Technogene Nähe, Band
I.3
7 Durchführung: Sozialität
Bernd Ternes
Auszug
„Armee, Nation, Kirche, Volk, Klasse, Proletariat,
Familie, Markt … Alles Abstraktionen, die wie Pappkameraden über den Köpfen
schweben. Nicht aus Pappe, sondern aus Fleisch und Blut, sagt ihr? Gewiß, nur hat dies menschliche Fleisch, weit davon
entfernt zu leben, leiden und sterben müssen. Blutrünstig, wie sie waren,
verlangten diese Zugehörigkeiten potentiell jedem das Opfer seines Lebens ab:
zu Tode gefolterte Märtyrer, vermeintliche Hexen, die auf den Scheiterhaufen in
Flammen aufgingen. So viel zur Kirche und zum Recht. Unbekannte Soldaten, in
Tausenderreihen auf Militärfriedhöfen begraben, […] endlose Namenlisten auf
Kriegerdenkmälern – zwischen 1914 und 1918 traf es fast die gesamte
Landbevölkerung. So viel zum Vaterland. Konzentrationslager und Gulags. So viel zur irrsinnigen Theorie der ‚Rassen’ und
zum Klassenkampf. Was die Familie anbelangt, so bietet sie der Hälfte aller
Verbrechen ein Zuhause. […] Und schließlich der Markt: Mehr als ein Drittel der
Menschheit leidet Hunger […]. Seit einigen Jahrhunderten zählen wir diese Toten
aller Art in Hunderten von Millionen. Den durch abstrakte Virtualitäten
benannten Zugehörigkeiten […] ziehen wir unser immanent Virtuelles vor, das,
wie Europa, niemandes Tod fordert. Unsere Gemeinschaften sollen nicht vom Blut
zusammengehalten werden. Das Virtuelle erspart uns zumindest dieses Fleisch und
Blut. Kein Kollektiv mehr auf das an einem anderen verübte Massaker und die
Behauptungen des Eigenen zu gründen: So sieht angesichts eurer Todespolitik und
Todesvergangenheit unsere Lebenszukunft aus. Also sprachen die Kleinen
Däumlinge, lebhaft.“
Michel
Serres, Erfindet
euch neu! Eine Liebeserklärung an die
vernetzte Generation, dt., Berlin 2013, p58f.
„Wir leben schon jetzt in Beruf und Freizeit
in einer Art Symbiose mit Rechner, Laptop, Tablet
oder Smartphone.“
Martin
Ebel, Sind wir
smart genug?, in: Tagesanzeiger, Online-Ausgabe, 16.08.2014,
http://www.tagesanzeiger.ch/kultur/diverses/Sind-wir-smart-genug/story/16035630
Sozialität als Technik
„Begrüßen Sie die neue Kindle Fire-Familie“;
Betreffszeile
einer Rund-Email von Amazon.de, 09.09.2012
„Historisch gesehen sind es zwei Sphären, die
ineinandergreifen, sich zunehmend wechselseitig
bedingen und sich schließlich zur
technologischen Zivilisation vollenden:
Ökonomie und Technik“[1]
„In Wahrheit ist die Hauptquelle des
materiellen Reichtums in den Industrieländern der Raub und die rücksichtslose
Ausplünderung“[2]
Versetzungen innerhalb gesellschaftlicher Synthesis
Sozialität
als Technik zu denken verbirgt vielleicht im ersten Moment die Stufen, die solch
ein Denken meint schon genommen zu haben, um tatsächlich zu behaupten, das
Soziale sei mittlerweile in eine „Ableitungsposition“ gerutscht; denn man
übersieht wahrscheinlich, daß hier nicht von Technik
als Sozialität die Rede sein soll, sondern eben: von Sozialität als Technik.
Gemeint ist damit eine Verrückung der grundlegenden Mechanismen der
Vergesellschaftung, zumindest eine Komplexierung derselben. Nicht mehr rückt,
um es in der Sprache des deutschen Idealismus und des Marxismus zu sagen, das Tote
(analysierte Welt bei Hegel, tote Arbeit bei Marx) aus der Perspektive des
Lebens („Leben des Geistes“, lebendige Arbeit) in den Blick, sondern letzteres
aus der Perspektive des Toten – also des vergegenständlicht-verdinglicht-abstrakten
Kondensats vergangener Arbeit, Zeit, Handlungen, Leiden. Das mutet selbst
verrückt an; wird indes entwirrt werden können, so man den Begriff der Leblosigkeit als „neue“ Daseinsdimension
exzentrisch paradoxer Verfaßtheit von Gesellschaft
akzeptiert[3],
der nichts vom Gedanken des Seins zum Tode hält, ihm aber nicht auszuweichen
vermag und damit, pointiert gesagt, dem Ausspruch Viktor von Weizsäckers
axiomatisch folgt, nämlich: Leben heißt, leidenschaftlich nicht tot zu sein.
Sozialität
als Technik zu denken mutet zudem eine Höchstdosis an Un-, mindest aber
Nicht-Logik zu – denn woher soll Technik, also das materiell, immateriell, das
virtuell, das algorithmisch Artefaktische kommen,
wenn nicht aus sozialen Systemen, die eben dies (und vieles andere) erst
ermöglichen? Die Bedingung zur Ermöglichung von Technik/ Technologie kann
selbst nicht Element sein der Entität namens Technik/ Technologie. Oder doch?[4] Für die politökonomische, die
ideologiekritische, für die vernunftorientierte Perspektive muß
hier strikt verneint werden; alles andere wäre schiere Dummheit. Zudem: Nur
wenn man einen quasi unendlich umfassenden und damit wohl auch differenzlosen
Begriff von Technik besitzt, der von kleinsten „Know-how“-
und „Know-that“-Skulpturierungen (Melken, Einparken,
Schuhe zubinden als Techniken) bis zu den voluminösesten (Sprache pragmatisch
einsetzen, Großbaustellen, Administration multikomplexer gleichzeitiger
Prozesse, Sozialisationstechniken) zur Anwendung kommen kann, wäre einem die
Apriorisierung der Technik selbstverständlich – ein Denken mithin, das den
Menschen als Techniker zu bestimmen sucht; und das die weiterhin bestehenden
Gesellschaftsklassen als Kapitaltechniken, Arbeits-/ Kommunikationstechniken
sowie das soziologisch recht junge Bedingungsensemble namens Gesellschaft als Technik-Gesellschaft/
Weltgesellschaft zu bestimmen sucht. Das tun indes nicht viele, so daß hier schon im sogenannten
Vorfeld der Begrifflichkeit erhebliche Verständigungsprobleme zu sichten sind.
Denn es
soll behauptet werden, daß Sozialität als Technik
gedacht werden kann, ohne einen quasi differenzlosen Begriff von Technik, ohne
Apriorisierung derselben und damit Aposteriorisierung von Sozialität zugrundezulegen. Was einzig vorausgesetzt wird und bis
jetzt eher schlecht als recht sich begründen läßt ist
die Annahme, daß Technik mit Sozialitäten „spielt“
und diese formatiert, vergleichbar den Tauschwertwarenkörpern, die mit dem
Gebrauchswert und damit mit Anzeichen
des Systems der Bedürfnisse in den Waren spielen, oder vergleichbar dem
Hochgeschwindigkeitsfinanzanlagekapital, das seit gut zehn Jahren
explosionsartig gesteigert mit der Tiefgeschwindigkeitsfinanzanlage namens
Immobilie „spielt“.[5] Will sagen: Sozialität in der bisher bekannten
Formstruktur sachlicher, zeitlicher und sinnsystemischer Bezogenheit ist das
Material technischer/ warenförmiger Verkehre, wobei die einfache Sozialität der
Dialogizität, der Unterbrechung doppelter Kontingenz,
der Imagination des generalisierten Anderen spielerisch übernommen wird (also:
Sozialität als Interface, als Gebrauchswert), indes der technische Verkehr,
besser: der technische Tausch und Austausch einem anderen Regelkreis „sozialer
Synthesis“ angehört, für den es bis jetzt noch keine klaren, eigenwertigen Einsichten, besser: noch keine
epistemologischen Interpretamente gibt – so man nicht
auf illustratorische SF-Narrationen zurückgreifen
möchte und auch nicht davon überzeugt ist, daß
Technik nur ein abgeleitetes Moment
der warenproduzierenden Modi abstrakter Beziehungen
darstellt, das in Gänze der Geld-, Kriegswirtschafts- und der Wert-/
Tauschlogik des Kapitals gehorcht – wie es etwa Adorno sah. Sähe man es so,
dann wäre Technologie nichts anderes als das Mittel, mit dem sich fremde
Tauschparteien, die sich auf keine gemeinsamen und gemeinsam anerkannten Normen
verständigen können, doch noch weiterhin verbindlich auf das Glücken eines
Tauschaktes ausrichten (ohne sichtbare Gewalt, ohne Krieg, ohne allzu große
Verletzung von Symmetrie, so es sich nicht um Kriegstechnik handelt); dann wäre
Technologie also das Eingeständnis einer irreversiblem Distanz zwischen
Zirkulationsagenten (Menschen) und zugleich die Lösung der damit verbundenen
Probleme (um es sehr euphemistisch zu sagen)[6].
Ein zweites
Moment theoretischen Kopfschüttelns dürfte sich des weiteren
für all jene Denker ergeben, die in einer humanistischen Begriffsmatrix
nachzudenken pflegen. Denn es ist diesen gerade „die Technik“ derjenige
Kandidat, der umgreifend als Zerstörer, „Zernichter“
von scheinbar gewachsener Sozialität ausgemacht wird. Ihnen ist Technik schon
dort, wo sie nur erweiternde, beschleunigende, vereinfachende, im weitesten
Sinne ökonomische Applikation ist[7],
Ausweis eines Sozialraums, der aufgehört hat, sich (alleine) in der Lebendigkeit der menschlichen
Beziehungen zu verändern.[8] Technik gilt ihnen als Sargnagel des
Ereignisses „Sozialität“; diese werde – früher oder später – degradiert werden
zu (passend gemachtes) Material für die Aufrechterhaltung systemisch gewordener
Regelkreise des Technischen: ein anfänglich im Spiel der gegenseitigen
Perturbation sich erweiterndes, veränderndes, verbesserndes und sich neu
erkennendes Sozialwesen (des Menschen wie der Gesellschaft) rutsche im Laufe
der Zeit in die Position der Selbstdisturbation einerseits, in die Position des
Anhängsels der nun Komplexität verkörpernden technischen Realität andererseits.
Es seien nicht mehr Geister oder gar „die“ Geister, die man, folgt man dieser
Kritikperspektive, vermeintlich herbeigerufen hat und nun nicht mehr loswird –
es sind vielmehr geistlose Begeisterer, die alles
tun, um „den Menschen“ auf ebensolches Niveau, das Niveau eines jeder
individuellen oder gar idiosynkratischen Eigenheit
verlustig gegangenen, quasi nackt-strukturalistisch sich dartuenden
Automatismus’, „herunterzuerziehen“[9];
„Nähe und Gemeinsamkeit zählen nur in analoger, körperlicher Form, das Internet
wird konsequent als wirklichkeitsferner, einsamer Fluchtort definiert“, so
Niggemeier im angemerkten Artikel. Ein Nichtort ohne
Reflexion, aber mit viel Operation, mit Schwärmerei, aber ohne Empathie, mit
(noch) enormer kognitiver Anpassungsbereitschaft und Kompetenzadressierung,
aber ohne Dialog und „kontextsensitiver“ Selbstreflexion, mit suchtartiger
Flucht in die Affektion, doch bar irgendeiner
rationalen Motivation. – Solcherart Sichtweise wird schwer zu begegnen sein.
Wir versuchen es hier, in der Hoffnung, nicht in eine schlechte Ambivalenz zu
geraten. Eine solche sehe ich in der Einlassung Günter Hacks
zum Thema Internet und „Heimat“. Hacks versucht, den
Skeptikern des Netzes, die den Gebrauch desselben durch die Nutzer tentativ als Sucht beschreiben, den Wind aus den Segeln zu
nehmen mit folgenden Sätzen:
„Gibt es so etwas
wie Heimat im Web? Zunächst: Heimat ist eine kleine elektrochemisch erzeugte
Wirklichkeit im Gehirn. Eine dieser wärmenden Ideen wie Freiheit, Gleichheit,
Brüderlichkeit, Gott, Bielefeld oder der Traum von einer guten Tasse Darjeeling, die jeweils ein sehr flexibles Verhältnis zur
Realität haben. Heimat ist also ein Phänomen, das aus regelmäßig aktualisierten
Mustern neuronaler Impulse hervorgeht. Das macht sie den Wirklichkeiten des
Netzes ähnlich, die ebenfalls auf ständige Zufuhr von Energie und
Aufmerksamkeit angewiesen sind. Auch sind Netz und Heimat Kontaktumwelten, die
permanent gepflegt werden wollen. Das macht sie keinesfalls gemütlich, sondern
eher anstrengend: Permanenter Zwang zur Selbstaktualisierung auf Rechenzentren
in schwedischer Kälte, der Blick in Facebooks
rissiges Gesicht. Die Heimat wäre keine wahre, wenn man sie nicht auch
verlassen wollte. Das Heimatgefühl des Users gilt manchen externen Therapeuten
als Sucht. Es gibt aber keine Internetsucht, nur einen unwiderstehlichen Wunsch
nach Expansion und Angleichung. Jedem guten Hirn wird es unter der Schädeldecke
sehr schnell langweilig. Es sucht nach seinesgleichen, es will raus, sich
dehnen und strecken. Es sucht das Kontakt-High. Und
da Netz und Hirn einander strukturell ähneln, herrschen ideale Bedingungen für
ein Kontakt-High nach dem Rezept von William
Burroughs: Wenn die anderen auf Netz sind, bist du es auch. Mit Schwarmdenken
hat das nichts zu tun. Für das Kontakt-High sorgt
nicht das Netz selbst, sondern die spannungsvolle Differenz zwischen dem User
und dem Anderen. Am Internet ist für Menschen nur eines nachhaltig interessant:
Menschen. Wer etwas anderes behauptet, ist ein Peripheriegerät.“[10]
Hier
spricht jemand von Menschen, meint aber das Gehirn, reduziert ersteren auf das,
was neurologisch statthat – womit ja gerade der Mensch als Verursacher der
Gehirntätigkeit eines anderen nicht mehr notwendig wird. Denn es gibt viele
Möglichkeiten, den internen Eindruck zu erzeugen, man sei in Beziehung mit
einem Menschen. – Einer solchen anti-skeptischen Sicht aufs Internet, die in
diesem und mit diesem durchaus Momente des Fortschritts ausfindig machen möchte,
soll hier nicht gefolgt werden (das gilt für alle wie auch immer gemäßigt
euphorischen Netz-Manifeste etwa vom Schlage Martin Burckhardts[11],
die beinahe völlig ohne politökonomische Perspektive im Gepäck durchaus
notwendige Übertreibungen zu Papier bringen). Vielmehr soll von der
Unterscheidung Skeptizismus/ Optimismus gelassen und als Ausgangspunkt der
Überlegungen davon ausgegangen werden, daß die
„sozialen Maschinen nicht nur im Internet […] ihren Rohstoff (Aufmerksamkeit,
Akzeptanz, Menge der User, Intensität der Nutzung) selber“ erzeugen.[12] Von diesem Ausgangspunkt extremer Abstraktion
wollen die Gedanken zur technogenen Nähe starten,
nicht aber einen wie auch immer modernisierten Humanismus als perennierendes
Moment in die neuen Wirklichkeiten gesellschaftlicher Realität hineinpflanzen.
Proposition oder
Spekulation?
Es ist wie
immer eine Frage der Genauigkeit der Begriffswahl – und einer ebensolchen der
Subsumtion von Welttatbeständen unter die Begriffe –, deren Beantwortung
darüber mitentscheidet, was überhaupt als Problem gilt und welche Verknüpfungen
von Realität und Begriff sich als wichtig oder unwichtig erweisen. Das hat auch
dann statt, wenn wie hier von der Annahme ausgegangen wird, daß
Genauigkeit der Begriffswahl selbst zu überprüfen ist als Maxime theoretischen
Begreifens; also davon ausgegangen wird, daß es
„erkenntnistheoretisch“ notwendig ist, ungenaue Begrifflichkeiten einzusetzen,
um der Realität (verstanden als Hyprid gestellter und vorgestellter Wirklichkeiten) auf die
Spur zu kommen, wenngleich diese Realität als schon sehr weit entfernte
problematisiert und thematisiert wird, so man sich gezwungen sieht,
metatheoretisch zu problematisieren.[13] Metatheoretische Texte benutzen Wissenschaftlichkeit
so, wie poetische Texte die Alltagsschriftsprache benutzen: Es geht beiden
Textsorten nicht mehr allein darum,
etwas darzustellen oder auszudrücken, sondern tatsächlich auch darum, die
Unmöglichkeit und Inadäquanz des Darstellens und
Ausdrückens selbst zu Gestalt zu bringen; beide sind in hohen Graden strikt
selbstbezüglich, aber selbstbezüglich aus Verlegenheit, nicht aus einer „Drift“
der soziokommunikativen Evolution heraus. Die
Verlegenheit besteht darin, daß sich beide Sorten
strukturell mit Überdosen an Heterogenität/ Abstraktion/ Komplexität von Welt
versorgen und trotzdem nicht auf das Wahrnehmen ausweichen, das ja im Ensemble
Empfinden/ Wahrnehmen/ Denken die größten Aufnahmekapazitäten für die
Relationen von Weltwirklichkeit sein eigen nennt. Übrig bleibt also, pointiert
gesagt, eine unklare Sicht aufs Verschwommene – eine Einsicht, die von einer in
ihren Spitzen schon exzentrisch paradoxen Verfaßtheit
der Realität ausgeht, und die sich
selbstverständlich mitmeint, also selbstbezüglich zu sein versucht. Denn anders
geht es nicht, wenn die Paradoxie entfaltet werden soll, daß
gerade an den „ureigensten Vermögen“ geistiger, sprachlicher, intellektueller
wie kognitiver Sinnkommunikationssysteme sowohl Selbstbewußtsein/
Denken zweiter Ordnung schleichend, doch gleichsam massiv ausgetrieben wird[14];
daß gerade im fluiden,
ephemeren, ungreifbaren menschlichen Daseinsplateau der Gedanken,
Vorstellungen, Imaginationen, Möglichkeitshorizonten, sprachlichen Tropen wie Artifizialitäten Schübe operationaler Verdinglichung an
ebendiesen Innen- und Sozialwelttatsachen zu gewärtigen sind, die das
klassische Begriffsmodell der Prothetisierung – bis dato hauptsächlich noch für
die biologisch-physikalischen Daseinsplateaux in
Anschlag gebracht – nun auf den Geist
mit all seinen Artefakten/ Funktionen ausweiten[15] (nebenbei: eine medientheoretische Kritik
aller Brain-Computer-Interface-Theorien ist längst
überfällig): und damit nicht mehr nur physikalische Evidenzen, sondern nun soziale Daseinsweisen transformiert,
abstrahiert, technisiert, letztlich: konfiguriert werden. Das scheint mir das
geschichtszeitlich Besondere der gegenwärtigen Technologisierung sozialer Welt
zu sein: die nicht mehr nur intellektuelle, sondern soziale, besser:
sozialpsychische Okkupation durch eine massive Veränderung der Regeln interaktiver
Kommunikation im gesamtgesellschaftlichen Umfang. Die bis dato im Verlauf der
Technikgeschichte immer mitlaufende soziale Bewirtschaftung neuer
gesellschaftlicher Realitäten durch Technikeinsatz, meist nur marginal reflexiv
ausgebildet (das gilt auch noch für das 19. Jahrhundert, so Hans Blumenberg),
ist nun selbst das Operationsfeld des Technikeinsatzes, ist nun selbst
Material, das technologisch transformiert, abstrahiert, entidiosynkratisiert,
marginalisiert wird – oder schlicht vernichtet.
Die hier
interessierende soziale Weise, die sich als Material einer Technologisierung
ergeben wird, ist die der Bereitstellung
von Nähe für den Menschen wie auch die sozioanthropologische
Weise der Herstellung von
Nähebedarfsbefriedigung – makrosoziologisch betrachtet![16] Wie bekommen Menschen ihren
historisch-anthropologisch variierenden Bedarf an Nähe erfüllt[17],
wie stellt Gesellschaft ausreichend Nähe bereit, wenn ebendiese nicht mehr
allein im sozialanthropologisch uralten Sozialsystemformat der Anwesenheitsinteraktion
produziert/ ermöglicht wird – und die bisherigen Formen gesellschaftlicher
Abstraktion, die das Distanzierungsvermögen exorbitant erhöhten, keine
ausreichend pazifizierten/ pazifizierenden
Kontrapunktionen mitausbildeten,
um dem Distanzsein eine kulturelle Motivation/ Mentation
des Nahseins an die Seite zu stellen – trotz aller Mühen von Kunst, Literatur,
Musik? Diese Fragen[18] sind zu beantworten im Rahmen einer hier
verfolgen politischen Anthropologie, die, nochmals sei es betont, der
Entfaltung des Begriffs der technogenen Nähe
unterlegt ist; eine Gehlen[19],
Schmitt resp. Barrès, Enzensberger, Spengler etc.,
also der Gegenaufklärung widersprechende anthropologische Bestimmung der
Menschen als nicht auf den Begriff zu bringenden Menschen, die nicht davon ausgeht, daß
es die räumliche Nähe oder Ferne der Menschen zueinander ist, die darüber
entscheidet, ob Handlungen, Verhaltensweisen, Urteile „moralisch“ funktionieren
oder nicht, sondern davon ausgeht, daß in den Schüben
der Vergesellschaftung technologisierter
Kommunikation ein anthropologischer Universalismus sich keimhaft zu entwickeln
vermag, der zwar nicht im Kantschen Sinne abstrakte Moral zum Ausdruck bringt,
doch dafür eine motivationale (nicht: affektionale) Einstellung zu
abstrakten, nicht im räumlichen Nahraum und durch Erfahrung kondensierten
Wirklichkeiten ermöglicht: eine Einstellung mithin, die jenseits extrinsischen (Angst) und intrinsischen
(Normverinnerlichung) Drucks durch einen neuen, zumindest anders gearteten
Druck (Vernetzungszwang)[20] der grausamen Unterscheidungsrealie
Freund/ Feind weiter Einbußen bereiten kann.[21]
Wir sprechen
daher auch von einer menschlicheren Abstraktion, die sich in Term der technogenen Nähe kristallisiert – in der Überzeugung, daß die kulturkonservativen, die kulturreaktionären
Fassungen des Menschen als einen, der nur in gemeinschaftlichen Nahräumen
moralisch unter Druck steht oder moralisch unter Druck gehalten werden kann, in
abstrakteren Räumen aber einer hypokritischen Selbstüberforderung zum Opfer
fällt, falsch sind.[22] Aber auch in der Überzeugung, daß kritisch-theoretische Erörterungen der Userisierung/
Verdinglichung menschlicher Formen triftig bleiben, etwa die grundlegende Sicht
Otto Ullrichs auf die Maschinisierung des Lebendigen
durch die elektronisierte Zurichtung: „Die Herrschaft der Maschinisierung,
der ‚Erlösung vom Körper’, Entsinnlichung, Enträumlichung, Entzeitlichung
und Körperausschaltung dringen nach und nach in alle Poren der Gesellschaft
ein. […] Die Handlungsräume der Menschen werden vollgestopft
mit Distanzierungstechniken aller Art, die Distanz schaffen zur Natur und zu
den Mitmenschen (beispielsweise durch den Körperpanzer Automobil) und die das
für Menschen unverzichtbare räumliche und zeitliche Gefüge auflösen. […]
Soziale Kontakte und Kommunikationen zwischen Menschen werden tendenziell
ersetzt durch dazwischengeschaltete Apparate, die die
‚Kontakte’ örtlich auseinanderziehen und zeitlich
auch versetzen […]. Mit den Plastikbäumen und Plastikhirnen der künstlichen
Intelligenz […] vermehren sich die Plastiksprache […] und die
internetgestützten schnell austauschbaren Plastikbeziehungen.“[23]
Es ist nun,
wenn Sozialität und Technik die polare Bandbreite des Inblicknehmens von Welt
abstecken, beim Problem der Darstellung des Erkenntnisgegenstandes zusätzlich
eine eigenartige Drehung zu bezeichnen. Denn einerseits ist all das, was auch
in einer humanistischen Perspektive den Menschen zukommt, durchaus als Technik
zu begreifen; ja mehr noch: es sind definitiv Techniken, die den Menschen
überhaupt eine sogenannte Entwicklung haben zukommen
lassen – vor allem ist hier an die Sprache zu denken, an die Arbeit(steilung) und die schon systemisch ausgekoppelte
Form von Wissen, das in der Wissenschaft generiert wird. Technik resp.
Techniken sind fürs erste nichts anderes als Methoden reeller, ideeller,
imaginärer Skulpturierung, die benutzt werden, um den
Spielraum zwischen einem Weltereignis und der Welt, zwischen einer Handlung und
einem Handlungsspielraum, zwischen einem Problemlösungsverfahren und den Problemlösungsmöglichkeiten
zu vergrößern (eben weil Menschen nicht einfach nur leben, sondern im Leben
dieses auch noch „führen“ und wissen müssen); oder sie stellen Methoden dar, um
ein bisher nicht reelles Ereignis mit Welt in Kontakt zu bringen unter der
Voraussetzung, daß „die Welt“/ „die Natur“ dieses
neue Ereignis „akzeptiert“. Also Naturtechniken, Kulturtechniken, später
Selbsttechniken. Faßt man es so, ist Menschsein und
Technikersein synonym zu setzen. Der Unterschied ist nur der, daß alle Volatilitäten, alle Innovationen, alle Spannungen
zwischen beiden Figurationen ihren entwerfenden Impuls anscheinend vom
Menschsein bekommen – vom Menschen, der träumt, der leidet, der verzweifelt,
der haßt und liebt, der sich liebt oder haßt, der sich in der Ohnmacht einrichtet oder aber in der
Revolution ausrichtet, der hungert, der sich bekriegt, der vor Unlösbarkeiten
steht, der in der Sorge und in der Pflicht lebt, der sich betäubt, der
kompensiert und der flieht… – der, kurz gesagt, mit seinen Bedürfnissen, Wünschen,
mit seinem Erwartungshorizont und seiner Einbildungskraft, mit seinem Begehren
und seinen Ängsten zu groß ist für die faktische Welt „erster Natur“, aber, ob
der Spitzenleistungen des Sozialen[24],
in seinem Erfahrungsraum unausweichlich kleiner wird (bis hin zur bekannten
prometheischen Scham). Dieses „Zu-groß-Sein“ galt
bisher und gilt vielerorts auch weiterhin als Emergenz
des Bewußtseins, als Effekt des sprachlichen
Kommunizierens, als Erscheinungsweise des „Geistes“. Und das Menschsein ist natürlich, recht besehen,
ein Menschseinwerdungsprozeß, bezogen auf die
Ausfällung einer soziokulturellen Lebensweise, nicht bezogen auf das
biologische oder gar psychophysische Wesen. Als Basso continuo dieses Werdens, das –
ehrlicherweise gesagt – immer katastrophal, unter Schmerzen, unter Leid und
(wohlwollend: „schöpferischer“) Zerstörung sich expliziert, muß
in den Kämpfen und Klassenkämpfen die permanente gesellschaftshistorische
Überforderung[25] angesehen werden: ununterbrochen sind
Menschen, egal in welchen sozialen Systemen sie verschaltet sind, den nicht
oder nicht mehr implizit durch Tradition gedeckten Handlungszwängen ausgesetzt,
müssen Welt, Wirklichkeit und Realität neu setzen, zusammensetzen, einrichten,
stellen – und zwar mit immer mehr „Unbekannten“ (im mathematischen und
soziologischen Sinne)[26].
Vollends transparent wird dieses auch kommunikationspsychologische Fundament[27],
betrachtet man jetzt nur die moderne Etappe der Technologisierung von Welt.
Makrohistorisch paraphrasierend schreibt dazu Otto Ullrich: „Die tief in die Struktur der Materie
eingreifende analytisch-synthetische Manipulation der modernen
verwissenschaftlichten Techniken erzeugt ein „prometheisches Gefälle“. […] Die
Griffweiten der Vermögen klaffen weit auseinander. Bei diesen Techniken ist das
menschliche Vermögen, etwas gefahrbringend
herzustellen und zu bewirken, weit größer als das Vermögen, über die damit
verbundenen Folgen etwas zu wissen. Wiederum noch viel kleiner als das Wissen
sind die Vermögen, das Bewirkte zu begreifen, zu fühlen und zu verantworten.“[28] Das ist hier der Punkt: Ist es angebracht,
dieses Vermögen, zu begreifen, zu fühlen und zu verantworten, jetzt als mitausbildbares Vermögen im Rahmen der neusten
Kommunikationstechnologien zu denken? Und was würde dies bedeuten für die
Gesellschaftstheorie, wenn die tragende Architektur ebendieser Gesellschaften
nicht mehr über Zufall (Erscheinungsweise: geschlossene Gemeinschaft;
Herkunftsgewalt) und nicht über „Schicksal“ (Erscheinungsweise: geschlossene
Nation; Zugehörigkeitsgewalt) codiert werden, sondern nun forciert über Gefahr
(Erscheinungsweise: technologisch vernetzt; Kommunikationspolitik[29])?[30]
In
einer kleinen, sehr groben Rekonstruktionsskizze lassen sich entlang der
prägnanten Vorschläge Heinrich Popitz’ die
gesellschaftshistorischen und gesellschaftstechnologischen Linien
nachvollziehen, deren Hervorbringung das Werden des Menschen maßgebend
formierte. Dabei ist immer mitzudenken, daß kein
einfaches Ableitungsverhältnis unterstellt wird im Hervorbringen von
technischen Lösungen aus bestehenden Problemen der notwendigen
Existenzreproduktion. „Die Erfindung neuer Produktionsmittel ist eine Reaktion
auf eine Konstellation von Bedürfnissen und schon vorhandenen, zu deren
Befriedigung möglicherweise unzureichenden Mitteln, aber sie ist als Reaktion
auf diese Konstellation weder zwingend aus dieser abzuleiten […], noch kann sie
dieser transzendent sein […]“.[31] Dies erschwert maßlos den Versuch,
Technikanthropologie geschichtstheoretisch zu konsumieren. Aber es lassen sich
durchaus Polaritäten festhalten, ohne deterministisch – etwa im Sinne der
Marxschen Verkettung Handmühle erzeugt Feudalismus, Dampfmühle erzeugt
Industriekapitalismus – vorzugehen.
Es sind die basalen Techniken und Technologien, die das Menschsein in Sozialität schlechthin formten. Die Skizze dient hier als Horizontentwurf, um die Weite des Kontextes zu verdeutlichen, in dem das Theorem der technogenen Nähe Figur werden soll.
[1] Wilhelm Berger, Philosophie der technologischen Zivilisation, München 2006, p12.
[2] Otto Ullrich, Forschung und Technik für eine zukunftsfähige Lebensweise; erw. PDF-Fassung des gleichnamigen Textes, der in: Jahrbuch Arbeit + Technik 2001/2002, Grenzüberschreitungen, Stillstand und Bewegung in der Gesellschaft, hg. von Werner Fricke, Dietzverlag, Bonn 2001, erschienen ist. Zitat aus einem PDF-Dokument, p3. http://www.otto-ullrich.de (03.02.2014).
[3] Siehe Verf., Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, Marburg 2003. Man kann auch andere Ausfallbegriffe in der Nähe des gemeinten epistemischen Problems ausmachen: etwa die hybride Gesellschaft resp. die neue Gesellschaft Bruno Latours (Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, dt., FFM 2007) oder, skeptischer, die Gesellschaft als Liga-Verband im Sinne Hans Peter Webers (KreaturDenken, Berlin 2006). Siehe als Einleitung in fragile Konzepte der Gesellschaftstheorie Oliver Marchart, Das unmögliche Objekt. Eine postfundamentalistische Theorie der Gesellschaft, Berlin 2013. Politökonomisch gerahmt versucht Wolfgang Pohrt in seiner 1976 veröffentlichten Dissertation Theorie des Gebrauchswerts die Vernichtung ebendieses als Quelle sozialer Leblosigkeit auszumachen (Neuauflage Berlin 1995, p241ff.). Für ihn sind nicht nur die Arbeiter, sondern auch die Bürger in einer Lage, in der sie, „nachdem sie ihren eigenen historischen Untergang überlebt hatten, selbst zu gespenstischen Statisten im geschichtlichen Prozeß geworden sind“ (p117).
[4] Für die biologische Realität hat Humberto Maturana dies Problem, wie etwas entstehen kann, das gleichzeitig die Bedingungen zur Ermöglichung des Entstehens mitausbildet, im Begriff der Autopoiesis zu klären, besser: aufzulösen versucht. Siehe nochmals derselbe, Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausgewählte Arbeiten zur biologischen Epistemologie, 2., durchges. Aufl., Braunschweig 1985, etwa p138-156.
[5] Letzteres wäre eine eigene Untersuchung wert, um den Begriff der Dialektik erneut zu prüfen. Denn es ist offensichtlich, daß im Moment der Explosion des fiktiven Kapitals/ des digitalen Kapitalismus (Pal Dragos) beinahe die reellsten, die unfiktivsten Warenkörper/ Kapitalanlagen, nämlich Immobilien, Zufluchtsort für die zwanghaft zu erzielende hohe Rendite von Kapitalanlagen geworden sind.
[6] Noch ist die Lösungspraxis das Institut des Vertrages für die Akteure des Marktes sowie die gesellschaftlich unterstellte Geltung von allseits akzeptierten Werten, der mit dem Institut des Rechts Wirksamkeit verliehen wird. Das beinhaltet selbstverständlich die Erlaubnis zu unmoralischem Handel und Handeln – mit der Form des (Wirtschafts-)Krieges als stärkstem Ausdruck darwinistischer Interessendurchsetzung.
[7] Das ist sie eo ipso, wenn unterstellt wird, daß sich „der“ Kapitalismus mit der Industrie die technologische Basis fürs Prozessieren geschaffen hat.
[8] Was für Gotthard Günther eine positive Vision ist – „…breitet sich die Subjektivität über denjenigen Materialbereich der Welt aus, der nicht der einer Subjektivität zugeordnete lebendige Körper ist“ (ders., Das Bewußtsein der Maschinen. Eine Metaphysik der Kybernetik [1957], 3., erw. Aufl., Baden-Baden 2002, p180 –, ist für Humanisten alten Schlages reine Dystopie.
[9] „Die einzigartige Möglichkeit, online ‚soziale Kontakte zu pflegen’, steigere bei bestimmten Personen die Bereitschaft, ihr ‚Sozialleben’ in größerem Maß aufzugeben“; so resümiert Stefan Niggemeier Aussagen Jens Reimers, Direktor des Hamburger Zentrums für Interdisziplinäre Suchtforschung, zur Cybergesellschaft. Siehe Niggemeier, Das wahre Leben im Netz, in: FAZ, 04.10.2011.
[10] Günter Hack, Unser Zuhause ist das Internet, auf: www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1 518,825382,00.html (10.04.2012).
[11] Martin Burckhardt, Digitale Renaissance. Manifest für eine neue Welt, Berlin 2014.
[12] So Georg Seeßlen, „You’re
ugly, but you’re not alone”, in: konkret, Heft 7/
2014, p53-55, hier: p53.
[13] Gleichwohl der „Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“, gefolgt wird, sehen wir die Referenz des Über-den-Begriff-Hinausgelangten nicht, wie Adorno, in der Kunst, sondern in der Technologie. Adorno: „Der philosophische Begriff läßt nicht ab von der Sehnsucht, welche die Kunst als begriffslose beseelt und deren Erfüllung ihrer Unmittelbarkeit als einem Schein entflieht. Organon des Denkens und gleichwohl die Mauer zwischen diesem und dem zu Denkenden, negiert der Begriff jene Sehnsucht. Solche Sehnsucht kann Philosophie weder umgehen noch ihr sich beugen. An ihr ist die Anstrengung, über den Begriff durch den Begriff hinauszugelangen“; ders., Negative Dialektik, GS, Bd.6, FFM 1997, p27. – Dank an Thomas Jung.
[14] Pars pro toto: Die Exzesse der Evaluation der letzten 15 Jahre können als komplementäre Sozialtechnologie des Behaviorismus in zweckfunktionalen Räumen betrachtet werden – komplementär zur reellen behavioristischen Technologie der vernetzten Kommunikation (Psychologie ohne Bewußtsein trifft Verhaltenskontrolle ohne Bewußtsein). – Über eine extreme Vulgarisierung des Behaviorismus siehe Peter Mühlbauer, Maneesh Sethi sammelt Crowdfunding-Geld für Selbstbestrafungsarmband, auf: Telepolis, http://www.heise.de/tp/artikel/42/42226/1.html (11.07.2014). Das Band soll den Namen „Pavlok“ tragen, ein Mix aus dem Namen des Protobehavioristen Iwan P. Pawlow und dem englischen Wort für Sperre/ Schloß. Der Autor läßt allerdings offen, ob es sich hier um ein künstlerisches oder reelles Vorhaben handelt.
[15] Hier ist vor allem an die sogenannte Naturalisierung des Bewußtseins zu denken (John R. Searle), prinzipiell an die Kognitionswissenschaften und -techniken (Francisco J. Varela). Erste Übernahmen dieser wissenschaftlichen Überzeugungen in den (Sprach-)Alltag gibt es auch schon – etwa wenn das Internet als outsourced brain bezeichnet wird. – Thomas Metzinger geht davon aus, daß es in Zukunft Technologien geben wird, „die immer direkter, präziser und auch immer selektiver auf das neuronale Korrelat des subjektiven Erlebens selbst zugreifen“ (derselbe im Gespräch mit Reingard Jellen; zweiteiliges Interview „’Neuro-Bashing’ als Nachfolger des ‚Veganer-Bashings’“ auf: Telepolis, http://www.heise.de/tp/artikel/42/42389/1.html), 24.08.2014, Teil 1.
[16] Nochmals gesagt gilt dieser Erkenntnisfokus
nicht für die ersten 36 bis 48 Monate der humanen Ontogenese: hier vermag Technik
sich maximal der Mensch-Mensch-Interaktion einzupassen resp. sich temporär als Kompensat für die gestörte Dyade anzubieten, niemals aber
diese besondere Form der Sozialität
zu ersetzen. Anders und sogar schon für die Lebensphase des Embryos bestimmend sieht
dies Hugo de Garis in seinem etwas cowboyhaft daherkommenden Artikel „The
Artilect War. Cosmists vs. Terrans“ (auf: http://agi-conf.org/2008/artilectwar.pdf;
24.08.2014). Für ihn kann Technik Substitut
sein. Er schreibt unter Punkt 2.6 (Artificial
Embryology): „One of the greatest challenges of 21st century biology is to understand
‚development’, i.e. the embryogenic process, i.e. how
a fertilized single cell grows into a 100 trillion cell animal such as
ourselves. Once this process is well understood, technology
will be able to create an artificial embryology, to manufacture products, hence
‚embryofacture’ (embryological manufacture). Embryofacture will be used to build 3D complex artilects. – Dank an Davor Löffler für
den Hinweis.
[17] Ausgenommen davon sind nach meiner Überzeugung die ersten drei Jahre der Ontogenese des homo sapiens. Aber die Frage ist ja, ob ebendiese Menschform homo sapiens gegenwärtig auch struktural mutiert/ formatiert/ in-formiert wird.
[18] Sie müssen in den folgenden Bänden ergänzt werden durch Fragen nach den neuen Rechtsbedürfnissen in einer Gesellschaft, die sich in weiten Teilen auf eine Hochtechnologisierung der Produktion eingelassen haben wird. Siehe zum Rechtssystemänderungsbedarf für eine sogenannte Industrie 4.0 Sven Hötitzsch, Rechtliche Perspektiven der Smart Factory, auf: Telepolis, http://www.heise.de/tp/artikel/41/41888/1.html (06.07.2014).
[19] Arnold Gehlen, Moral und Hypermoral. Eine pluralistische Ethik, FFM 1969.
[20] Den man sich nicht schönreden darf! Georg Seeßlen zeigt am Beispiel der internetbasierten Paarbildung, daß hier zwischen Paranoia und internalisiertem Wahn des Eigentümerseins die einzige Intimität die des Sich-wieder-Trennens sei. Seeßlen schließt den ersten Teil seines Beitrages mit den Worten: „Wir haben einen Blick in die Hölle getan“ (derselbe, Die Liebe im digitalen Zeitalter, 2 Teile, in: konkret, Heft 6 und 7/ 2014, Zitat: Heft 6, p48). Siehe auch die gemäßigt kritische Studie von Stefan Selke, Lifelogging. Wie die digitale Selbstvermessung unsere Gesellschaft verändert, Berlin 2014.
[21] Wie es auch die Kulturwissenschaften mit dem Starkmachen der kulturellen Differenz im Sinn hatten/ haben. Multikulturalismus bleibt daher weiterhin im Strom der Arbeit, das soziale Mitsein weniger grausam zu organisieren; indes muß, so scheint mir, die kulturalistische Sichtweise stärker denn bisher sozialökonomisch ausgerichtet werden. Ein Widerspruch? Ja, doch einer, der entfaltet werden kann.
[22] Indes:
Dafür ist so etwas wie Erziehung, Lernen nötig. Jaron Lanier meint, bezogen auf das für die digitale
Freiheit schwarze Jahr 2013: “Unless we resist giving away our information in
exchange for a few free treats, we can’t expect to prevent the government from
dipping into that same data. 2013 was a year when our noses were rubbed in our
own passivity. Citizens in the information age have to learn to be more than
just consumers; they have to learn to be a match for their own inventions”;
derselbe, Digital Passivity, 27.11.2013 (gelesen
02.06.2014), auf: International Herald Tribune, http://www.nytimes.com/2013/11/28/opinion/digital-passivity.html?_r=1&. Fast in die gleiche Richtung gehend, bezogen
auf die Privatsphäre in der Zukunft, auch Ernst-Wilhelm Händler: “Nach wie vor
gilt: Der innere Mensch bildet sich weder von außen noch von selbst. Aber der
neue Mensch des IT-Zeitalters vermag die Formen, die
er mittlerweile annehmen oder ablehnen kann, in viel höherem Maß und weit
bewusster mitzugestalten als sein Vorgänger. Er muss allerdings von seiner
Wahl- und Gestaltungsfreiheit entschiedenen Gebrauch machen”; ders., Die
Intimsphäre des neuen Menschen, in: Die Zeit, Nr. 26/ 2014, p45.
[23] Otto Ullrich, Forschung und Technik für eine zukunftsfähige Lebensweise (2001), PDF-Dokument, gelesen 03.02.2014, auf der homepage: www.otto-ullrich.de, p13.
[24] Das sieht wohl nur ein soziologisch formierter/ deformierter Schreiber so: das Mehr, das ein Ganzes (Gesellschaft) über die Summe seiner Teile hinweg ist, emergiert Entlastungs- und Ermöglichungsleistungen, die niemals auf die einzelnen Individuen runtergebrochen werden können (der deutsche Idealismus hat es noch mit dem Begriff des Subjekts versucht).
[25] Heiner Mühlmann hat diesen Sachverhalt Maximal-Stress-Cooperation genannt, die im Radius der hörbaren Gemeinschaft funktionabel sei, aber nicht mehr in Radien, in denen von Abstraktionen resp. abstrakten Entitäten Gefahren ausgehen. Siehe derselbe, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/ New York 1996, p33-49.
[26] Um Mißverständnisse zu vermeiden: Die Ausrichtung an Tradition/ „Göttern“, Vätern, Herrschern ist weit grausamer denn die Ausrichtung an Zukunft: diese läßt zumindest offen, daß es noch etwas gibt, das offen ist, und sei es nur sie selbst (das wäre dann Hoffnung).
[27] Wir sehen darin den Sinnbegriff in der Fassung, daß es immer mehr Potentialitäten als Aktualitäten gibt. Jede Aktualität, also jede reale Wirklichkeit, muß kommunikationspraktisch enttautologisierbar sein (etwas ist nicht das, was es ist), abzüglich einiger kulturell normierten Bereiche, in denen Aktualität und Potentialität auf je ihre systemeigene Art zusammenfallen müssen (Liebe, Wahrheit, Moral, Teile der Kunst).
[28] Otto Ullrich, Forschung und Technik für eine zukunftsfähige Lebensweise, a.a.O., p5.
[29] Hier in Anlehnung an Foucaults Biopolitikbegriff, der einen Wechsel im Procedere des Lebenlassens und Sterbenmachens entwarf (Leben machen/ Sterben lassen); derselbe, Die Geburt der Biopolitik. Geschichte der Gouvernementalität II, Vorlesungen am Collège de France 1978/1979, dt., FFM 2006.
[30] Dietmar Kamper, Der Mensch als Zufall, Schicksal und Gefahr. Exzentrische Paradoxie, in: ders., Horizontwechsel. Die Sonne neu jeden Tag, nichts Neues unter der Sonne, aber…, München 2001, p123-132.
[31] Peter Bulthaup, Zum Problem des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus, in: derselbe, Zur gesellschaftlichen Funktion der Naturwissenschaften, FFM 1973, p53-63, hier: p54.