erzeugen, die – paradoxerweise – Menschen dazu animiert, sich bei Gewalt einzumischen, da sie eher davon ausgehen, nun Mitstreiter zu finden. Kurz: Eine Hineinevakuierung eines kleinen, überschaubaren Interaktionsformats in Zeiträume, in denen keine Nähe, kein Vertrauen zu den Interaktionsmitspielern entstehen kann, versagt. Erst ein der Anonymität angepaßtes Format (Großabteil) führt zur einer Äquivalenz von sozial nahem, d.h. verantwortlichem Verhalten und de facto herrschender Nichtnahheit (Umfremdung, Unbekanntheit).
[50] Verf., Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, Marburg 2003. Der dort stark gemachte Gesichtspunkt ist der Begriff der Leblosigkeit.
[51] Grant Johnson, ...und wenn er Witze macht, sind es nicht die seinen. Dialog mit dem Computer, a.a. O., p42.
[52] Peter Friedrich Stephan, Nicht-Wissen als Ressource sowie sieben Thesen zu künftiger Wissensarbeit, in: i-com. Zeitschrift, Heft 2/2006, p4-10b, hier: p6. Stephan spricht hier von einem re-framing der Wissensorganisation durch Mediengestaltung, vermeidet es aber, den Zentralbegriff des tacit knowledge in Richtung (Ro-)Mantik zu orientieren.
[53] „Denn die kommende Politik ist [...] die unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation. [...] Beliebige Singularitäten können keine societas bilden, weil sie keine Identität haben, der sie Ausdruck verleihen könnten, und über kein soziales Band verfügen, dessen Anerkennung erstritten werden müßte“; Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, Berlin 2003, p79.
[54] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde (1: Über die Seele im Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, orig. 1956; 2: Über die Zerstörung des Lebens im Zeitalter der dritten industriellen Revolution, orig. 1980), München 1992; Ludwig Marcuse, Das Märchen von der Sicherheit [geschrieben Anfang der 1940er Jahre], hg. u. eingel. von Harold von Hofe, Zürich 1981. – Anders sieht darin eine katastrophale Überforderung des einzelnen Individuums; Marcuse die Voraussetzung für einen gnadenlosen Konkurrenzkampf der Menschen, der jede Form friedlichen Zusammenlebens im Kern verhindert.
[55] Charles Fouriers „Theorie der vier Bewegungen und der allgemeinen Bestimmungen“, dt., hg. von Theodor W. Adorno; eingeleitet von Elisabeth Lenk, FFM/ Wien 1966) unterscheidet die Leidenschaften in drei Kategorien: fünf sinnlich-sensitive (luxurierende), vier affektive resp. Gruppenleidenschaften, sowie drei distributive bzw. Sozialleidenschaften (Vergesellschaftungsantriebe). Die dreizehnte ist eine orthogonale Leidenschaft, unitisme genannt, die die individuelle Leidenschaftsökonomie mit der gesellschaftlichen Leidenschaftsmechanik zu synthetisieren hat. – Wir kommen bald ausführlicher darauf zurück. Siehe kompakt Nicolaus Sombart, Die Aktualität des Charles Fourier, in: ders., Die Frau ist die Zukunft des Mannes. Aufklärung ist immer erotisch, a.a.O., p213-238.
[56] Und natürlich auch dem Mirakel der „Sichtbarkeit“, wie Hans Blumenberg glänzend zu beschreiben weiß (ders., Beschreibung des Menschen. Aus dem Nachlaß herausgegeben von Manfred Sommer, FFM 2006, p777-895). Indes wird hier dafür optiert, Sichtbarkeit nicht als eine primordiale Quelle für Erklärbarkeit menschlichen Tuns heranzuziehen.
[57] Gegenwärtig scheint es die biowissenschaftliche Hirnforschung zu sein, die diese große Integrationsarbeit hegemonial übernimmt: Geist, mind, Bewußtsein soll nun wieder aus dem Lebewesen Mensch, aus der Biologie des Menschen heraus zumindest verständlich werden. Der – begrüßenswerte – Anti-Cartesianismus dieses Unternehmens ist m.E. allerdings noch recht grob und durch forschungs(gelder)politisches Design übermotiviert. Siehe als weiterführende Hirn-Meditation Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, dt., FFM 1996, p238-260 („Schluß: Vom Chaos zum Gehirn“).
[58] Eine der grundlegendsten Kritiken an diesen Übereinstimmungs- und Identifikationspolitiken bietet immer noch die politische Anthropologie Ulrich Sonnemanns (Negative Anthropologie. Vorstudien zur Sabotage des Schicksals, Reinbek 1969, p29-139).
[59] Die passionare Dimension des Ausgesetztseins faßt Hans Peter Weber im Begriff des orphisch Passionaren als Erscheinung des kulturalen Sinns; er schreibt mit Blick auf die Bedeutung der Religion dies: „Und die unverschämten Kulturfälscher des ‚Religiösen’, die Religions-Strategen, werden die Passion zu reinen Machtgunsten pervertieren in einen Opferdienst, der zynisch die Viabilität opfert, diese kreatürliche eudaimonia – und die profanen Lüste und Sinnesgenüsse obendrein. Die Verdrängung des Zaubers [...] wird nicht nur durch die Aufklärungs-Strategen des reinen Willens durchexerziert, sondern auch und gerade durch die Verdunkelungs-Strategen der Religion.“ Derselbe, Orphisch oder Langsame Heimkehr [Labor], Berlin 2007, p16. Oder folgende Einschätzung, p26: die Pseudo-Kultusdienste der Religionen als „genuine Vergewaltigungspraktiken der kulturisierenden Gratifikation“ durch die „Inzuchtnahme der Musik durch die Liturgie“.
[60] Die Bedeutung des religiösen Antwortens auf die elementare Isolation/Insulation des Menschen ist weiterhin nicht zu unterschätzen. Sie macht sich immer dann noch geltend, wenn Theorien und Sichtweisen eher davon ausgehen, daß Menschen mehr Verbindungen und mehr Beziehungen benötigen, als sie haben. Die gegenteilige Sichtweise, grob mit Individualismus markierbar, geht dagegen von einem Zuviel an Beziehung, „Gemeinschaft“ und Gesellschaft aus und sucht in der erweiterten Trennung resp. im Getrenntwerden die Emanzipation des Menschen, nicht in der Erweiterung des In-Beziehung-Seins (Solidarität). – Ob das Ausschließungsverhältnis Individuum – Solidarität ein historisch-empirisches, ein strukturelles, ein (sozio-)logisches ist: das ist die spannende, in Problemanläufen immer wieder aufzunehmende Frage.
[61] Für die Verbreitungsmedien hat Friedrich Kittler dies zu verdeutlichen gesucht: die optischen Medien als Herausfordernde und Vergegenwärtigende der menschlichen Sinne (Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin 2002, p21-47; für die symbolisch generalisierten Medien hat Luhmann dies zu plausiblisieren versucht: Medien als genuine Mittel der Großpopulationsorganisation namens funktional differenzierte Gesellschaft (Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Teilbde, FFM 1997, p316-396.
[62] Soziologie ist eine im Vergleich zu anderen wissenschaftlichen Vokabularien junge Disziplin. Ihren Anfang nahm sie, um es begriffshistorisch zu verkürzen, als die fehlende Differenzfähigkeit des Staatsbegriffs nicht mehr zu halten war und auch die Ersatztermini für Staat nicht mehr ergiebig waren, wie etwa regnum, res publica, monarchia, common wealth, nation, civil society (so Luhmann). Es entstand die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, „aber nur unter der Bedingung, daß der Begriff der Gesellschaft auf Wirtschaft eingeschränkt wird und man [..] auf eine Theorie des umfassenden Systems der Gesellschaft vorläufig verzichtet.“ (Niklas Luhmann, Staat und Staatsräson im Übergang von traditionaler Herrschaft zu moderner Politik, in: derselbe, Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.3, FFM 1989, p65-148, hier: p113.) Die Reformulierung/ Reetablierung der society aus der company: das war es, was Adam Smith allen Sozialromantikern meinte ins Buch schreiben zu müssen; etwas, das nach David Hume selbstverständlich war, denn das Recht hatte vornehmlich die Aufgabe, das Eigentum – und damit die Gesellschaft – zu schützen; etwas schließlich, das Max Weber mit der Gegenüberstellung von Wirtschaft und Gesellschaft 1922 zumindest soziologisch auseinanderhalten wollte.
[63] Als Vorbedingung dessen, was Marx das Abstreifen nannte: Das wird zum Beispiel deutlich an der Stelle, an der Marx und Engels auf die sogenannte Aneignung „einer Totalität von Produktionsinstrumenten“ kommen, die sie gleichsetzen mit der „Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst“ (Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW, Ostberlin 1983, Bd. 3, p68). Damit diese Aneignung passieren kann, muß unter anderem diese Bedingung erfüllt sein: daß nämlich „das Proletariat alles abstreift, was ihm noch aus seiner bisherigen Gesellschaftsstellung geblieben ist“ (ebenda; kursiv von mir, B.T.). Denn die große Industrie habe eine Klasse geschaffen, „die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht“ (ebenda, p60). Siehe dazu Verf., Karl Marx. Eine Einführung, Konstanz 2008.
[64] Siehe Max Horkheimer/ Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung, Bd. 3 der GS von Adorno, FFM 1997, p141-191.
[65] Ossip K. Flechtheim/ Hans-Martin Lohmann, Marx zur Einführung, Hamburg 21991, p52f.
[66] Herbert Marcuse, Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu Sigmund Freud, dt., FFM 1980, p9 [original: Eros and Civilisation, Boston 1955].
[67] Das ist zugleich eine Absage an Norbert Bolzens Sicht auf den Konsumkapitalismus als die bisher beste aller operativen Formen, nichtgewaltsam für Millionen von Menschen und Hunderte von Kulturen Tag für Tag ihre materielle, symbolische und kulturelle Reproduktion zu gewährleisten (ders., Das konsumistische Manifest, München 2002).
[68] Philipp Stoellger, Was sich nicht von selbst versteht. Ausblick auf eine Kunst des Nichtverstehens in theologischer Perspektive, in: Juerg Albrecht/ Jörg Huber, Kornelia Imesch/ Karl Jost/ Philipp Stoellger (Hg.), Kultur nicht verstehen. Produktives Nichtverstehen und Verstehen als Gestaltung, Publikationsreihe des Instituts für Theorie der Gestaltung und Kunst Zürich, Zürich/ Wien/ New York 2005, p169-192, hier: p189.