Verdinglichung als Selbstverwirklichung? Progressive Waren als Subjektformen im Nachgang Marxens und Prokops

Bernd Ternes

 

 

Abstract

Es wird behauptet, dass zwischen dem kulturell bestimmten Selbstverständnis „einer sozialen Lebenswelt und einer Selbstverdinglichung unter Kategorien zweckrationalen Handelns und adaptiven Verhaltens“ (Habermas 1969, S. 81f.) eine neue, negativ-dialektische, vielleicht gar exzentrisch-paradoxe Beziehung eingezogen ist. Das ist, zugegeben, sehr kompliziert und als Behauptung reichlich ungedeckt.

 

 

Prolegomena: Worauf es hinauslaufen soll

So wie eine nachmarxistische Gesellschaftstheorie den bei Marx definitiv nicht gesellschaftspenetrierenden und nicht mit dialektischer Spannung ausgestatteten Gesellschaftssystembereich sprachlicher Reproduktion und Verständigung („Überbau“) mit derjenigen Kraft ausstattete, die Marx nur im Bereich der Kräfte innerhalb der Arbeits-Produktion im Rahmen einer politischen Ökonomie lokalisierte, soll hier nun eine modifizierte Version ebendieser Kraft gerade dort ausgemacht werden, wo letztlich nur Verdinglichungs- und Lebensweltentkopplungsprozesse registriert werden: in der technisierten Lebenswelt und in den entsprachlichten Kommunikationsmedien.

Während eine phänomenologisch orientierte Gesellschaftskritik die Alternative zur Technik in einer Handlungsstruktur verortet, die als symbolisch vermittelte Interaktion im Unterschied zum zweckrationalen Handeln sich nicht umstandslos Herrschaftskriterien subsumiert, scheint es heutzutage eher angebracht, die theoretische Perspektive auf die Verschmelzung, zumindest auf die interpenetrative Form von symbolisch vermittelter „Interaktion“ und technologisch formierter Kommunikation zu lenken.

Während die Habermas’sche kritische Theorie Technik, Technologie und Steuerungsmedien innerhalb sozialer Lebenswelt eindeutig auf die Objektseite placierte und ihnen erst eine gesellschaftspolitische, -theoretische Dignität zu verleihen imstande war, wenn sie in ihren Entstehungs-, Geltungs- und Begründungsdimensionen kommunikativ-handelnd und reflektiert eingeholt (angeeignet) worden sind, ist man heutzutage eher geneigt, Technik, Technologie und Steuermedien in einem „Dazwischen“ zwischen Subjekt und Objekt anzusiedeln, also als Quasi-Objekte, „subjektive Objekte“, vielleicht gar schon als „Nobjekte“ zu konzeptualisieren, die in ihrer Funktions-, Wirkungs- und Ermöglichungsarchitektur grundlegend auf „Interaktion“ (allerdings als „Warenform“), auf soziable/ soziale und nicht allein instrumentelle Nutzung ausgelegt sind.

 

I Marx

Wenn von Sozialpsychologie des Kapitalismus die Rede ist, dann scheint mir immer noch sinnreich, an den Stellen emanzipatorischer resp. revolutionärer Theorie das Nachdenken ausgehen zu lassen, die aus heutiger Sicht je nach Temperament unstimmig geworden resp. entsetzlich sind – aber gleichsam und weiterhin virulent, nämlich die Entscheidung der Meisten für Unterdrückung und nicht für „Befreiung“. Betrachtet man Marxens Einlassungen zur „Mechanik“ des Überwindens kapitalistischer Vergesellschaftung, ist ohne Zweifel davon auszugehen, dass neben den »materiellen Bedingungen« für eine neue Gesellschaft, die wenigstens schon im Prozess des Werdens sein müssen, gleichsam und zudem theoretisch gleichwertig auch noch die  kulturellen Bedingungen hinzutreten müssen, die ebenfalls schon im Prozess ihres Werdens sein müssen, damit die neuen Aufgaben, die neuen Lösungen und die neuen Gestalten, in denen die Paradoxien der Vergesellschaftung auftreten, überhaupt bemerkbar und transformierbar werden können. Das bedeutet zugespitzt: Marxens Begriff von den materiellen Bedingungen ist für heutige Verhältnisse zu eng, weil er in diesen materiellen Bedingungen nicht die kulturellen unterbrachte und damit ignorierte, dass eine im Umbruch befindlichen Gesellschaft sich neue Herausforderungen auch kulturell aneignen muss.

So gilt etwa folgende Unterscheidung heute nur noch eingeschränkt: »Die besitzende Klasse und die Klasse des Proletariats stellen dieselbe menschliche Selbstentfremdung dar. Aber die erste Klasse fühlt sich in dieser Selbstentfremdung wohl und bestätigt, weiß die Entfremdung als ihre eigne Macht und besitzt in ihr den Schein einer menschlichen Existenz; die zweite fühlt sich in der Entfremdung vernichtet, erblickt in ihr ihre Ohnmacht und die Wirklichkeit einer unmenschlichen Existenz.« (Marx/Engels, MEW, Bd. 2, S. 37)

Noch deutlicher wird das an der Stelle, an der Marx und Engels auf die sogenannte Aneignung »einer Totalität von Produktionsinstrumenten« kommen, die sie mit der »Entwicklung einer Totalität von Fähigkeiten in den Individuen selbst« gleichsetzen

(Marx/Engels, MEW, Bd. 3, S. 68). Damit diese Aneignung passieren kann, muss unter anderem diese Bedingung erfüllt sein: dass nämlich »das Proletariat alles abstreift, was ihm noch aus seiner bisherigen Gesellschaftsstellung geblieben ist« (ebd.). Denn die große Industrie habe eine Klasse geschaffen, »die wirklich die ganze alte Welt los ist und zugleich ihr gegenübersteht« (ebd., 60).

Offenbar ist hier die Vorstellung des Abstreifens zu mechanisch-revolutionär gedacht, zu strikt mit den nun schon bekannten materiellen Bedingungen wie auch mit der Herausbildung eines Klassenbewusstseins verkoppelt – indes ist sie nicht verkoppelt mit dem Gedanken, dass dieses »Abstreifen« erst gelingen kann, wenn die neue Gesellschaftsstellung des Proletariats zuvor auch kulturell übergestreift, also in eine eigenständige, selbst angeeignete Form des Gebrauchens, Bedeutens und Benutzens übersetzt worden ist, wenn also die antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses auch kulturell eingeholt worden, d.h. tradierbar ist. Und das würde theoriestrategisch bedeuten, den Kapitalismus nicht mehr nur im Rahmen der polit-ökonomischen Analyse in den Blick zu nehmen, sondern diese Analyse um eine kulturelle Analyse zu erweitern – vergleichbar Marxens Unterfangen, die bürgerlichen Horizonte der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit aus ihren privatistisch-idealistischen Fassungen zu evakuieren und sie erweitert zu materialisieren, historisch zu materialisieren.

Damit aber erweitert sich auch der Blick auf den Kapitalismus selbst: ihn als Kultur zu denken wäre nun die Herausforderung für das Denken – etwas, was Marx wohl nie in den Sinn gekommen wäre, da für ihn der Kapitalismus maximal zivilisatorische Kräfte zu entfalten wusste, aber keine kulturellen.

Kommt es einem in den Sinn, dann würde Kultur, besser: würden Kulturen damit Eintritt erhalten in das Ensemble von Begriffen, deren Funktion es bisher war oder ist, Widerspruchs- und Widerstandspotenziale gegen eine entfremdende, verdinglichende, ungerechte, alles Sinnliche auslöschende Warentauschgesellschaft zu repräsentieren und kenntlich zu machen, also Begriffe wie Gebrauchswert, Proletariat, Geschichtssubjekt. Claessens und Claessens (1979, S. 133) haben darauf aufmerksam gemacht, dass der Kapitalismus im Zuge seiner gewaltsamen Durchsetzung schwach war »im Aufbau neuer, dem Menschen in seinem Verhalten helfender Institutionen«. Viele Bräuche, Rituale, Geselligkeitsvorstellungen, »seelische« Überzeugungen wurden aus der vorkapitalistischen Zeit mit in die neue Zeit (ebd., 147f.) hineingenommen, weil die neue kapitalistische Wirklichkeit selbst noch keine entlastenden, orientierenden, kultivierenden Formen der sozialen Beziehung ausgebildet hatte. Das Neue war nämlich, dass nun die Gesellschaft als Ganze in den Prozess des Marktwerdens eingespannt wurde – und für diesen Prozess stand kulturell zumindest ab den 1850er Jahren nur eine Ressource zur Verfügung, nämlich disziplinierter Fleiß.

Fleiß als einzige Ressource ist, wenn man es so konturiert sagen darf, bisher in den hochkapitalistischen Gesellschaften nur in einer Form kultiviert und gefördert worden: nämlich im Bereich des hochorganisierten sportlichen Wettbewerbs. In sportlichen Aktivitäten und Inszenierungen wurde und wird die kapitalistische Grunderfahrung der Konkurrenz kulturell eingeholt, kulturell übergestreift – indes: nur sportlich, also nur den körperlichen Kampf und körperliche Kräfte betonend, nicht kommunikativ.

Diese beschränkte Kultivierung eines dem Kapitalismus selbst entsprungenen kulturellen Merkmals, also das weiterhin bestehende grundlegende kulturelle Organisationsdefizit lässt sich jedoch, so die These hier, für den heutigen Stand des Kapitalismus nicht mehr uneingeschränkt diagnostizieren. Dass die Gesellschaft von Verkehrs- und Kommunikationstechnologien, von neuen so genannten Technokulturen, von einer so genannten Populärkultur durchdrungen ist, könnte Anzeichen dafür sein, dass der Kapitalismus längst in eine Phase eingetreten ist, in der das kulturell-kommunikative Überstreifen im vollen Gange ist, und zwar mit allen negativen, katastrophalen, zerstörerischen Momenten versehen, die eine ausgewiesene Kulturkritik zu benennen weiß (Stichwort: »Kulturindustrie«; Horkheimer/Adorno 1997, Bd. 3, S. 141-191), aber auch mit Momenten, die nicht mehr eindeutig unter das Diktum »Aufklärung als Massenbetrug« (ebd.) fallen, weil sie womöglich zu neuen Kulturtechniken führen können.

Kurzum: Wenn die Annahme richtig ist, dass die bürgerliche Revolution nicht überall mit der Vergangenheit Tabula rasa gemacht hat und daher viele wichtige Elemente des »vorbürgerlichen ›Überbaus‹ stehen gelassen und sich einverleibt« hat (Flechtheim/Lohmann 1991, S. 52f.) – dann könnte es zumindest plausibel sein, in der Medien-, Informations- und Kommunikationstechnologie heutiger Tage die materieller Bedingung für eine kulturelle Aneignung und Verwirklichung des »bürgerlichen Überbaus« zu sichten (übertreibend und pointiert gesagt: erst die Open Source-Bewegung realisiert im Bereich der Kommunikation Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit); eine kulturelle Aneignung oder Überstreifung, die erst noch vollzogen werden muss, um dann das so Erreichte wieder abzustreifen.

In einem Brief an Arnold Ruge (September 1843; MEW, Bd. 1, S. 343-346) kommt Marx

darauf zu sprechen, dass er Kommunismus nicht als dogmatische Abstraktion verstehe, ihn vielmehr als etwas wirklich Existierendes im Sinn habe. Dieser Kommunismus sei nicht identisch mit der Aufhebung des Privateigentums, da der Kommunismus »selbst nur eine besondre, einseitige Verwirklichung des sozialistischen Prinzips ist« (ebd., 343). Marx fährt fort: »Und das ganze sozialistische Prinzip ist wieder nur die eine Seite, welche die Realität des wahren menschlichen Wesens betrifft. Wir haben uns ebensowohl um die andre Seite, um die theoretische Existenz des Menschen zu kümmern […]« (ebd.). Gegen Ende des Briefes wird es dann zentral: »Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewusstseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen, sich selbst unklaren Bewusstseins […]. Es wird sich dann zeigen, dass die Welt längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstseins besitzen muss, um sie wirklich zu besitzen. Es wird sich zeigen, dass es sich nicht um einen großen Gedankenstrich zwischen Vergangenheit und Zukunft handelt, sondern um die Vollziehung der Gedanken der Vergangenheit. Es wird sich endlich zeigen, dass die Menschheit keine neue Arbeit beginnt, sondern mit Bewusstsein ihre alte Arbeit zustande bringt.« (Ebd., 346) – Dieses »Bewusstsein-Besitzen« von einer Sache muss also durch ein kulturelles Aneignen einer Sache ergänzt werden; und zwar im gesellschaftlichen Maßstab, nicht im privat-individuellen.

 

II Brückner

Das folgende wird eher einem Traum von einer Sache gerecht denn einem Bewusstsein. Es ist der Traum, dass mit den telematischen Abstraktionen und Rekonkretionen sozialer Beziehungen die Arbeit einer wirklichen Aufhebung des kapitalistischen Regimes noch unter Strom steht, nicht mehr eindeutig durch eine Ausweitung „reiner“ Produktivkräfte, sondern durch eine ebensolche der Kommunikationskräfte, die zwar weiterhin der abstrakten Arbeit Frondienste leisten, indes als konkrete Arbeitsformen Potential zur Inversion besitzen.

Besonders Engels sah Ende des 19. Jahrhunderts die Ausweitung der Produktivkräfte im Kapitalismus technisch zwingend angelegt; und damit gleichsam zwingend die Abnahme etwa der kapitalistischen Kontrolle über die Art und Weise der Verwendung von Elektrizität (was sich z. B. dahingehend bewahrheitet hat, dass noch bis in die heutigen Tage hinein die Stromversorgung umgreifend durch den Staat verantwortet wird; allerdings mit abnehmender Tendenz).

Gleichsam gilt: Trotz dieses Glaubens an die den Kapitalismus verneinenden Kräfte der Wissenschaft und Technik bleibt der Prozess zwiespältig, ambivalent, widersprüchlich; ein Prozess, der sich dadurch auszeichnet, dass das, was zu einer positiven Aufhebung der Verhältnisse beiträgt, innerhalb dieser Verhältnisse nur zur Destruktion führt. In der Deutschen Ideologie heißt es etwa: »In der Entwicklung der Produktivkräfte tritt eine Stufe ein, auf welcher Produktionskräfte und Verkehrsmittel hervorgerufen werden, welche unter den bestehenden Verhältnissen nur Unheil anrichten, welche keine Produktionskräfte mehr sind, sondern Destruktionskräfte (Maschinerie und Geld)«. (Marx/Engels, MEW, Bd. 3, S. 69.)

Diese Sichtweise, erweitert und auf die Realien des 20. Jahrhunderts bezogen, findet sich auch in Peter Brückners Sozialpsychologie des Kapitalismus wieder – allerdings, so meine Sichtweise, mit einer starken Gewichtung der ambivalenten, gar dialektischen Anteile innerhalb der Destruktion. Sein Blick gilt einer Situation, in der die Produktionsverhältnisse nicht mehr am Potential der entfalteten Produktivkräfte gemessen werden können, weil „sich die bestehenden Produktionsverhältnisse als die technisch notwendige Organisationsform einer rationalisierten Gesellschaft präsentieren“ (Habermas) – und damit scheinbar oder anscheinend dies Potential verkümmert.

Brückner (2004, S. 43ff.) diagnostiziert in den sozialstaatlich stabilisierten kapitalistischen Gesellschaften die Entfaltung eines Lebensrahmens, in dem „den Individuen, Kollektiven, Teilpopulationen ein Stück Orientierung an internalisierbaren oder symbolisch repräsentierten Werten, Normen und Codices und sogar ein Stück Disziplinierung gleichsam erspart oder abgenommen wurde“ (ebd., 43). Diese Vergesellschaftung von Kontrolle statt Disziplin und von indirekter statt direkter Beobachtung erzeuge, so Bruckner, „in großem Umfange äußerlich, organisatorisch, technisch Formen des übereinstimmenden Verhaltens“ – und zwar so, dass es auch ohne ordnungspolitisches „Zutun der Staatsbürger konform, geregelt und affirmativ zugeht“ (ebd.). Das gelte für alle Bereiche gesellschaftlichen Lebens, also für die Produktion, die Ausbildung, die Bürokratie, die Verrechtlichung und auch die Technisierung des Alltags, die Verbreitung des Fernsehens, die Ideologisierung der öffentlichen Meinung. Bruckner: „Das funktionierende Gesellschaftssystem ist sehr weit verregelt und steckt voller Abhängigkeit seiner Subsysteme […]. Das Bewusstsein wird als bloßes Durchgangsmoment in die Schaltung verselbstständigter Apparate eingespannt; Bewusstsein und Orientierung der Menschen werden ein Stück weit entbehrlich und machen sich nur zu oft als ‚Sand im Getriebe’ bemerkbar (ebd., 43f.). Damit kommt Bruckner zu seiner Kernthese betreffs inversiver Effekte einer tatsächlich statthabenden gesellschaftlichen Exklusion. „Wo Verhalten gewaltlos zwangsgeregelt wird, verringern sich Stör- und Konfliktzonen in der Weise, dass Affektbeträge, Stimmungslagen und Bedürfnisse nicht mehr zureichend in sozialem Handeln, in Interaktion und Kommunikation entäußert werden. Sie können, einmal von der Entäußerung ein Stück weit ausgeschlossen, nicht mehr „sozial reifen“, bleiben oder werden roh. Diese partielle Dissozialisierung der Affekte, Bedürfnisse usw., namentlich angesichts der allgemein verringerten Nötigung, sich selbsttätig oder in Kommunikation mit anderen zu orientieren, konstituiert „mit einem Male“ unterhalb der Koordination und Regelung des Lebensflusses eine wachsend nicht-sozialisierte und a-soziale Psyche“ (ebd., 44). Bruckner fasst diese Abspaltung, Deprivation und Depravation auf als Effekte einer „zu weitgehenden bewusstseinsfernen ‚technokratischen’ Organisation des sozialen Lebens“ (ebd., 45). Doch genau an dieser Stelle – und damit beende ich das Paraphrasieren – findet Bruckner ein spekulativ-utopisches Moment wirksam. Denn unter der Voraussetzung, dass der Klassencharakter der Gesellschaft sich „erneut“ manifestierte, sei die Möglichkeit gegeben, dass sich unten den technokratisch organisierten Menschen etwas verändert: das „Nicht-Sozialisierte der Psyche [lässt sich] nach vernünftigen Prinzipien solidarisch organisieren und wird dann ansatzweise zu revolutionärer Energie. Die psychischen Systeme werden ‚heiß’“ (ebd.). Und dann führt Brückner ein retardierendes Moment ein, das es zu beachten gilt. Er schreibt: „Nach dieser Auffassung müssen im Umfeld solcher Veränderungen zugleich anarchoide Erscheinungen sich häufen, die gegenkulturell sich aus der Gesellschaft entmischen: Hippies, Gammler und Subkulturen des Hasch. Noch schleppt das Gesellschaftssystem des Spätkapitalismus eine Fracht des Elends durch seine Geschichte, die vielfach nur im Elend der parzellierten Subkulturen oder in der Privatheit vieler Einzelner aufbrechen kann“ (ebd.).

Wie kann man, lässt man das konkret Zeittypische beiseite, diese Einschätzungen 30 Jahre später anlegen? Kann man sagen, dass auch heute ein immer größer werdender Teil der Population der Möglichkeiten beraubt ist, ihre Erfahrungen sozial reifen zu lassen, ihre Bedürfnisse im öffentlichen Raum experimentell zu artikulieren?; kann man sagen, dass weiterhin viele (und ich meine damit nicht zuvörderst das „tote Humankapital ohne Rendite“, wie es die Deutsche Bank einmal formulierte) eine a-soziale Psyche ausbilden, in filigranen Technologisierungen und damit Verdinglichungen ihrer Sinnesvermögen Erfüllung zu finden meinen? Kann man behaupten, dass auch heute heiß werdende psychische Systeme im Rahmen einer symbolisch gelockerten Kontrolle und gleichzeitig technologisch rigider werdenden Regelung durchaus ansatzweise revolutionäre Energie entfalten könnten, bis jetzt aber nur insular, isoliert und privativ sich auf den Monitoren der gesellschaftlicher Praxis zeigen? Kurzum: Ist die avancierte Kommunikationstechnologie heutiger Tage das Zusichkommen eben der technokratischen Organisation des sozialen Lebens, von der Brückner sprach? Und: Entmischt sich da etwas aus der Gesellschaft?

 

III Prokop

Es scheint hier angebracht, auf die Hilfe von Überlegungen Dieter Prokops zurückzugreifen, um der Beantwortung etwas näher zu kommen. Mit seinem Essay „Freiheitsmomente der Warenform. Negativ-dialektische Theorie der Kulturindustrie“[1] soll im Groben skizziert werden, wie die Idee der Freiheitsmomente in der Warenform und mit der Warenform zu verbinden sind mit Vorstellungen, die Kommunikationstechnik als Generator sozialer Intensität des In-, Mit- und des noch schwach vorhandenen Gegenüberweltseins. Zugleich soll damit ein Weg gebahnt werden, mit Marcuse gegen den Marcuse des „eindimensionalen Menschen“ argumentieren zu können – also so, dass weiterhin mit Blick auf die „objektiv“ überflüssige Repression in der intensivierten Unterwerfung der Individuen unter den ungeheuren Produktions- und Verteilapparat (Marcuse) doch und gleichsam Freiheitsmomente in der gegebenen Formation von Technologie zu detektieren sind, und nicht erst in einer ganz ‚anderen Technik’, die sich bis jetzt sozial- und mentalitätshistorisch noch nicht habe zeigen können.[2]

Die Frage lauten, ob die „neue“ Dimension sozialer Beziehungen, die sich innerhalb der neuen elektronischen Kommunikationstechniken als zunehmende Warenwerdung des Kommunizierens selbst zeigt – das social web als Umwelt der Werbebotschaften; eine Wiederholung der sozialökonomischen Architektur des Privatfernsehens –, zu verbinden ist mit Kluges/ Negts Vorstellungen eines „politischen Rohstoffs“ (Kluge/Negt 1992, S. 22f.) resp. zu verbinden ist mit der Vorstellung, dass mit den neuen Praktiken des Kommunizierens manifeste Formen des Latenten der Gesellschaftsgeschichte zumindest touchiert werden. Es geht dabei um einen erneuten Versuch des Kurzschließens von

– Eigenlogiken der Apparate (technisch, sozial, politisch) mit den Eigenlogiken der vergessenen, historisch abgesunkenen Prozesse des vorangegangenen Tuns; um das Kurzschließen von

– potenziell und reell bestehenden Motiven, Absichten, Verantwortungen und Abwesenheiten gesellschaftlich wirksamer (bewusster und unbewusster) Interessen, Gefühle, Ängste und Proteste mit den neuen Formatierungen der kommunikativen Expression, Verlautbarung und auch Negation ; sowie schließlich

– um eine mögliche Synthese der ‚neuen’ Kommunikationsapparate und der in ihnen sich bildenden ‚neuen’ Warenform für soziale Beziehungen mit einem „Rohstoff des Politischen“, nun allerdings in der Dimension der menschlichen Sozialanthropologie (und nicht nur in der gesellschaftlich möglichen politischen Öffentlichkeit).

Dabei kommt es entscheidend darauf an, dass die neuen Formate und Formen, in denen sich der sozialanthropologische Roh-, Treib- und Bedürfnisstoff namens Nähe gesellschaftlich vermittelt, als Warenformen, die sie sind, Freiheitsmomente beinhalten, die in ihrem Intensitätsvermögen dazu beitragen, dass die technogene Nähe-Formatierung durch Elektronik mehr als nur Entlastung für die genuin sozialinteraktiven und sozialintegrativen Formate gesellschaftlicher Nähe bringt (Familie, Partnerschaft, normgeregelter sozialer Umgang, ausgerichtet durch Not, Verpflichtung, Schuld, rationaler oder religiöser Motivation), sondern sich vielmehr herauszustellen vermag als dasjenige Maß- und Formverhältnis, das dem Stoff namens Nähe(bedürftigkeit des Menschen) für den jetzigen soziohistorischen Stand der Vergesellschaftung ko-evolutiv am nächsten ist.

Am-nächsten-Sein bedeutet hier, immer bezogen auf die Grundproblematik der Erörterung technogener Nähe: Bedingungen zur Ermöglichung einer Erarbeitung der Fähigkeit bereitstellen, um „zum Organisieren großer Populationen und den sich unvermeidlich ergebenden Komplikationen ein direkt emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden“ (Claessens 1993, S. 17) – etwas, was weder der Religion, der Vernunft, der Nation, der Literatur, der Broadcast-Telekommunikation, den Musen, dem Konsum allein gelungen ist.

Dieses Am-nächsten-Sein könnte durch eine negativ-dialektische Erörterung des Nichtidentischen an der kommunikationsindustriellen Warenform des social web und des mobile web aufgezeigt werden, was hier allerdings nicht ausgeführt werden kann. Vorlage dafür bilden Dieter Prokops kritisch-theoretische Bemühungen, an der kulturindustriellen Warenform als solche ebendies plausibel zu machen. Kern dieser Bemühungen ist die Plausibilisierung folgenden Sprungs: des Sprungs weg von einer politökonomischen Sichtweise, in der die Produktionsverhältnisse nicht mehr am Potential der entfalteten Produktivkräfte gemessen werden können, weil „sich die bestehenden Produktionsverhältnisse als die technisch notwendige Organisationsform einer rationalisierten Gesellschaft präsentieren“ (Habermas 1969, S. 51), und hin zu einer ‚sozialökonomischen’ und ‚sozialanthropologischen’ Sichtweise, in der die technischen Kommunikationsverhältnisse notwendigerweise eine Organisationsform annehmen, in der die ‚Kommunikativkräfte’ mehr denn je Einfluss auf die Kommunikationsverhältnisse ausüben und diese ‚zwingen’, sich an den Potentialen der Kräfte zu orientieren.

Dieser Sprung setzt voraus, dialektische, zumindest inversive Kräfte in der erneuten Refiguration und Rekonstruktion der Präsentation einer rationalen Gesellschaft durch die vergesellschaftete und vergesellschaftende Elektronik zu vermuten – und damit Brüche in der scheinbaren Deckungsgleichheit von Produktionsverhältnissen und technisch-notwendiger Organisationsform der Gesellschaft.

 

IV Warenform

„Es versteht sich, dass die Aufhebung der Entfremdung immer von der Form der Entfremdung aus geschieht, welche die herrschende Macht ist“ (Marx, MEW, Bd. 40, S. 553)

 

Von der Warenform sozialer Beziehungen zu sprechen baut auf der Absicht auf, Technik und Kultur nicht ausschließlich als in einem sich ausschließenden Verhältnis stehend zu denken. Diese Widerspruchs- oder Antagonismusfigur leitet sich natürlich ab von abstrakteren Mustern, wie sie mit „Produktionsverhältnis versus Produktivkräften“, „Tauschwert versus Gebrauchswert“, „abstrakte Arbeit versus konkrete Arbeit“, „reine (identische) Wertform versus unreine (nichtidentische) Wertform“ im Rahmen nicht nur des Historischen Materialismus seit Mitte des 19. Jahrhunderts, sondern auch in der kritischen Theorie seit den 1920er Jahren des 20. Jahrhunderts als Erklärungs- und Kritikleitdifferenzen zum Einsatz gekommen sind.

Die Option für die Ergänzung der Verdinglichungskritik ruht auf der Annahme, dass die positive Bewertung des Internets betreffs der Ermöglichung und Formatierung sozialer Beziehungen nicht selbst schon Ausweis eines verdinglichten Bewusstseins ist. Diese Annahme allein wäre indes nicht hinreichend genug, um den Verdacht zu widerlegen, man betreibe schlicht „Schönfärberei“. Es braucht daher zusätzlich eine plausible, zumindest partielle Rekonstruktion der bisherigen Kritikarchitektur, die theoretisch fundamentiert, dass nicht alles an expliziter, stattfindender gesellschaftlicher Realisierung sowohl der kapitalistischen Vergegenständlichung als auch der Vergesellschaftung von Verdinglichung subsumiert werden kann.[3]

Dass es eine „Lücke“ in der referenzierten Kritiklinie bezüglich der kapitalistischen Vergesellschaftung gibt, die eine Ergänzung theorieimmanent ermöglicht: darauf hat immer wieder Dieter Prokop abgehoben. Er richtet seine Kritikergänzung mit folgender These aus:

„Ich behaupte: Alle Waren sind gegenüber der absolut identischen Ware, dem Geld, das Nichtidentische, also ein Ort lebendiger und zu einem noch näher zu bestimmenden Teil auch kreativer Prozesse – ein Nichtidentisches, das sich allerdings erst durch das Identische hindurch entwickelt – und zugleich stets von jenem bedroht wird.“ (Prokop 2003, S. 131)

Kritisch theoretisch gefasst stellt Identität im Denken das Verhältnis des Denkenden zum Identifizierten in der Subjekt-Objekt-Form her. Das Identifizierte verliert früher oder später seinen Eigensinn und Eigenwert, um als kommensurabel Gemachtes den Kontroll-, Herrschafts- und Angstbedingungen des Identischen zu gehorchen. Identität im Denken der Kulturindustrie, so Prokop, wurde in der kritischen Theorie maßgebend mittels der Herrschaft des Tauschwerts und des Fetischcharakters der Ware über die reelle Gebrauchsdimension thematisiert, jedoch nicht mit dem Begriff der Tauschabstraktion. „Abstraktion ist sowohl im Geld als Reinform enthalten als auch in den Waren. Was den Unterschied von Geld und den Waren betrifft, muss man zwischen Inhalt und Form unterscheiden: 1. In Bezug auf den Inhalt des Werts sind Geld und Ware unterschiedlich: Geld bleibt immer Geld. Waren werden konsumiert. 2. In Bezug auf die Form – die Struktur – des Werts sind Geld und Ware gleich. Bereits die Wertform der Ware – die Struktur ihrer Verkaufbarkeit – enthält jene Abstraktion, die das Geld dann in Reinform verkörpert. Sowohl der sachliche Maßstab – gesellschaftlich durchschnittliche Arbeitszeit – als auch der auf dem Markt sich ergebende Maßstab – Preis – impliziert abstraktes, quantitatives Denken, enthält als die Wertform“ (ebd., S. 132).

Mit dieser Unterscheidung möchte Prokop einen Weg bahnen, der ihm erlaubt, zum einen nicht unabdingbar auf die Dimension des „guten reinen“ Gebrauchswerts abheben zu müssen, um Freiheitsmomente in der Warentauschgesellschaft zu detektieren, und der ihm erlaubt, zum andern die Warenform als solche nicht pauschal zu verdammen. Die von ihm referierten Kritiklinien, so der Autor, ignorierten, „dass das eigentlich Lebendige in den Waren selbst geschieht: Sie sind zwar mit der perfektesten Warenform insofern identisch, als auch in ihnen die Wertform und damit die Tauschabstraktion sitzt – doch sind sie zugleich, da sie jene nicht so perfekt verkörpern wie das Geld, das Nichtidentische zum Geld“ (ebd., S. 133).

Prokops Verweis führt indes keine positiv-konstatierende Bewertung im Schilde, sondern soll auf ein Manko bisherigen kritischen Denkens hinweisen, denn: „Seitens der Kulturindustrie-Kritik fand keine Fühlung mit den Gegenständen der Kulturindustrie statt. Was die Sache von sich aus sein möchte, wurde nie überlegt“ (ebd., S. 141). Erkenntnis über Kulturindustrie, die weder „Nachkonstruktion“ (positivistische Geschichtsschreibung) noch „Technik“ (social engineering) sein möchte, stehe also noch aus, so sie der Forderung Adornos folgen möchte. Prokop begründet die theoretische Dignität einer nachspürenden, ‚tuchfühlenden’, begrifflich-gestischen Suche nach dem Eigensinn kulturindustrieller Waren so:

„Selbst wenn Kulturindustrie die aufklärende Aufklärung der Bevölkerung nicht schafft [...], muss sie in ihrer materiellen Struktur Elemente enthalten, die, wenn von ihren Fesseln befreit, Aufklärung ermöglichen würden. So wie die kritische Theorie an der Aufklärung deren kritische Rationalität – das Interesse an objektiver Vernunft – retten wollte, muss sie Elemente einer kritischen (rationalen? vernünftigen?) Kulturindustrie suchen. Erst dann gäbe es eine ernst zu nehmende kritische Theorie der Kulturindustrie“ (ebd., S. 142).

In dieser Industrie wird Nähe, d.h.: Intensität der Beziehung,  primär technologisch vermittelt, nicht mehr primär menschlich vermittelt.

D.h.: Das Netz der telekommunikativen Beziehungen ist vollständig indifferent gegenüber dem jeweiligen Nutzer[4] – genauso indifferent, wie es das Geld, die Ware, das Recht gegenüber dem Geldbesitzer, dem Konsumenten, dem Mitglied einer Rechtsstaatseinheit resp. rechtlicher Institutionen ist. Das ist, könnte man sagen, an sich keine neue Erkenntnis. Jede „erfolgreiche Evolution“ symbolisch generalisierter Kommunikationsmedien (wie auch der Funktionssysteme) fußt darauf, dass es bei der operativen Generalisierung – idealtypisch – nicht mehr um den je Einzelnen, um das singuläre Individuum als solches geht, sondern um das Abstraktum namens Individuum als Effekt der Masse[5]. Im Recht, in der Bürokratie, in den technischen Gestellen und Produkten, in der Sprache herrscht reine Indifferenz gegenüber dem user (Individuum, Bürger, Kunde) vor – dies jedoch nur um den epochemachenden Preis der Herausbildung eines gesellschaftlichen Individuums, eines mit Rechten ausgestatteten Bürgers, eines mit Geld bezahlenden Kunden. Und um den Preis, dass die Teilnahme an diesem Tauschverkehr recht bald eine solche Notwendigkeit mit sich bringt, dass die Nichtteilnahme sofort das Risiko der Exklusion erhöht resp. zur Exklusion führt.

Kurzum: Jedes Systemischwerden bisher sozialtechnologisch unkontrolliert und ereignishaft prozessierender sozialer Beziehungen, also der Abhub eines Systems und damit die Loslösung aus „sozialer Einbettung“ und den Erscheinungsweisen des sozialen Bandes führt nicht nur zur Abstraktifizierung und Differenzierung der Ereignisse sozialer Beziehungen (Verfahrensvorschriften, Gesetzesbücher, Anspruchsregelungen, Dosierungen von Erwartungen an normative Erwartungen, kurz: soziale Aktome), sondern auch zu einer ebensolchen Abstraktifizierung der Elemente sozialer Beziehungen – und das sind in der basalen Dimension, nicht-systemtheoretisch betrachtet, immer noch: Menschen (abstraktifiziert als: Mitglieder, Staatsbürger, Versicherte, Vertragspartner, Käufer, Konsumenten, Besitzende, Besitzlose, Wähler, user etc, kurz: soziale Aktanten/ Akteure). Die Konsequenz daraus ist eine Redeskription oder gar eine neue Semantik für das sowie eine Rekonstruktion oder gar Revolution des sozialen Bandes einer Gesellschaft.

Die Abstraktifizierung der sozialen Beziehungen als telekommunikative Beziehungen im Netz besitzt nun trotz statthabenden Abzugs sozialer Entbettung, trotz stattfindenden Abhubs von konkreten Lebenswelten eine Eigenschaft, die sie von den bisherigen Abstraktifizierungs- und damit auch Artifizialisierungsprozessen der Gesellschaft (Popitz 1995) unterscheidet. Es ist dies das in Ansätzen neu entstehende Realisieren einer Abweichung, Flexierung und teilweise schon Aufhebung des grundlegenden Beziehungs- und auch Beschreibungsgefüges namens Individuum/ Gesellschaft.

In den bisher verlaufenden modernen Sozialtechnologien der „Implementierung von Menschen“ (soziale Integration) in die Strati funktionssystemischer, kommunikationsmedialer, letztlich: industrieller Vergesellschaftung (systemische Integration) konnte und musste bei der Ausfällung von massenhaft vergesellschafteten Einzelnen sowohl zurückgegriffen werden auf Ressourcen gemeinschaftlicher, traditionaler, familialer, intimer und gar sozialstrukturaler Organisationsformen – gemeinhin durch Kulturkompensationstheorien in den Mittelpunkt der Kritik an der Moderne gestellt; aber es mussten auch die Erfindungen der massenmedientechnologischen Revolution dazu ergriffen werden, um neue Modelle der Repräsentation, Identifikation und Zugehörigkeit für Millionen von Individuen (die „elektronische Masse“; Subirats 1996, S. 76-79) zu kreieren. Während der erste Ressourcenpool im Verlauf der Modernisierung von Gesellschaft und Lebenswelt gegenwärtig kaum mehr auf Tradition (außer der der Detraditionalisierung) und allenfalls noch auf Familie (als Attraktor dezentrierter Nähekommunen) setzen kann, um das substanzlos gewordene Individuum mit gemeinschaftlich gerahmter Intensität sozialen Bezogenseins zu versorgen[6], setzte der zweite Ressourcenkonstruktionspool auf den optimistischen Gedanken, dass mit Radio, vor allem aber mit Fernsehen und Kino psychosoziale Tools zur Verfügung stehen, um das jeweilige vereinzelte Individuum durch medial-imaginär-visuelle anonyme Intensitäten an die Erfordernisse systemischer Integration anzupassen.[7] In der pessimistischen – andere sagen: realistischen – Sichtweise wird dieses Zusammenspiel von konservativen und progressiven Bedingungen und Möglichkeiten anders beschrieben: Eine elektronische „Masse Mensch“ entstehe rein negativ durch den Zerfall der Bindungen, „die bisher die ethische Gemeinschaft prägten. Diese Masse übernimmt das Erbe des Individualitäts- und Charakterverlustes [...]: eine aus dem urbanen Zusammenhang gelöste, von den traditionellen Kulturformen ausgeschlossene Menschenmasse; eine Masse, die in den modernen, minimalen, architektonisch geplanten Wohnräumen und in den urbanistischen Quarantänen der postindustriellen Riesenstädte isoliert ist. Aber vor allem ist es eine Masse, die sich mit Hilfe der Mediencontainer und -highways und als Teil ebendieser Behälter und elektronischen Kanäle herausgebildet hat. Eine Masse, die von den metadiskursiven Instanzen des Medienflusses hervorgebracht, definiert und kontrolliert wird.“ (Subirats 1996, S. 76)

Wie immer man es mit der Einschätzung der jeweiligen Ressourcenpotentiale für eine psychokulturelle Einbettung der Technikaneignung und für soziokulturelle Innovationen durch Technikaneignung hält – der Abstraktifizierung sozialer Beziehungen als telekommunikative Beziehungen im Netz, die gleichsam noch im Sozialbeziehungs-Gestell Individuum/ Gesellschaft gerahmt sind und also die Indifferenz „des Systems“ gegenüber „dem Individuum“ auf irgendeine Art invisibilisieren resp. augmentieren müssen, stehen diese beiden Pools nicht mehr in der gewohnten Einwirkungs- und Kompensationsweise zur Verfügung.

Das Telekommunikationssystem ist gegenüber der Herausbildung von Funktions- oder auch Teilsystemen der Gesellschaft als eindeutiges großes technisches System strukturell höher organisatorisch integriert – und es besitzt die eigentümliche Abweichung, dass technische Artefakte innerhalb ihres Gestells nicht mehr nur als Systemkomponenten betrachtet werden können, sondern zusätzlich als Sozialkomponenten konfiguriert werden müssen; und zwar instantan.

Es geht heute um Selbstinszenierung ohne Selbst, um ein neues Verhältnis zur eigenen sozialen Interaktionsrolle als Verfügungsmaterial des Ereignisses namens Kommunikation, um die tauschbare, sprich: digital kommunizierbare Produktion von Subjektivität („Gebrauchswert“) zwecks Aneignung einer sozialen Adressabilität, die auf den Monitoren der Zirkulation als Tauschwert erscheint. Es geht, um wieder alte Begrifflichkeiten zu bemühen, um einen neuen, wenn auch erst rudimentär manifestierten Stand der Produktion des Sozialen, bei dem die „konkrete Arbeit“ auf einer erhöhten Stufenleiter Leistungen der „abstrakten Arbeit“ zu übernehmen hat – und dabei nicht wie sonst (phänomenologisch betrachtet) immanent kontradiktorische Ereignisse zeitigt und immanent antagonistische Elemente voraussetzt, sondern gezwungen ist, diese Kontradiktion, diesen Antagonismus, diese Widersprüchlichkeit, kurz: diese Nichtidentität in der konkreten Arbeit der Produktion von Abstraktion selbst noch der Indifferenz, der Kontingenz, der Warenform der eigenen Adresse entreißen zu können. Die „Materialität“ der Kommunikation in der elektronischen Vergesellschaftung ist nicht „das Andere“, das „Subjektive“, das auf Systemimperative reagieren und sich schützen Müssende, kurz: ist nicht mehr „die Umwelt“, sondern selbst Teil des soziotechnischen Systems, selbst eingezogen in die inneren Produktionsbedingungen der „Technokommunikation“, selbst Bestandteil eines Tauschsystems, das nur noch Unterschiede in der Wertform zulässt und diese Unterschiede operativ realisiert. Hier könnte man wieder sagen, das sei nicht sonderlich neu: Hat nicht auch Derrida an der Spitze und der Strukturalismus in der Ebene am Korpus/ System der Sprache und des Textes die selben Positionierungen für das Bezeichnete, den Bezeichnenden nachzuweisen versucht – allerdings mit der hoffnungsfrohen dekonstruktivistischen Aussicht auf eine unabschließbare „différance“ (Derrida 1990, S. 76-113)? Auch hier fällt das Neue der gegenwärtigen Abstraktifizierung durch elektronische Vergesellschaftung erst dann auf, wenn der Systemdeterminismus durch die elektronischen Kommunikationsverhältnisse und -technologien nicht mehr mit Topoi eines „Denken des Außen“ (eben die différance, der Rest, der Überschuss, das Inkompatible, die Geschichtszeit, der Körper etc.) dialektisch, dekonstruktivistisch oder ideologiekritisch unter Spannung gesetzt wird, sondern tatsächlich als exzentrisch paradoxales, operativ geschlossenes, immanentes System sozialer Beziehung verstanden wird, in dem die sachliche und die soziale Beziehung ineins fallen und gleichzeitig ihre Differenz operativ produzieren müssen. Und auch hier kann man wieder sagen: Das ist nicht neu – und strukturell homologe Gestalten des Paradoxen in der philosophischen Metapsychoanalyse Lacans und Žižeks resp. in der Werdens-Philosophie Deleuzes bemühen. Dem ist diesmal keine Perspektivenverschiebung zwecks Gewahrwerden des Neuen hinterherzuschicken; vielmehr soll an diese theoretischen Vokabularien angeschlossen werden, wenn es darum geht, das Verhältnis Individuum/ Gesellschaft in der neuesten, hier zu betrachtenden Abstraktifizierungsphase, eben der kommunikationstechnologisch dominierten, zu problematisieren. Wenn nämlich der Gedanke der Immanenz richtig sein sollte als zu begreifender Begriff der gegenwärtigen gesellschaftlichen Modelungsprozesse, dann kann, so Dieter Prokop (2003, S. 142), die „Suche nach dem Nichtidentischen [..] nur immanent geschehen“. Und da Waren nicht mehr nur innerhalb der Kulturindustrie, sondern mittlerweile auch in der Kommunikations-, besser: Interaktionsindustrie als Nichtidentisches in Bezug zur perfekten Wertform des Geldes operativ eingesetzt werden (nämlich in Gestalt der interaktionsorientierten kommunikativen Vernetzung von usern), gilt auch für diese, wenngleich noch sehr erläuterungsbedürftig, die These Prokops: „Waren, die die Wertform nicht rein verkörpern, können Strategien eigener Identitätsdarstellung in ihrer Waren-Nichtidentität entwickeln“ (ebd., S. 144).

D.h.: Meads evidenter Nachweis, dass „mind“ und „self“ eines jeden einzelnen Individuums einem gesellschaftlichen (und nicht individuellem) Prozess entspringt (Mead 1980, S. 273ff.), muss ergänzt werden durch den paradoxen Hinweis, dass diese Produktivität des gesellschaftlichen Prozesses nun auch teilweise den Individuen überantwortet wird – freilich unter der Bedingung, dass die Beziehungsarchitektur von „Ich“ und „ICH“, also des Ich als sowohl generalisierten Anderen wie auch als „Subjekt“, nicht mehr in klassischer Weise zu einer Verschmelzung finden werden (Mead 1980, S. 320ff.)[8]. Den usern bleibt nur noch, sich selbst in den sozialen Skulpturen des Me, Myself und I als Ware elektronisch zu vergesellschaften, und das heißt: ihre sozialen Beziehungen, die ja seitens der elektronischen Infrastruktureigentümer als Ware behandelt werden, zu entäußern – und in der elektronischen Formatierung dieser Entäußerung selbst, in der Datenzirkulation, in der graduellen und qualitativen Avatarisierung (Jörissen 2008, S. 277-295) ihrer Sprech-, Zeichengebungs- und Interaktionsaktome die jetzt abstraktifizierte Inkorporation, die abstraktifizierte Wiederaneignung, die abstraktifizierte Verkörperung motivational zu registrieren: eben technogen, und nicht mehr ausschließlich schizophren (gemeint sind die schizophrenen Maschinen, von denen Deleuze/ Guattari sprachen).

Wenn es stimmen sollte, dass auch der Daseinsbereich der kulturellen, symbolischen, kommunikativen Reproduktion der Ware Arbeitskraft nun zu einem Warenproduktionsmarkt geworden ist, dann bedeutet Ware-Werden auf erhöhter Stufenleiter, also nach der Phase des Wunschmaschine-Werdens und zusätzlich zum jahrhundertealten Arbeitskraftware-Sein, eine Form von paradoxer Abstraktion (oder doch abstrakter Paradoxie?), in der die Nichtidentität zwischen der Materialität „Nähe“ (Gebrauchswert „Reproduktion“: Freundschaft, Kontakte, Netzwerk, Abwesenheitsinteraktion, „Freizeit“) und der Vergegenständlichungsform dieser Nähe (operativer Tauschwert virtuelle/ digitale Datenzirkulation) am stärksten und schärfsten offenbart wird. Diese elektronische Abstraktion traut sich am weitesten vor innerhalb eines gesellschaftlichen Experiments, in dem – alte Terminologie benutzend – der Gebrauchswert „Reproduktion“ beinahe sowohl deckungsgleich mit dem Tauschwert Produktion erscheint, also auch: gar nicht mehr erscheint!

Damit wird das Individuum als ein vergesellschaftetes Wesen, das dauernd Anstalten zwecks Bestätigung und Anerkennung seines sozialen So-Seins, seiner Einzigartigkeit, seines Ichs und seiner Leistungen zu machen gezwungen ist, zusätzlich gezwungen, neben dem Daseinsbereich der Arbeit seine soziale Identität nun auch in der „mitweltlichen“, „individuelle“ Identität generieren sollenden Lebenswelt warenförmig zu organisieren. Die im postmodernen Diskurs der 1980er und 90er Jahre theoretisch und philosophisch ausgiebig zur Darstellung gebrachte Dekonstruktion des Selbst (der Identität, des Geschlechts, des Bewusstseins etc.), oder kleinformatiger gesagt: die Flexibilisierung des Individuums erzwingt also, neue „Adressen“ der Selbstvergewisserung, der Zugehörigkeit, des sozialen Geteiltseins aufzubauen[9] – reell abstrakte soziale Adressabilität, die zwar weiterhin mit einer großen Dosis an Selbstvergessenheit (Fortsetzung der tv-medialen Zerstreuung), an Entfremdung und Verdinglichung konstruiert wird, aber doch im Schlepptau hat, nicht mehr nur noch über gängige Formen der Identität, des Identifiziertwerdens, des Repräsentierseins eine motivational wirksame Form der Zu- und Mitgehörigkeit, also Nähe in und durch Abstraktion, zu ermöglichen. Wie könnte das zu denken sein?

Prokop hat für den Bereich der TV- und Musikkulturindustrie eine Liste der Strategien erstellt, die Waren nutzen können für ihre Wertformdarstellung, also für ihre „Identitätsdarstellung in der Nichtidentität“ (Prokop 2003, S. 152). Er unterscheidend dabei zwischen opportunistischen und progressiven Waren-Strategien, beginnt aber mit einer Strategie, die den Status des eingeschlossenen ausgeschlossen Dritten inne hat, nämlich der „’Ich bin reine Naturalform, mit reinem Gebrauchswert, und sonst gar nichts’-Strategie: Eigentlich ist das keine Strategie, denn wenn eine Ware einen ordentlichen Gebrauchswert hat, verkauft sie sich von selbst“ (ebenda). – Es ist diese Nichtstrategie-Strategie, die, bezogen auf die Warenförmigkeit der elektronischen Interaktion im Netz, am stärksten in den Blick der Analyse zu rücken sein wird. Dazu später mehr.

Unter den opportunistischen Strategien zählt Prokop folgende auf:

„Die ’Ich bin eben wie ich bin’-Strategie“;

die „’Ich bin Trash’-Strategie“;

die „’Ich bin als Ware schön und das ist gut so’-Strategie“; und

die „’Marketing ist alles’-Strategie“ (ebd., S. 152-154).

Zu den progressiven Waren-Strategien rechnet er diese:

„Die ‚Ich bin die Ware, diese Hure’-Strategie“;

die „’Ich imitiere die Erfolgsware’-Strategie“; sowie

die „’Ich zeige, dass ich auf besonders attraktive Weise Wertform und zugleich auf besonders attraktive Weise menschlich bin’-Strategie“ (ebd., S. 154-156).

Prokop schließt ab mit einer konzentrierten Spekulation: „Diejenigen Waren, die am intelligentesten, fleißigsten, professionellsten, bewusstesten und zugleich menschlichsten sind, konkurrieren gegen das Geld, gegen die Tauschabstraktion als die bessere Tauschabstraktion – mittels ihrer einzigen Möglichkeit, die sie haben: die eigene Wertform perfekt zu gestalten, die immer noch an Menschliches gebunden ist. Das ist ihre Stärke gegenüber der in reiner Abstraktion erstarrten Wertform des Gelds“ (ebd., S. 156). Es geht, mit einem Wort, um die Möglichkeit, in den so beschriebenen Warenstrategien die Voraussetzungen einer „menschlicheren Abstraktion“ (ebenda) zu finden – und das heißt, epistemisch gedreht: in den gesellschaftlichen Abstraktionen und Abstraktifizierungen Wirkmächtigkeiten auszumachen, die die sozioanthropologische conditio humana zu modeln imstande sind. Technogene Nähe wäre solch eine menschlichere Abstraktion.

Es geht, abschließend gesagt, darum, in der Ausweitung des Tauschwertverkehrs auf bis dato nach anderen, nicht hegemonial ökonomisch strukturierten Regelkreisvorgaben sich organisiert habenden Handlungs-, Kommunikations-, Empfindungs- und Beziehungsweisen der Menschen eine paradoxe Öffnung und Schließung zugleich für möglich zu halten: eine Horizontöffnung, durch die im sozialanthropologischen „Substrat“ des vergesellschafteten Individuums eine Neujustierung seines motivationalen Beziehungsvermögens zum Abstraktum namens Gesellschaft passieren könnte; und eine welthistorische Schließung all der gesellschaftlichen Experimente und Modelungen, die nicht auf warenförmige Vergegenständlichung, nicht auf Wertäquivalenz, nicht auf tauschkompatible Vergleichbarkeit setzen zwecks Erkundung dessen, was Gesellschaft und Menschen überhaupt sein können. Das bedeutet im Umkehrschluss, auch dies sei nochmals genannt, auf den Daseinsbereich namens Arbeit als soziologische, vor allem aber soziale Großkategorie für die Belange einer freien, emanzipierten, Leid resp. unnötiges Leid vermeidenden, pazifizierten, nicht im Freund/ Feind-Denken steckenden Gesellschaft zu verzichten; und auch auf den Daseinsbereich „der Kunst“ als letzten Hort einer negativ-dialektischen Vernunft zu verzichten – beide Male contre cœur –; aber auch jegliche wissenschaftlich-ideologische Vorstellung, in der die Menschen als in „ihrer“ Tradition, Ethnie, Ritus, Religion, Genetik und auch Sprache „verwurzelte“ ausgewiesen werden, rigoros zurückzuweisen.

Weil die Frage nach den Grenzen der Affirmation der gegenwärtigen Phase kapitalistischer Vergesellschaftung in Gestalt der elektronischen Kommunikation zwecks Ausschau nach Momenten, die im Term der technogenen Nähe dem kritischen Impuls der Befreiung von Herrschaft, Fetischismus und der Reetablierung von Solidarität Treue hält, mehr als brisant und in weiten Teilen der wissenschaftlichen wie auch feuilletonistischen Öffentlichkeit der Häme ausgesetzt ist, beende ich meinen perforierten Vortrag hier, um der Kritik zuhören zu können. Danke!

 


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[1] Siehe: Zeitschrift für kritische Theorie, Heft 16/ 2003, S. 131-159. Im Inhaltsverzeichnis besitzt der Essay allerdings einen anderen Titel: „Freiheitsmomente kulturindustrieller Warenform: Identitätsdarstellung in der Nichtidentität“. Siehe vom Autor auch Massenkultur und Spontaneität. Zur veränderten Warenform der Massenkommunikation im Spätkapitalismus. Aufsätze, FFM 1974, besonders S. 44-101; sowie, in postmodernisierter Sprache, aber gleichsam Unterminierung (Quasi-Subversion) annehmend: Zygmunt Bauman, Leben als Konsum, dt., Hamburg 2009.

[2] Siehe zum inkriminierten Punkt: Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, dt., Neuwied/ Berlin 1967; Otto Ullrich, Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion, FFM 1979, S. 41-48, 384-465.

[3] Und auch nicht kann, hier teile ich bestimmte Auffassungen Hartmut Böhmes, alles der Bedeutung des Fetisch-Begriffs subsumiert werden, wie er in einer engen, für die marxistische Theorie aber nicht maßgebenden Entfaltung sich dartut. Siehe derselbe, Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Reinbek 2006, S. 283-352.

[4] Dem steht nicht entgehen, dass die Proteste ob verkaufter Kundendaten und mangelnden Datenschutzes (Anonymität) seitens der Unternehmen seit einigen Jahren immer stärker werden, man also fehlende Indifferenz in Gestalt von aufgehobener Anonymität beklagt. Meines Erachtens liegt hier eine Verwechslung vor: die datenwarenförmige soziale Adresse wird verwechselt mit der Figur eines Persönlichkeitsrechte besitzenden Individuums.

[5] In „Reinform“ lässt sich dies beim Lottospielsystem beobachten: Jeder Teilnehmer nimmt als massenhaft vereinzelt einzelner teil, und doch nimmt sich jeder zumindest ernsthaft Spielende wahr als der einzige resp. zu den Wenigen gehörende, der und die gewinnen. Diese enorme Spannweite, die hierbei motivational nebeneinander und aufeinander aufbauend zum tragen kommt, ist allerdings nur möglich durch die besondere Herbeiführung einer Entscheidung der Auswahl, die ebenfalls „rein“ kontingent ist: die Auswahl der Zahlen durch Zufall. Diese Gewinnentscheidung durch Zahlenkontingenz beerbt materialistisch den mystisch-christlichen Zentrumsgedanken, nach dem alle gleich weit oder gleich nah zu Gott sind.

[6] Ich gehe für den Moment nicht ein auf die allenthalben aufbrechenden restaurativen Bemühungen in vielen Teilen Europas, mittels eines neuen Feindbildes – Islamismus – in einer Art aufgeklärtem Traditionalismus an die kultural-religiösen Ressourcen und damit an vormoderne Zugehörigkeitspolitiken anschließen zu wollen. Siehe etwa Richard Faber/ Frithjof Hager (Hg.), Rückkehr der Religion oder säkulare Kultur? Kultur- und Religionssoziologie heute, Würzburg 2008.

[7] Dieser Optimismus hatte natürlich mehr als nur eine Motivationsquelle und mehr als nur ein Ziel vor Augen. Siehe zur Motivlage, mittels massenmedialer Bilder zur kulturellen Kompensation abstrakter Vergesellschaftungszwänge beizutragen, die Geschichte der Entstehung Hollywoods, etwa Neal Gabler, Ein eigenes Reich. Wie jüdische Emigranten ‚Hollywood’ erfanden, dt., Berlin 2004; zur Motivlage, in den neuen Massenmedien Ansätze für eine Aufhebung der Individuum/ Gesellschaft-Unterscheidung und damit für eine neue Ebene der Repolitisierung von Solidarität zu sehen, immer noch Walter Benjamin, „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, dritte Fassung, in: derselbe, Abhandlungen, GS, Bd. I.2, hg. von Rolf Tiedemann & Hermann Schweppenhäuser, FFM 1991, S. 471-508.

[8] Mead macht als klassische „Haltungen“ einer solchen Verschmelzung Religion, Patriotismus und auch das Teamwork aus: „Wo sich ‚Ich’ und ‚ICH’ irgendwie verschmelzen können, da entwickelt sich jenes spezifische Hochgefühl, das zu den religiösen und patriotischen Haltungen gehört, in denen die bei anderen hervorgerufene Reaktion mit der eigenen Reaktion identisch ist“ (S. 320f.).

[9] Oder, in Anlehnung an Giorgio Agamben, keine Identitäts- und Identifizierungsadressen mehr auszubilden – aus einer ordnungspolitischen Perspektive betrachtet. Siehe Verf., „Die kommende Gemeinschaft und exzentrische Paradoxie“, in: Janine Böckelmann/ Frank Meier (Hg.), Die gouvernementale Maschine. Zur politischen Philosophie Giorgio Agambens, Münster 2007, S. 114-130.