Unterwählen (1998)

Bernd Ternes

 

Wer es ehrlich meint mit sich und mit dem, was er weiß, der geht bei der diesjährigen Bundestagswahl nicht zur Wahl. Wer Anstand besitzt und noch Respekt vor Unterscheidungen, die Unterschiede machen, der wählt nicht mehr Partei, sondern entscheidet sich für oder gegen den Anspruch der Politik, Gesellschaft zu ge- oder zu verunstalten. Nur wer nicht mehr Partei wählt, bewahrt sich die Illusion, Politik als System verhandele soziale Gesellschaft. Wer nicht mehr wählt, trifft seine Wahl auf einer unteren Etage: nämlich der, auf der die Unterlassung des Parteiwählens selbst politisch werden kann — und dies nicht im Sinne der nichtabgegebenen Stimme, die immer der anderen Partei zugute kommt, sondern im Sinne von: Wer seine Stimme behält, stimmt dem Anspruch von Politik zu, indem er die gegenwärtige Organisation der Politik verwirft. Wer wirklich politisch denkt und sein Handeln zumindest manchmal noch dadurch touchieren möchte, der setzt sein Wählen mit dem politischen Code in Beziehung, aber nicht mehr mit einem darin aufzufindenden Programm. Es geht nicht mehr um parteiliche Politik, nicht mehr um Kampf oder Konkurrenz zwischen Programmen; es geht um den Konkurrenzkampf der gesellschaftlichen Codes.

Wer sich richtig zu sehen traut, muß zugeben, daß es nur noch eine Partei gibt. Es ist nur hohler Nostalgie, leerem Empfinden und trostloser Hoffnung geschuldet, zwischen SPD und den Grünen (sowie Blair, Clinton, Jospin) auf der einen und CDU, FDP (und Tories, Republikanern) auf der anderen Seite Unterschiede zu setzen, die Unterschiede machen. Man müßte sich eigentlich schämen, denn egal, was man wählt: Man wählt etwas, das nicht mehr Partei ergreift, das hündisch geworden ist und brav mit dem Schwanz wackelt, wenn es vom Kapital (neuerdings: "der Globalisierung") einen Brocken Essbares (sprich: sozialpolitisch Gestaltbares) vorgeworfen bekommt. Man müsste lachen, sähe es nicht so verdammt demütigend aus, wenn politische Angestellte an die Unternehmer und deren Verbände appellieren, doch bitte dazu beizutragen, daß  wenigstens einigen von den vielen Menschen, die volkswirtschaftlich überflüssig wurden, der Eintritt in die Sozialexistenz erster Klasse ermöglicht wird. Die Appellierer sind meist genau die, die mit Zähnen den Grundsatz vertreten, daß zwischen "der" Gesellschaft und "dem" Kapital kein Vertrag existiert, der letzteres verpflichtet, so etwas wie „Gerechtigkeit“ widerfahren zu lassen.

Wer Unbehagen spürt, wenn Clinton, Blair und jetzt Schröder mit dem Begriff der Modernisierung und Innovation in Zusammenhang gebracht werden (je tiefer der Stand der Sonne, desto größer der Schatten von Zwergen), und sich erlaubt, für einen Moment die richtige Einsicht festzuhalten, daß nur der kalte Krieg der Politik erlaubte, jenseits von Wirtschaftspolitik Politik zu erfinden, der wählt nicht mehr. Und wenn doch, dann nur die CDU: entweder sie selbst in der Ausführung classic, die SPD in der Ausführung medium oder die Grünen als Ausführung light.

Der Staat als agora stirbt ab, so Marx und zuletzt Matthias Beltz; er hinterläßt eine Politikinfrastruktur, die wieder zu dem wird, was sie war, nämlich: "Polyzei". Die soziale Gesellschaft transformiert zu einer Untermenge der Unternehmensgesellschaften. Wer das in seinem Wahlhandeln reflektiert, der wählt nicht mehr Partei, der wählt darunter; dort, wo das Ausbleiben einer Stimme Unruhe stiften kann.