VORWORT
„Technogene Nähe“: Zum technologischen Umbau des Menschlichen.
Beiträge zur stattfindenden Veränderung der conditio humana.
Thomas Jung/ Bernd Ternes
Was momentan stattfindet und auf die zukünftige Gestaltung der condition humana abzielt, das ist eine – jetzt noch verstörende – Mischung von Technik und Leben, eine Synthetisierung von kybernetischen und biologischen Prozessen zu Lasten dessen, was wir als eine metaphysische Erbreferenz des Humanen sozial organisiert, halbwegs politisch institutionalisiert und kulturell durchbuchstabiert haben. Die alte metaphysische Grenze, wonach das Technische und das Menschliche einen irgendwie gearteten ontologischen Unterschied ausmachen, wird gegenwärtig als hinfällige bedenkbar. Das Festhalten an der Menschlichkeit des Menschen gewinnt beinahe einen nostalgischen Charakter, wenn die maßgeblichen Organisations- und Kommunikationsprozesse des Menschlichen zukünftig in informationstechnologischen Terms beschreibbar wie handlungsstrukturierend werden.
Kontrastierend
kann man für die bisherige evolutionäre Entwicklung des Menschen, für seine
anthropologische Ausstattung, Folgendes festhalten: Die wesentliche Dimension
des Menschseins wurde bisher anthropozentrisch
begründet. Die Leitbegriffe hierfür waren Seele, Geist, Bewußtsein, Subjekt –
und zwar in all ihren historisch vorzufindenden Spielarten und
Geltungsjustierungen. Nunmehr, soviel zeichnet sich bereits jetzt ab, wird die
wesentliche, d. h. ausschließliche Dimension des Menschseins als technozentrisch zu entwerfende
Dimension angestrebt. Die Leitbegriffe hierfür sind bzw. werden sein:
„Künstliche Intelligenz“, Code, Selbstorganisation und –reproduktion
(Autopoiesis), aber auch virtuelle Simulation, kurz:
Ein neues Feld zwischen kybernetischer Anthropologie und anthropologischer Kybernetik
ist im Entstehen.
Mit
Blick auf das, was einmal das Projekt der Moderne genannt wurde, kann man auch
folgenden epochalen Vorgang für die Zukunft gesellschaftlicher Formationsprozesse
ausmachen: Das Moderneprojekt gründete auf der unhinterfragbare Annahme, dass
das Subjekt selbst ausschließlicher Produzent seiner sozialen Ordnung wie
seiner Geschichte ist. Knapper formuliert: Die soziale Ordnung fundierte im Medium
der Subjektivität, von der Hegel in seiner Geschichte der Philosophie als einer
„zweiten welthistorischen Gestalt“ gesprochen hat. Im nachhegelischen Gestus
wäre zu fragen, was die dritte welthistorische Gestalt sein kann, nachdem nicht
nur der Reflexionsbogen einer subjektzentrierten Selbstvergewisserung
begründungstechnisch erschöpft, sondern auch das Ansinnen personaler
Selbstfundierungen sozialweltlich unhaltbar geworden sind. Auch die
nachmetaphysischen Versuche, die Form des sozialen Nexus wie auch die gesellschaftliche
Strukturlogik nach den Maßstäben von kommunikativen Rationalitätspotentialen
bzw. intersubjektiven Sinnproduktionen abzustützen, bleiben – wenn auch nicht
subjektzentristisch, so doch – der Unhintergehbarkeit einer weltkonstitutiven
Rolle des Menschlichen verhaftet.
Dagegen
zielt das Anliegen, das der Herausgeberband verfolgt, auf die Annahme, dass das
Projekt der zukünftigen sozialen Ordnung in einer symbolisch noch weitgehend unaufgeschlossenen
Weise getragen und bestimmt sein wird von dem, was im sozialen Gestaltungsingenium der Technik angelegt ist: Die
Erweiterung, Ersetzung und Abstraktion des Menschlichen, oder positiv gewendet:
die Fundierung des Sozialen, des Gesellschaftlichen in einem grundlegenden „Nomos“ des Technischen. Formelhaft ausgedrückt: Nicht mehr
das Menschliche ist der eigentliche Referenzboden desjenigen, was wir als soziale
Welt erfahren oder nennen, sondern die Technik als kaum mehr vermittelte
Verkörperung menschlicher und sozialer Tatsachen. Man könnte auch sagen: Die soziale
Ordnung organisiert sich nicht mehr im Medium der menschlicher Subjektivität,
sondern im Medium der Technizität – mithin ein Medium,
das nicht mehr ohne weiteres durch die Form symbolischer Ordnung kontrolliert
zu werden vermag.
Die
Frage, die sich nun an diese Behauptung stellt, ist keine kulturkritische oder
kulturpessimistische (also keine, die die Technik als Kolonisierung des
Menschlichen verdammt), sondern eine, die danach fragt, was das Zentralwerden
des gegenwärtigen technologischen Ummodelns des Lebendigen an der condition humana prinzipiell bewirkt. Anders gefragt: Was und wie
wird am Menschen nach dem neusten Stand der technologischen Kapazitäten und
Strategien so umgebaut, dass das bisher Menschliche des Menschen notwendig und
zwingend überschritten wird?
Könnte es also sein, dass in Kommunikationstechnologien,
seitdem ihnen nicht mehr nur kriegsfunktionale, ökonomieerweiternde und
den Exzeß der Mobilisierung vorantreibende Aufgaben zukommen, zunehmend
psychosoziale Sozialisations- und gesellschaftliche Synthesis-Dimensionen
ausgemacht werden können, die bedenk- und deutbar wären als Drift der sozialen
Evolution? Könnten Menschen aus ihrem einzigen, anthropologiehistorisch seit
hunderttausend Jahren wirksamen ‚sozialen Container’ namens anwesende
Interaktion hervortreten und erste behutsame Schritte wagen innerhalb eines ‚sozialen
Abstraktums’ namens abwesende Interaktion (technogene
Nähe)?
Eine
erste Überschreitungslinie, und diese soll unter dem Stichwort „Technogene Nähe“ firmieren, ist die informations- und
kommunikationstechnologische Option, dass zukünftig das Soziale, also das affektiv-motivierende
Verhalten zu den „Anderen“ oder auch zu gesellschaftlichen Organisationsformen,
sich nach Maßgabe von IuK-Technologien ausbilden,
organisieren wie normativ standardisieren muss. Damit wird einhergehen, dass
Individuen in der Personalitätsform „User“ ein – wie D. Claessens
behauptete – „direktes emotionales, d. h. unmittelbar motivierendes Verhältnis
... zu großen Populationen finden“
müssen. Die Technogene Nähe ist damit das Stichwort
für eine sich abzeichnende, stark veränderte gesellschaftliche Sozialprogrammatik.
Danach wird es so sein, dass nicht nur die basalen
Vergesellschaftungs-, sondern auch die unmittelbar sozialen
Vermittlungsprozesse (in den allgemeinen gesellschaftlichen Verkehrsformen) sich
nach den Formen und Maßstäben von IuK-Modalitäten
ausgestalten werden müssen – mit dem Zwang, neue Mentationen
ausbilden zu müssen, die nur noch teilweise aus dem Repertoire der
sozialanthropologischen conditio humana schöpfen
können.
Der
vorliegende Band soll sich dieser – hier nur kurz skizzierten – Herausforderung
einer Veränderung der conditio humana durch die neuen
Technologien stellen und unter dem Leitterminus „Technogene
Nähe“ Einsprüche, Gegenargumente, aber auch Fortführungen und spekulative Ausweitungen
einsammeln. Wir versprechen uns, dass wir mit dem Arbeitsterminus „Technogene Nähe“ eine sozial- wie kulturwissenschaftliche
Diskussion eröffnen können, die sich den technologischen Herausforderungen
produktiv und konstruktiv stellt, anstatt sich in die Nischentheorien
vergangener Theoriekonzepte einzugraben.
Dem
Begriff „Technogene Nähe“ soll hier epistemisch, begrifflich, logisch und soziologisch nachgegangen
werden. Sachlich lassen sich in einem ersten Durchgang folgende Gegenstandsfelder
und Problemreferenzen reihen: Moral,
Gesellschaftstheorie, Politische Ökonomie, Anthropologie, Geld, Weltgesellschaft,
Körper und Interaktion. Diese Gegenstandsfelder bilden gleichsam nicht nur
den Aufbau des geplanten Buches, sondern zugleich auch die Gegenstandbereiche,
an denen die Problematik eines beginnenden Umbaus des Menschlichen sichtbar
wird.