Zeit des Rhythmus, Temporalität der Operation

Bernd Ternes

 

"slave to the rhythm" — Grace Jones

"Die datenverarbeitende und zerebrale Maschine [..] ist nicht Herrin über den Schein, sie beherrscht nur die Berechnung, und ihre Aufgabe - wie die aller kybernetischen und virtuellen Maschinen - ist es, diese essentielle Illusion durch die Echtzeitnachahmung der Welt zu zerstören" — Jean Baudrillard[1]

 

 

 

I

 

Viele Fragen und viel Antwortlosigkeit auch hier.

Was ist Wachstum, was Schrumpfung? Für nichtbiologische und nichtökologische Sachverhalte, also etwa Organisationen, Märkte, soziale Gesellschaften, aber auch für Vorkommnisse und Strukturen wie Kriminalität, Verelendung, Reichtum und Vertrauen wird in der Regel selbstverständlich das Wort Wachstum benutzt, um eine Änderung, Veränderung, einen Wechsel anzuzeigen. Wachstum gilt als Zentralbegriff nicht nur der ökonomischen Moderne; so zentral, daß sogar das Nichtanwachsen mit Nullwachstum beschrieben wird, ohne Kopfschütteln zu ernten. Und auch Schrumpfungen werden allerseits konstatiert: beim Bruttosozialprodukt, beim Vertrauen, sogar der Welt-Raum schrumpft[2], und nicht zuletzt: die Hoffnung.

Für die folgenden Seiten ist ausschlaggebend, die Betrachtung der modernen Gesellschaft in zwei unterstellte Pole einzuspannen, die es überhaupt erst mit sich bringen, eine Rhythmuszeit mit der Temporalität der Operation in eine vergleichende Auseinandersetzung zu stellen. Und zwar wird davon ausgegangen, daß einerseits in der modernen Gesellschaft tentativ alles operativ Vermittelbare/ Medialisierbare auf die Gegenwartszeit reduziert wird, und daß andererseits auch die Gegenwartszeit selbst schrumpft. Hermann Lübbe[3] beschreibt letzteres folgendermaßen:

"Die Gegenwart schrumpft; die Vergangenheit, die sich zur Gegenwart als eine fremde verhält, rückt, im Abstand von Jahren gemessen, der Gegenwart immer näher, und analog rückt die Zukunft der Gegenwart immer näher, die nach dem Muster der Gegenwart nicht mehr beurteilt werden kann. Damit nehmen zugleich die Zeiträume ab, die uns für die individuelle und institutionelle Verarbeitung des zivilisatorischen Wandels zur Verfügung stehen."

Man kann offen lassen, ob der Hang zur Temporalisierung von Weltsachverhalten und der zur Operationalisierung zumindest der sozialwissenschaftlichen Theorien als kausale Effekte der Zeitraumschrumpfung angesehen werden müssen, oder ob in Temporalisierung und Operationalisierung nur die technisch avanciertesten Schrumpfungsagenten sich Gestalt geben. Fest steht hingegen, daß die Zivilisation, die in der Moderne ihre hegemoniale Form erlangt hat, sich selbst immer weniger Zeit zur "Verarbeitung"  – sei es kulturell, sei es intellektuell, sei es "sozialpolitisch", sei es ökologisch – ihres eigenen Wandelns und Wandels mitgibt. Entschleunigung, so könnte man plausibel fordern, tut not. Und not tut auch, sich nach anderen "Zeitkonzepten" umzuschauen. Nach Konzepten, die der Irreversibilität von Verarbeitungszeitraumschrumpfung eine Art Zyklidität der gegenstrebigen Attraktionen Wachstum/Schrumpfung entgegensetzen können. Die Annahme dahinter ist, daß sich Wachstum und Schrumpfung als ein und dieselbe Attraktion erweisen. Auf die Zeiten bezogen, mit der Dinge, Organismen, Umwelten, Gesellschaften und Psychen bespannt sind, kann man sich nun fragen, ob nicht der Rhythmus als eine stabile Form dieser gegenstrebigen Attraktion zu sehen ist; als eine Form der Zeitorganisation, die für eine bestimmte Balancierung unterschiedlichster "Systemzeiten" verschiedenster Zusammenwirkungen sorgt. Und zwar besser sorgt denn eine temporalisierte Zeitorganisation, die nicht mehr Rücksicht nimmt auf die Verschiedenheit in Zeiten, noch viel weniger Rücksicht nimmt auf Verschiedenheit der Zeiten, sondern nur noch die jeweils systemgenerierte Eigenzeit als Maß nimmt. Gefragt wird also im Folgenden, was es mit der Zeitorganisationsform "Rhythmus" auf sich hat und in welchem Verhältnis sie zu der Form der Temporalität gedacht werden kann.

 

 

II

 

Zu fragen ist zuvörderst, in was sich Rhythmus sicht-, hör- und bemerkbar macht; ob es bloß verschiedene Rhythmen gibt, für die es keinen Unterschied macht, ob das Rhythmisierte Maschine oder "Natur" ist; oder ob es im Begriff Rhythmus selbst nochmals Unterschiede gibt, die es plausibel machen, von einer Verschiedenartigkeit des Rhythmus zu sprechen.

Rhythmus umgibt vieles und ist in vielem[4], was sich auf den ersten Blick als nicht-synthetisiert, als "natürlich" gibt:

·        Es gibt soetwas wie einen 4-tausendstel-Takt-Rhythmus unserer Rezeptoren, der gewährleistet, daß zeitlich unterschiedliche ankommende Daten ein und desselben Weltsachverhaltes als zusammengehörige Informationen verarbeitet werden.

·        Es gibt den sogenannten 3-Sekunden-Takt-Rhythmus, der alles, was innerhalb von drei Sekunden passiert, synchronisiert und zusammengefaßt (etwa Atmung).

·        Es gibt lange, großformatige Rhythmen, die durch Sonne und Mond getaktet werden und etwa den Rhythmus von Tag und Nacht bedingen; so ist etwa die Photosynthese, als Transformator von Energie mit den Zuckermolekülen als Akkumulatoren die fundamentale Technologie der Evolution schlechthin, untrennbar mit dem Zyklus Tag und Nacht verknüpft.

·        Es gibt die Jahreszeiten-Rhythmen: Die Neigung der Erdachse und der Umlauf um die Sonne sind die Auslöser unterschiedlicher klimatischer Bedingungen im Jahresablauf. Wieder stark abhängig vom Ort auf der Erde steuern sie längere Zyklen wie die Fortpflanzung, aber auch den Lebensraum (gerade bei Lebensformen die ihr Biotop wechseln, z.B. der Lachs). Nomaden, riesige Herden, Fischschwärme, Vögel folgen diesem Rhythmus.

·        Es gibt den Rhythmus der Gezeiten: Als uns nächstgelegener Himmelskörper übt der Mond wesentlichen Einfluß auf die Meere der Erde aus. Der ca. zwölfstündige Zyklus von Ebbe und Flut beherrscht das Grenzgebiet zwischen Land und Wasser. Aus anthropozentrischer Sicht ist dieser Takt derjenige mit dem geringsten individuellen Einfluß. Allerdings befinden sich nicht nur die Wiege des Lebens in diesem Grenzgebiet zwischen Land und Wasser, sondern auch einige der artenreichsten und anfälligsten Ökosysteme der Erde.

·        Es gibt bestimmte Eigenzeiten endogener Art: Diese bleiben auch erhalten, wenn die Taktgeber unter Laborbedingungen ausfallen, oder durch bewußte oder unbewußte Dinge umgangen werden, wie z.B. im Schichtdienst oder an Bord von Langstreckenjets.

·        Es gibt sogenannte Circa-Annuale Rhythmen: Viele Bereiche des menschlichen Verhaltens sind jahreszeitenabhängig. So sind z.B. Geburten und Todesfälle nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt, sondern orientieren sich an der durchschnittlichen Temperatur bzw. der Lichtdauer des Tages. Dabei finden sich interessante Ergebnisse, die zum Teil den sog. gesunden Menschenverstand widersprechen. Die allgemeine Sterblichkeit ist während des Zeitraums des Temperaturminimums in unseren Breiten, also im Januar und Februar, um 18% höher als im Jahresmittel, Suizide korrelieren positiv mit der Tageslänge(fast 10% Abweichung vom Jahresmittel) und der Konzeptionserfolg ist im Mai und im Juni um 7% höher als im Jahresmittel.

·        Es gibt die sogenannten Circa-Diane Rhythmen: Neben jahreszeitliche Rhythmen besitzen wir auch einen endogenen Tagesrhythmus, der sich an der Erdrotation orientiert und eine Länge von ca. 24 Stunden besitzt. Er wird wesentlich durch Licht gesteuert, ein Umstand, der z.B. bei der Behandlung gesundheitlicher Probleme von Schichtarbeitern Beachtung findet. Diese "innere Uhr" wird durch Nachtarbeit oder einen Interzeitzonenflug gestört und benötigt einige Tage, um sich erneut zu synchronisieren ("Jet lag"). Im Alter verlieren wir die Genauigkeit dieses Steuerungsmechanismus, Schlaf- und Aktivitätsprobleme und auch geänderte Zeitwahrnehmung alter Menschen sind das Resultat. Ein Umstand, der durch den Anstieg der durchschnittliche Lebenserwartung immer größere Bedeutung gewinnt.

 

Nun gibt es auch Rhythmen der Umwelt, die auf soetwas wie eine inhärente Systemzeit und auf eine Elastizität rückschließen lassen. Diese beiden Systemeigenschaften sind eng miteinander verknüpft. Werden Systeme komplexer, so wird die inhärente Systemzeit länger und die Elastizität nimmt, üblicherweise, ab. Klar und deutlich tritt diese Problematik zu Tage etwa bei Eingriffe des ökonomischen Systems, dessen inhärente Systemzeit in Wochen, Quartalen und Jahresabschlüssen gemessen wird, in die Eigenzeit der Umwelt.

Es ist nicht unumstritten, ob große Systeme, wie die Erde selbst, eine Systemzeit aufweisen. Trotzdem kann man am Beispiel der Atmosphäre dokumentieren, wie lange das System braucht, um eine Störung sichtbar zu machen. Phänomene wie der Treibhauseffekt und das Ozonloch sind hinlänglich bekannt. Einige der Verursacher der heutigen Problematik, vor allem verschiedene Methane und HFCKW, besitzen Verweilzeiten von 50 bis 100 Jahren. Die Verbindungen, die heute die stratosphärische Ozonschicht zerlegen, sind um 1940 emittiert worden, wobei mengenmäßig deutlich geringere Mengen als in den 1970er und 1980er Jahren ausgestoßen wurden. Geht man aus von einer eng gefaßten inhärenten Systemzeit von einem halben Jahrhundert, so wird deutlich, daß die Schäden unserer "Störungen" um 2030 wirksam und erheblich größer sein werden. Berücksichtigt man die Einzigartigkeit großer ökologischer Systeme und betrachtet diese unter ihrer Eigenschaft Elastizität, so ist zu befürchten, daß der Systemzustand in ein neues Gleichgewicht springen könnte, das viele Lebensformen ausschließen wird.

 

Gibt es nun auch eine Zeit des Rhythmus in sozialen Systemen, in maschinellen, in künstlich beschleunigten Systemen?

Dazu Paul Virilio[5]: "Da die Bewegung das Ereignis erzeugt, ist die Wirklichkeit kinodramatisch, und der Informationskomplex hätte niemals seine heutige Macht erlangt, wenn er nicht zunächst eine Kunst des Motors [so der übersetzte Originaltitel des Buches; B.T.] gewesen wäre, die die andauernde Veränderung der Erscheinungen zu rhythmisieren vermochte." Rhythmisierung der verändernden und veränderten Erscheinungen bestand und besteht darin, die nun nie gekannte Gleichzeitigkeit von Bewegungen, die sonst nur sequentiell, nur nach und nach durch die Zeit "laufen" konnten, zu synchronisieren und zu rhythmisieren: und zwar durch die Variation der Beschleunigung.

Aber nicht nur die Kunst der Maschine, auch die der Politik bewirkte eine neue Zeitorganisation: So war die Einführung eines neuen republikanischen Kalenders der französischen Revolution nicht nur der bewußte Bruch mit einer religiösen Langzeit, sondern zugleich der Versuch, die Beschleunigung der Geschichte an die Kürze der menschlichen Lebenszeit anzupassen; daß daraus ein qualitativer Wechsel entstand, der sich heute darin zeigt, den menschlichen Körper "an das Zeitalter der absoluten Geschwindigkeit der elektromagnetischen Wellen anzugleichen"[6], scheint evident. Soziale Systeme waren zu Beginn ihrer historischen Entwicklung primär an natürliche Rhythmen gekoppelt. Die Dominanz der abendländisch christlichen Kultur beginnt im ausgehenden 15. Jahrhundert und setzt sich bis zur heute sichtbaren Globalisierung der Beschleunigung fort. Taktgeber für diese Entwicklung ist eine stetige Beschleunigung der dominanten Systeme, vor allem aber des ökonomischen Systems, das ja, so Marxens immer noch richtige Einsicht, im entfalteten Zustand eine Ökonomie der Zeit ist. Die Ökonomisierung, sprich: Temporalisierung weiter Teile der Gesellschaft ist das Resultat dieses Prozesses. Die Rhythmik der Wirtschaft ist eine, gemessenen an ökologischen Systemen, rasante. Tageskurse, Quartals- und Jahresabschluß, dominieren Pläne und Entscheidungen.

 

Die Behauptung, daß auch Systeme nichtlebender Art eine Zeit des Rhythmus in sich tragen, mehr noch: daß ohne Vorhandensein eines künstlichen Rhythmus' der Beschleunigung die Menschen ihre wissenschaftlich-technologische Umwelt gar nicht ertragen würden, ließe sich auch plausibel machen mit Norbert Wieners Kybernetik-Theorie. Norbert Wiener gilt als Begründer der Kybernetik als wissenschaftliche Disziplin. Er selber bezeichnet die Kybernetik als eine 'Theorie der Kommunikation und der Steuerungs- und Regelungsvorgänge bei Maschinen und lebenden Organismen'. Mit der Kybernetik will Wiener ähnliche Forschungsbestrebungen der Nachrichtentechnik, Psychologie, Soziologie, Biologie und Medizin vereinen. Für ihn steht der Automat im Mittelpunkt der Untersuchungen. Die Beschaffenheit des Automaten soll dabei keine Rolle spielen, denn die wichtigste Bedingung, damit zwei Systeme miteinander kommunizieren können, sei, daß sie sich in derselben Zeitrichtung bewegten: Der moderne Automat, so Wiener, sei in der gleichen Bergsonschen Zeit wie der lebende Organismus, und daher gibt es keinen Grund, warum das wesentliche Funktionieren des lebenden Organismus nicht das gleiche wie jenes des nichttrivialen Automaten sein sollte. Wichtig ist nur, daß beide in einer nichtphysikalischen, d.h. einer nichtreversiblen Zeit  mit Umwelt in Verbindung stehen. Wenn nun Wieners These, "Information ist Information, weder Materie noch Energie. Kein Materialismus, der dieses nicht berücksichtigt, kann den heutigen Tag überleben" zutrifft, und man davon ausgehen kann, daß sich eine lebende Einheit, eine ökologische Einheit, eine soziale Einheit nur soweit ausdehnen, wie eine wirksame Übertragung von Information reicht: Dann müßte man konzedieren, daß der lebende Organismus resp. Natur und der moderne Automat resp. Kultur im wesentlichen gleich funktionieren. Da beide in der gleichen Zeit existierten, gebe es gleichsam keinen Grund zu einer gegenteiligen Annahme. Der moderne Automat müsse, um dem lebenden Organismus funktionell ebenbürtig zu sein, lediglich Lern- und Reproduktionsfähigkeit besitzen, zwei Eigenschaften, die nach Wiener eng miteinander verwandt sind, respektive wechselseitig voneinander abhängen. Infolge dessen sei eine sogenannte Zersplitterung besonderer "Dauern" durch eine Temporalisierung der besonderen Zeit möglich, sei eine Zersplitterung der spezifischen Zeitlichkeit des lebenden Körpers (aber auch "natürlicher Vorgänge) machbar, sei schließlich das Problem einer kybernetischen Programmierung der Lebensrhythmen und der ökologischen Rhythmen lösbar. – Akzeptiert man nicht, daß Welt auf kybernetische Felder und Wirklichkeit aufs kybernetische Netz reduziert wird, dann muß man wieder, so hier abschließend Virilio, die festen Körper, die Formen und Kräfte in Augenschein nehmen, "da die Überführung der Wirklichkeit in Wellen (mit dem Primat des Informationsbegriffs über den der Masse und der Energie) darauf zielt, dem Gewaltstreich, der in der Entwertung des konkreten Charakters eines Ereignisses zum alleinigen Vorteil seiner »Vermittlung« besteht, in allen Bereichen allgemeine Wirksamkeit zu verschaffen."[7] Diese Wirksamkeit bestünde darin, nicht mehr nur, bis bisher, Umwelt zu kontrollieren, sondern die Kontrolle selbst zur Umwelt zu machen ('tragbare virtuelle Umwelt'). Und das in einer sogenannten Echtzeit, die digital und also material nicht mehr rhythmisierbar ist, sondern nur noch durch Ausfälle in die Sphäre des Analogen zu treten vermag.

— Im Folgenden wird es nun um diese beiden Zeiten von System und Umwelt, von Kultur und Natur, von Automat und lebendem Organismus, von alogrithmisierter und rhythmischer Zeit gehen.

 

 

III

 

Annotativ - mehr können folgende Sätze nicht sein - möchte ich nun der Frage nachgehen, ob sich das, was man nicht nur in einem musikalischen Sinne mit dem Begriff Rhythmus beschreibt, erklärt und auch hervorbringt, einsenken läßt in das systemtheoretisch angesetzte Erklärungsvolumen des Begriffs Temporalisierung, oder ob Rhythmus für eine besondere Art der Verknüpfung von Weltereignissen steht, die im Gegenteil sich den avancierten Instrumenten eines analytischen Naturalismus sperrt und damit zu anderen Ergebnissen in der Wahrnehmung von Sachverhalten führt, vorallem zu dem Ergebnis, daß sich die noch herrschende Verhältnismäßigkeit zwischen analytischer Erkenntnis eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst als gefährlich naiv herausstellt. Der Gedanke ist, anders gesagt, ob in der von Flusser so bezeichneten Nulldimensionalität (dazu gleich mehr), in die die menschliche Technologie vereinzelt einzutreten scheint und in der es als letzte materiale Distinktion nur noch Punkte, Ereignisse als Operationen und Zeit als Temporalität zu geben scheint, ob also in dieser Nulldimensionalität das, was als Rhythmus bezeichnet wird, ebenso komputierbar ist wie alles andere des Verhaltens, des Imaginierens, des Handelns und Entscheidens; ob es gar einen Rhythmus der Komputation bzw. des Komputierens, also des digitalen Auflösens und Rekombinierens gibt; oder ob das sukzessive Vereinnehmen menschlicher Emissionen in die komputionale Rekonkretisierung des Abstrakten eine letzte Chance verspielt, nämlich die paradoxe Chance eines Vorrangs des Objekts gegenüber der Form innerhalb der Erkenntnis. Die Chance wäre die, im sozialen "Material" nichtdekonstruierbare Formen(!) von Schwingungen, Balancen, Rhythmen aufzufinden oder als fehlende zu rekonstruieren(!); oder immer dort mit der Gestaltung/ dem Entwerfen von "Welt" aufzuhören, wo sich kein Rhythmus ergeben kann.[8] — Anders gesagt: Können Punkte fließen?; lassen sich Abweichungen rhythmisieren?; sind bestimmte nichtsoziale Zeitrhythmen auf genuin soziale Relationskomplexe übertragbar? Und: Hat die artifizielle Gesellschaft (Popitz) selbst Rhythmen der Verknüfung und Auflösung von Zeit anzubieten, die ausschließlich systemtheoretisch aufschließbar sind?

Oder, nochmals verdichteter gefragt: Wenn das, was Mimesis und Simulation trennt, der Unterschied ist zwischen Körperlichkeit und Maschinalität, und dieser Unterschied in der Zeit liegt, und das jeweilige Zeitverhältnis sich asymmetrisch zum anderen Verhältnis verhält, und man sagen kann, daß Maschinen zwar Rituale sind, aber Rituale keine Maschinen, obwohl sie eine ähnliche Funktion haben, nämlich die Formung der Zeit[9]: Ist dann weiterhin von der Ritualzeit auszugehen, also von dem "Ritualsein" der Zeit, oder gibt es mittlerweile ein eigenwertiges "Maschinellsein" der Zeit, von der aus nichtmaschinelle Zeiten referiert werden müssen? Das sind die leitenden Fragen fürs Folgende.

 

Unter Rhythmus soll verstanden sein eine bestimmte Form der Beschreibung/Generierung von Vorgängen der Bewegung und der Intensität, die den regelmäßigen periodischen Wechsel ganz bestimmter Einheiten (Stoffe, Takte, Bewegungen) so zu organisieren vermag, als ob die Einheitsbildungen sich implizit aus der Tätigkeit, der Ereignishaftigkeit, dem Passieren schlechthin ergeben, ohne dabei Figur oder Form, also explizit zu werden. Der Rhythmus vertritt, in alten Worten, qua Intensität und Ereignishaftigkeit der einzelnen Bewegungen das "Ganze" als Teil innerhalb des Ganzen. Und dies, ohne als Teil identifiziert, rekonstruiert, instruiert werden zu können, sondern ausschließlich performiert.

Dieser Gedanke läßt sich besser verstehen, wenn man sich die Überlegungen Michael Polanyis zum Sujet des impiziten Wissens in Erinnerung ruft.[10] Polanyi unterscheidet das Wissen in explizites und implizites Wissen. Das implizite Wissen ist dasjenige, von dem wir nicht wissen, daß wir es wissen; dasjenige, das sich im Akt der Mitteilung offenbart als Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen; also dasjenige, das sich nur zeigt, aber nicht sagen, nicht explizieren läßt. Für Polanyi ist die Wahrnehmbarkeit von Wirklichkeit in Gestalt von Gestalten zu verstehen "als Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs. Diese Formung oder Integration halte ich für die große und unentbehrliche stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen" wird.[11] Er unterscheidet innerhalb des Begriffs 'implizites Wissen' nun weiterhin zwei in funktionaler Beziehung stehende Terme, den proximalen und den distalen Term. In einem Akt impliziten Wissens wenden wir, so Polanyi, unsere Aufmerksamkeit vom ersten Term auf den zweiten Term jener stummen Relation. Das erste Glied der Beziehung erscheint uns nun "näher", das zweite "weiter weg"; es ist dann der proximale Term, von dem wir ein Wissen haben, das wir nicht in Worte fassen können.[12] Rhythmus nun, um vom kognitiven Sujet weg und wieder auf eine eher organisationelle Dimension zu kommen, Rhythmus wäre nun zu verstehen als die Gestalt, der Modus, die Zeitform, der Taktwechsel, in dem ein Wissen gelagert ist, das erst die Bedingung zur Aufschließung analysierbaren Wissens der infrage stehenden Einheit abgibt.

Rhythmus läßt Abweichungen der Wiederholung zu, nicht jedoch Abweichungen innerhalb der Wiederholung. Es gelingt ein Wechsel, der nicht mehr über die jeweils kleinsten oder elementaren Komponenten, nicht mehr über die musikalischen, biologischen, interaktiven usw. Figürlichkeiten verläuft, sondern über - jetzt wird schlecht formuliert - den Hintergrund der jeweils an der semantischen, akustischen, chemischen Front stehenden und prozessierenden Elemente.[13] Zeit des Rhythmus bedeutet nun nicht, wie zuerst naheliegend, eine Zeit der Reversibilität, eine des Zyklischen, des Kreises und der Wiederholung, sondern im Gegenteil: Die Zeit des Rhythmus ist zu verstehen als diejenige, die sich 'nach vorne bewegt', die zu einem "Zeitpfeil" werden kann, die derjenigen vielleicht entspricht, die Ilya Prigogine und Isabelle Stengers aus der Chaostheorie entnehmen, um sie der physikalischen Theorie der Zeit als Erklärungsgröße beizustellen.[14] Erst die Zeit des Rhythmus dynamisiert in einem bestimmten Größenmaß Systeme, Bewegungen, Stoffwechsel und immaterielle Einheiten jenseits der ebendiese ausmachenden Komponenten, Elemente, Aktome und läßt so erst eine Reibung, eine Friktion, eine Irritation, eine Perturbation, letztlich: eine wirkliche Instabilität zu; nicht im Innenverhältnis der Einheit oder des Systems, sondern im Außenverhältnis, im Bereich der Ökologie.

Die für diesen Sachverhalt sich anbietenden Begriffe wie Interpenetration, strukturelle Kopplung, Wechselverhältnis oder Interdependenz treffen, so die These, nicht richtig zu, da die Zeit des Rhythmus für das in Frage stehende System oder für die rhythmisierte Einheit selbst nicht zur Verfügung steht im Sinne einer Zeit, die verbraucht, gebraucht oder auf sich angewendet wird (wie es bei der operationellen Beobachtung geschieht). Vielmehr kann es plausibel sein anzunehmen, daß der Rhythmus genau an einer bestimmten Stelle der Theorie Platz greift, an der Systemtheorie Offenheit verlangt, nämlich die Stelle, die fragen läßt, ob es eine Einheit/ Unterscheidung gibt der unterschiedlichsten System/ Umwelt-Beziehungen und der 'Systeme in der Umwelt anderer Systeme-Beziehungen', die von seiten der Umwelt gebildet/getroffen wird; also ob die Ökologie von ihrer Seite aus zu einem sog. re-entry der Unterscheidung von System und Umwelt fähig ist, nun allerdings mit Blick auf eine Art "Protosystemik" der unterschiedlich in Unterschiede eingesetzten Umwelten von Systemen. Und genau dafür stünde dann der Rhythmus: Nicht als Modus der Temporalisierung/ Reduktion von Komplexität der Ökologie, sondern als Modus des Einlasses tatsächlicher ökologischer Komplexität in die Sondendimensionen von Systemen. Hier verneint die Systemtheorie dezidiert, u.a. deswegen, da ihr zufolge Komplexität Effekt der Reduktion von Komplexität ist, also keine Eigenschaft der Umwelt selbst, sondern produzierter Effekt einer System/Umwelt-Differenz, die nur von der Seite des Systems aus 'erfahrbar' ist. Welt teilt sich nicht mit, so die Überzeugung; sie läßt sich nur einteilen. – Teilt Rhythmus etwas von der Welt mit, oder ist er nur Takteinteiler?

 

 

IV

 

Damit sind wir beim zweiten Teil des Titels. Unter Operation wird verstanden die kleinste und letzte basale Einheit der Beobachtung von Systemen wie auch von beobachteten Systemen. Operationen sind die kleinsten Distinktionseinheiten, die im Moment ihres Passierens auch schon wieder entschwinden. Es sind Punkte, die, wenn aus ihnen Linien, Flächen, Dreidimensionalitäten geformt werden, als solche Linien, Flächen und Dreidimensionalitäten wiederum nur beobachtet werden können aus einer operativen Beobachtung, die aus einzelnen Operationen besteht, die in sich paradox grundiert sind. Sie müssen nämlich in einer Operation - das Beobachten - sowohl die Operation Bezeichnung als auch die Operation Unterscheidung unterbringen, und zwar instantan, was unmöglich ist und deswegen die permanente Operationalität erst gewährleistet.

Die Betrachtung von unterscheidbaren Einheiten in der Welt (Einzeller, Fabriken, Seminare, Gespräche usw.) unter dem Blickwinkel der Operationalität will darauf hinaus, daß alle Formen, die sich in bestimmten Medien (der Sprache, der Luft, der Kunst, der Eiweiße etc.) zu bilden vermögen, diese die Operationszeit überdauernden Formen nur deswegen sind, eben weil sie im Rahmen von Evolution immer bis hinunter zu den basalen Elementen, den Operationen, dekliniert werden können. Das liegt daran, so zumindest ist die Theorie der Autopoiesis zu verstehen, daß die Organisation von Elementen eines Systems wichtiger ist für die Aufrechterhaltung eines Systems denn die je besonderen Elemente des Systems selbst. Formen, so könnte man es vielleicht illustrieren, die resistent sind gegenüber der Ereigniszeit ihrer sie ausmachenden Operationen, sind wie Kleidungsstücke: Auf das jeweilige Stück kommt es nicht so sehr an als auf die Gewährleistung des Bekleidens selbst[15]. Kurz: Die Wirklichkeit von geformter Realität gehört dem "Reich" der wirklichen Möglichkeiten an; nicht Möglichkeiten haben sich den Einschränkungen der je vorliegenden physikalischen, chemischen, biologischen, soziokommunikativen Realität anzupassen, vielmehr gehört ebendiese Realität als aktualisierte Potentialität dem Kontingenzkontinent an und wird das Attribut nicht los, jederzeit wieder deaktualisiert bzw. repotentialisiert zu werden.[16] Formen sind intermediär, Formung hingegen ist feste Welt.

Unter Temporalität soll verstanden sein eine unmittelbare Reaktion eines jeden Systems auf das systemtheoretisch ausgewiesene Problem der Komplexität der spezifischen Umwelt. Temporalisierung von Komplexität besteht in der laufenden Wiederherstellbarkeit (Operationabilität) und Wiederherstellung (Relationabilität temporalisierter Operationen) reduzierter Komplexität. Systeme sind folglich "basal unruhig (wegen temporalisierter Elemente) und strukturell ruhig (wegen relationierter Elemente) und unruhig (wegen re-relationierbarer Elemente) zugleich".[17] Die Verzeitlichung bzw. Verzeitlichbarkeit des systemischen Operierens rührt aus dem irreduziblen Komplexitätsgefälle zwischen System und dessen Umwelt: Systembildung erfolgt immer selektiv. Die Umwelt des Systems enthält aus der Sicht des Systems immer mehr Ereignismöglichkeiten, als jemals im System aktualisiert werden können. Es hätte demnach keinen Sinn, wenn das System das Tempo der Schläge (Tactus) innerhalb einer bestimmten Ereigniszeit, die die Umwelt vorgibt, erhöhen würde, also die Bewegung innerhalb einer bestimmten Zeitverbrauchseinheit forcierte, um der Komplexität der Umwelt gerecht zu werden; auch nicht, wenn es die Zeit der Verknüpfung einer Operation mit einer nächsten durch die Modulisation des Verknüpfens in Gestalt eines Rhythmus erheblich reduzierte. Anstelle einer Rhythmisierung der Operationen im Sinne von: Gliederung der Dauer einzelner Operationen bzw. Gliederung des Verhältnisses der Dauer einzelner Operationen sowie des Zeitmaßes, das das Tempo des Verknüpfens der einzelnen Operationen bestimmt, tritt nun die "Taktung" der aufeinanderfolgenden Operationen auf den Plan, in eins mit der gleichsam pausenlosen (rekursiven) Zuweisung diskreter Codewerte auf diskrete Zeitpunkte.

Ist der Rhythmus zu verstehen als operationable "Re-Generation" (anstelle einer Re-Präsentation)[18] der nichtfassbaren Komplexität der Umwelt und damit "Produkt" von Erfahrung mit einer systemexternen Unmöglichkeit, so zieht die diskrete Operationsverzeitlichung jegliche Erfahrungsformen für ihre Umwelt ein und basiert die Gewähr des anhaltenden Operierens der Verknüpfung von Operationen auf die systeminterne Unmöglichkeit, die, wie schon erwähnt, in dem Zwang zur Gleichzeitigkeit zweier Operationen besteht, die nicht gleichzeitig sein können, da nur eine Operation zur Verfügung steht, aber gleichzeitig sein müssen, und genau durch diese Paradoxie überhaupt erst die Operationabilität und Beschleunigung eines Systems entfalten.

 

 

V

 

Wenn es plausibel ist zu unterstellen, daß die letzte große übertechnologisierte Aktion des Menschen, nämlich absichtsvolle Beschleunigung des Zufalls, nicht grausamer ausfallen muß als die nun über 400 Jahre dauernde versuchte Ausrottung des Zufalls durch Rigidisierung des Codes sozialer (Funktions-)Systeme, dann könnte es sinnvoll sein, Prozessualitäten zwischen Menschen, Menschen und Natur und zwischen Menschen, technischen/sozialen Systemen und Natur unter dem Blickwinkel des eingehaltenen bzw. nicht eingehaltenen Rhythmus und nicht mehr unter dem Blickwinkel der sich immer noch naturwissenschaftlich definierenden Wiederholung zu betrachten. Können, das ist die abschließende Frage, bestimmte "Körperschaften" nicht des Rechts, sondern des Sozialen und des Technischen sowie der Stoffwechsels zwischen Natur und Gesellschaft auf Rhythmus als Modus des Interagierens, Zusammenwirkens und Prozessierens angelegt werden, oder muß man akzeptieren, daß diese Zeitorganisationsform nur auf natürliche, biologisch körperliche und musikalische Zusammenwirkprozessoren gespannt werden kann und für die komplex aggregierten Dimensionen der Gesellschaft keine vergleichbaren "internen" Grenzziehungen und Markierungen bestehen außer denen des Kaputtgehens, des Unfalls, des entweder Ein oder Aus, des operationalen Schließens und der zufälligen Emergenz von Abweichungen?

Den Rahmen dieser Fragestellung kann man von Vilém Flusser ableiten.[19] Nach ihm sei mit dem Umkodieren des Denkens aus Buchstaben in Zahlen ein Dimensionswechsel vorgenommen worden. Das buchstäbliche Denken fasst den Menschen und die Welt linear auf, als Prozeß, als ein "Geschehen", das numerische hingegen fasst beide punktuell, mosaikartig auf, zersetzend und wiederzusammensetzend; Zusammenhalt weicht dem temporären Zusammensatz; und auch die Tätigkeit des Auseinandernehmens und Zusammensetzens bildet keine eigene Trace, kein Teritorium, keinen Eigenwert, keine emergierende Systemqualität: "Mit dem Umkodieren des Denkens aus Geschichtlichkeit in Systemanalyse und Systemsynthese ist das Denken abstrakter geworden. Es ist aus der Unidimensionalität in die Nulldimensionalität zurückgetreten. [...] Das numerische Denken hat zwar eine der ausgedehnten Welt nicht adäquate Struktur, aber es ist seltsamerweise trotzdem geeigneter als das buchstäbliche, um die Dingwelt in den Griff zu bekommen."[20] Zu dieser Dingwelt gehört jetzt natürlich auch der Mensch. Er wird kalkulierbar als physische, physiologische, mentale, soziale und kulturelle 'Sache'; er zerfließt in sich überschneidende Netze von physiologischen, psychischen, sozialen und kulturellen Relationen. Der Mensch als Subjekt des Kalkulierens, so Flusser, löst sich im Kalkulieren selbst auf und befindet sich damit in der vierten Phase seiner kulturellen Entwicklung, und gleichsam am Endpunkt eines evolutiven Prozesses, der mit dem Zurückweichen von der Lebenswelt begann (Entstehung des Behandlers und Instrumentenerzeugers), mit dem Zurückweichen von der Dreidimensionalität der behandelten Dinge sich fortsetzte (Entstehung des Beobachters und Bildermachens), in das Zurückweichen von der Zweidimensionalität der Imagination einmündete (Entstehung des Beschreibers und der alphabetischen Schrift), und nun - im vierten Schritt -  angekommen ist: Dem Zurückweichen von der Eindimensionalität der Schrift (Entstehung des Kalkulators und der modernen Technik) und dem Eintritt in die Nulldimensionalität. Daher, so Flusser abschließend, "wenden wir uns sozusagen um 180 Grad und beginnen, ebenso langsam und mühselig, in Richtung des Konkreten (der Lebenswelt) zurückzuschreiten. Daher die neue Praxis des Komputierens und Projizierens von Punktelementen zu Linien, Körpern und uns angehenden Körpern."[21]

Diese neue Praxis, deren Herleitung sicher nicht zufällig an die Strenge der Hegelschen Konzeption der Herausbildung des absoluten Geistes als Überwachung eines Reiches vollständig aufgehobener negierter Negationen denken läßt, schöpft also aus dem Nichts, um das, was geschöpft wird, als Entwurf des Schöpfens zu kreieren, und kehrt dabei, gleich Baudrillard, die rhetorische Masterfrage der Philosophie, "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts"?, einfach um und wandelt sie ab in eine konstative Aussage plus Frage: "Es ist nichts. Wie konstruiert/komputiert man überhaupt (also jenseits des Bewußtseins) etwas"? Die Adäquatheit eines solchen Satzes und solch einer Frage mit der gegenwärtigen Wirklichkeit technophiler kapitalistischer Gesellschaften hat nun nicht genuin mit der gegenwärtigen Wirklichkeit zu tun, sondern allenfalls mit der Realisationsmächtigkeit der modernen Technik, die im Anthropologium anzusiedelnden Potenzen des Maschinellen, des Logischen, des Virtuellen und Algorithmischen nun auch reel, d.h. als technologisch disponible Virtualität zu fügen. Abstraktion, Virtualität sind nichts menschennaturjenseitiges: Sie sind Kultur und Zivilisation, die erst konkrete individuelle Menschen sekretieren. Sprache und dann Schrift (ich be­lasse es bei diesen beiden Trägern) eröffneten dem Men­schen die Mög­lichkeit, originäre, indi­viduelle und zeiträumlich abhängige Verknüp­fungen und Synthesen ande­ren mitzuteilen, ohne daß dabei erfor­derlich war, daß der die Mittei­lung Erfahrende die Erfah­rung des Mit­teilenden teilen mußte; teilen mußte er jetzt nur noch die gemeinsame Dei­xis des Mittelungsaktes resp. die Grammatik der Schrift. Ausdruck als Modus der Kommunikation wurde entlastet und dann weitge­hend er­setzt durch Zeichen der Bedeu­tung; die Kultur des Eindrucks (Einfühlungsvermögen, Empfindungen, Wahrnehmungen; also als das, was das "Äußere-Spuren-Hinterlassen" fürs In­nere evakuieren konnte) wurde zusehends ir­relevant fürs Verstehen als im­mer noch monopolartiger In­dikator des Erfolgs oder Mißerfolgs einer Kommu­nikation. Oder kurz: Die Dynamik des Ausdrucks, des Wahr­nehmens als beinahe mimetisches Korrelat zur Dynamik der Welt wurde zum Stehen (lat.: stare), zum Ver­stehen ge­bracht; der Garant für die nun notwen­dige Stabilität (denn erst jetzt konnte soetwas passieren wie das Fal­len) wurde der Buch­stabe[22], der Ga­rant fürs Berechnen der Welt wurde die Zahl, und als Organon des kein Organ besitzenden Lebens wurde ein­gesetzt: die Wie­derholbarkeit.

Man kann aber auch an die Maschine denken, die seit der frühesten Zivilisation schon immer als mathematische und symbolische Maschine existierte und im Laufe der Geschichte in immer gewaltigeren Schüben apparativ wurde.[23] Kurz: Die behauptete vierte Phase der Nulldimensionalität, der eine Verhältnis-Umwerfwucht zugeschrieben wird vergleichbar der Wucht des Kapitals im Kommunistischen Manifest ("Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie verknöchern können"), zeichnet die Geschichte der Freistellung des freigestellten Tieres namens Mensch von der Natur aus. Hat nun diese Abstraktionsbewegung, diese expansive Virtualisierung, dieses Distanzräume- und Entfernungsnähe-Schaffen selbst Rhythmus? Oder besser: Ist Rhythmus in Information zu übersetzen und als informierter, geplanter, konstruierter Rhythmus einspeisbar in die Verkehrsflüsse etwa von Organisationen, in die zwischen Institutionen, in solche zwischen Funktionssystemen, schließlich einspeisbar in das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt? — Diese Frage ist so absurd nicht, wenn davon ausgegangen wird, daß Rhythmus nicht gegenstandsbezogen, nicht anhand ganz speziell materialer Kreisläufe und Prozesse identifiziert werden muß, sondern ein Begriff ist im reinsten Sinne des Wortes. Allein die unzähligen Welttatbestände, die unzähligen Dinge, Einheiten und Vorgänge, denen Rhythmus unterstellt wird, läßt vermuten, daß Rhythmus keine Eigenschaft von besonderer Materie/ Energie/ Information ist (wenngleich mit der Kraft, genau dies zu imaginieren), sondern vielmehr eine Abstraktion oder zumindest das strukturell Implizite eines Ereignisses oder Vorgangs. Mit großer Evidenz unterstellt werden der Atmung, der Musik, dem Herz, dem Tanz, der sportlichen Bewegung, dem Vortrag, dem Beischlaf, dem Körper, der Seele und dem Geist[24] Rhythmus[25]; es gibt mittlerweile Rhythmus-Trainer (entweder als Maschine oder als Therapeut), eine Unmenge an Forschung über die menschliche Fähigkeit, Rhythmus und Takt in Musikstücken zu erkennen (mit dem Ziel der automatischen Erkennung von Rhythmen qua in den musikalischen Frequenzbereich hineinkonvertierbarer konstruierter Algorithmen), eine immer ausdifferenziertere Beobachtung klimatischer, geologischer, physikalischer, biologischer und sozietärer Rhythmen, Zyklen, Schwingungen und Kreisläufe, die nicht esoterisch durchherrscht ist; sowie eine wachsende Reflexion auf die Bedeutung des Begriffsvolumens "Rhythmus" in unterschiedlichsten Diskursen[26], nicht zuletzt den rassistischen und faschistischen.

 

 

VI

 

Dem Nachgehen des Verhältnisses von Rhythmus und Temporalität, ihren jeweiligen Bedeutungen und Kapazitäten, liegt natürlich eine altbekannte Problemstellung unter, die in der Geschichtsphilosophie und der Rationalitätstheorie ungefähr folgendermaßen formuliert wurde: Rächt sich Natur an Gesellschaft und Mensch deswegen, weil die geschichtliche Emanzipation des Menschen von Natur durch Natur nicht radikal genug vorangetrieben wurde resp. noch im Status des Projekts weilt (Projekt der Moderne), oder weil sie zu radikal betrieben wurde? Ist der Zustand gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften, in denen sich das Geld, die Funktionssysteme, letztlich die Gesellschaften selbst von den Menschen zu emanzipieren scheinen, ein Zustand, der herzuleiten ist aus einem Exzeß der Rationalisierung der 'Lebenswelt', oder eher aus einer nicht konsequent durchgeführten Rationalisierung der Lebenswelt, also aus einer "halbierten Vernunft" (Habermas)?

Man kann im Rahmen einer theoretischen Ökologie und mit Blick auf den ökologischen Zustand der Gesellschaftsumwelten (und natürlich der Gesellschaften und kommunikativen Kulturen darin) das Problem auch so variierend formulieren: Erreichte der "Stoffwechsel" zwischen warenproduzierenden technophilen Gesellschaften und Umwelt deswegen diese zerstörerische Wucht, die sie hat und noch lange haben wird, weil sich die Technologie, verstanden als Verstofflichung abendländischer/griechischer Logik, extrem distanziert hat von den "Eigenwerten" ökologischer Entitäten (etwa: Kreisläufe, Zyklen, Rhythmen, Interferenzen, Zeitlimits)[27], oder deswegen, weil Technologie noch zu wenig distanziert von Natur ist, noch zuviel an Natur in ihrem Operationalismus beinhaltet? — Auch in dieser Frage geht die Luhmannsche Systemtheorie weiter und verschiebt die Perspektive, die einen bestimmten Zusammenhang zwischen Technologie und Natur denken läßt. Ihr zufolge gibt es etwa kein erkenntnistheoretisches Argument, das auszuschließen vermag, "daß eine Technologie auf Grund einer falschen Theorie konstruiert wird und trotzdem funktioniert. [...] Es geht bei Technik, anders gesagt, [..] um kombinatorische Gewinne. Daß es funktioniert, wenn es funktioniert, ist auch hier der einzige Anhaltspunkt dafür, daß die Realität soetwas toleriert. Wir kehren, mit anderen Worten, die übliche Annahme um: Nicht die Technik wird isomorph zur Natur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils relevanten Kombinationsraum isomorph zu dem, was man technisch ausprobieren kann."[28] Mit dieser Sicht ist jeder Prospekt, der eine rücksichtsvollere Technologie und einen weniger zerstörerischen Umgang der Technik mit Umwelt (umweltfreundliche Umwelttechnologie) entwirft, theoretisch verunmöglicht. Auch bestehenden und augenscheinlich umweltfreundlichen Technologien wird mit dieser Sicht die Möglichkeit genommen, für sich zu beanspruchen, wirklich besser auf Umwelt und Natur zu passen denn augenscheinlich schädlichere Technik. Die Umwelt resp. Natur kann von sich aus kein Maß, keine Grenze, keinen Umschlagpunkt angeben, der Inkompatibilität zwischen ihr und ihrer rekombinierten und aufgelösten Form anzuzeigen vermag; was in solch einem Falle angezeigt wird, ist nur auf seiten der jeweils so geformten Technik feststellbar: der Unfall, das Kaputtgehen, die wuchernde Nebenwirkung, das Nichtstarten.

Was aus dieser Sicht systemtheoretisch gezogen werden kann, ist ein nichtemphatisches Plädoyer dafür, die sogenannte Abweichungsverstärkung (Devianzamplifikation), zu der alle rekursiv und operational geschlossenen Systeme fähig sind, wenn nicht zu forcieren, so doch konsequent weiterzuverfolgen, ohne dabei moralische oder sonstige ökologische Hindernisse einzubauen. Wenn "ökologische Kommunikation" resp. Kommunikation mit Ökologie nicht möglich ist, dann, so die Annahme, muß sich das technologische System an den eigenen Formen und Operationen orientieren; muß sich selbst in Vibration, in Spannung, in Irritation versetzen. Und dies gelingt durch eine behinderungsfreie, sprich: von jeglicher Rücksicht auf Natur befreite Exekution der Verstärkung von Abweichungen als das Oppositionelle schlechthin zur Einhaltung eines bestimmbaren Kreislauf-Rhythmus.

Abweichungen und Kreisläufe, Abstände und Pausen, Entwicklung und Evolution, reversible und irreversible Zeit können als derivatiöse Begriffspaare des Leitpaars Rhythmus und Temporalität verstanden werden. Gemeinhin wird das Kreisläufige, das Rhythmische, das Zirkulierende der Ökologie als dasjenige angesehen, das nicht zur linearen, zeitintensiven Progression von Entwicklungen führt oder maßgebend beiträgt, sondern eher als Gewähr dafür, daß sich in der 3-Phasen-Evolution (Variation, Selektion, Re-Stabilisierung) immer wieder eine stabile dynamische Instabilität, ein unregelmäßiger rhythmischer "Fluß" einfindet, der das Veränderte mit soviel Zeit versorgt, daß sich auch die Ökologie des Geänderten verändert (und natürlich vice versa). Garantiert wurde dies durch die unvorstellbar viele Zeit, die dafür zur Verfügung stand, man kann auch sagen: durch den sich ergebenden Rhythmus der Abweichungszeit der Ökologie der Systeme[29]. Die Zeitextension ist Effekt des Umstandes, daß die Ökologie der Systeme selbst nicht als System organisiert ist, sondern im wahrsten Sinne Umwelt ist. Die Zeitintensität temporalisierter und sequentialisierter Veränderungen resp. verstärkter Abweichungen ist dagegen Effekt der Geschlossenheit des zur Auflösung und Rekombination von Wirklichkeit befähigten Systems. Dieser Unterschied ist, so denke ich, maßgebend für die Bestimmung des Verhältnisses von Rhythmus und Temporalität, auch wenn die Kybernetisierung systemtheoretischen Beschreibens keine Polarität "hier Leben, dort Maschine" innerhalb des Verhaltens-Feldes zuläßt.

Um das Annotieren abzuschließen und dem vielfach oppositionellen Gegenüberstellen von Rhythmuszeit und Operationstemporalität auszuweichen, möchte ich die folgende Annahme machen, nämlich: daß die stabile Form der ménage à trois (Körper, Geist, Gesellschaft) nicht nur temporal bzw. historisch eine in­termediäre Form ist, sondern auch material bzw. evolutionär. D.h.: Dieser Zustand der Ungeteiltheit von Körper und Geist (gemeinsamer Träger: Mensch), dieser Zustand der Ungeteiltheit von Natur und Gesellschaft (gemeinsamer Prozeß: Stoffwechsel), und dieser Zustand der Ungeteiltheit von "Individuum" und Gesellschaft (gemeinsamer Horizont: Lebenswelt)[30] sind Gestalten eines vorübergehenden Prozesses von nun reflexiv geworde­ner Evo­lution, der ebenfalls vorübergeht. Evolution mutierte Geschichte; Ge­schichte (Geist und Gesellschaft) kommt an ihre Grenze, den Zeitraum der natürlichen Evolution gemeinsam mit Natur und Körper teilen und sich repro­duzieren zu müssen[31]; zugleich kommen Natur und Körper an ihre Grenze, im "alten" Herr-Knecht-Modus (Herrschaft) und Knecht-wird-Herr-Modus (Selbstzucht, Selbstdisziplin) ausge­beutet, deformiert und elimi­niert zu werden; Geschichte beginnt, Evolution zu produzieren, nicht ver­standen als Bedeutung der Geschichte der Produk­tion von Welt für die na­türliche Evolu­tion des Lebendigen auf der Erde, sondern als radikal ande­rer Modus der Grundlagen des Selegierens, Variie­rens und Kondensierens evolutionärer Pro­zesse; die von Geschichte produ­zierte Evolution (zweiter Ordnung?) koppelt den Geist, den Körper und die Gesellschaft zunehmend ab vom gemeinsamen Be­dingungsensemble der ersten Evolution, und schafft je­weilige, wohl nicht nur operational abgeschlossene "Wohineins", in denen jeweils für sich Kör­per, Geist und Gesellschaft ihre Selbsterhaltung und Selbstproduktion auto­poietisch wiederholen. Geistloser Körper (Kreatur), körperloser Geist (Dämon), menschenfreie Gesellschaft (System), gesell­schaftsloser Mensch (Monade) - auf eine Art technologischer Realisation emergenzfähiger "Entmischung" der bis dato evolutions- bzw. ge­schichtstheoretisch als ver­woben und unselbständig beschriebenen Wirklich­keitskomponenten namens Na­tur, Geist, Körper und Gesellschaft scheint also die Evolution der Evolu­tion, die historische Produktion von Evolution als Fortsetzung der Evolu­tion von Geschichte, hinauszulaufen.

Nichts, wenn diese nicht ganz disziplinlose Annahme plausibel würde, wäre dann dringender zu erreichen denn die Verwortwörtlichung des Pausemachens, des Aufhörenmachens, des Entschleunigens. Und das erfordert eine recht ungewohnte Präzision der Ambivalenz, der "Unreinheit", denn man kann, abstrakt gesagt, nicht ernsthaft unterlassen, wenn nicht auch das Unterlassen unterlassen wird. Alles zu unternehmen, um zu unterlassen (zu pausieren, aufzuhören, zu entschleunigen), perpetuierte nur den Exzeß der Zeit-Produktivität in ihr intendiertes Negatives hinein. – Diese präzise Ambivalenz, die vielleicht in abstrakter Form die Selbstattraktion des vermeintlich homöostatischen Wachsens und Schrumpfens aufbewahrt, kann man, soweit ich es sehe, bisher nur hören, etwa bei den letzten Stücken Luigi Nonos, bei Mathias Spahlinger, Arvo Pärt, Jakob Ullmann, John Oswald.

Wer nicht mehr "verarbeiten" kann, muß hören.

 

 

 



[1] Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München 1996, p58.

[2] "Nicht zufällig ist Globalisierung zum Wort des Jahres 1996 gewählt worden. Das Schrumpfen des Welt-Raumes, selbst Jules Verne hätte uns für verrückt erklärt, hätten wir ihm von der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts berichtet, bringt uns ins Staunen"; so in einem explizit namenlosen Hypertext mit dem Titel Crossing Boundarieswhich Boundary is next im Internet: http://www.-isc.unisg.ch/essay/ess27007/heideloff.html.

[3] Ders., Zeit-Verhältnisse: Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit, in: W. Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, p40-49, hier: p48.

[4] Das Folgende bezieht sich auf einen Hypertext von Thomas Wuchterl und Claus Faber mit dem Titel Zeit. Ökonomie. Ökologie. (http://www.wu-wien.ac.at/usr/h86/h8653026/uni-docs/ Zeit.html)

[5] Ders., Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, FFM 1996 (1993), p31.

[6] Virilio, a.a.O., p113.

[7] Virilio, a.a.O., p143.

[8] Siehe nur als Quasi-Standard Oskar Negt, Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, FFM 1972, p44f.

[9] Siehe Dietmar Kamper, Mimesis und Simulation. Von den Körpern zu den Maschinen, in: Kunstforum International, Bd.114/ 1991, p86-94, hier: p86.

[10] Derselbe, Implizites Wissen, FFM 1985 (1966), p14 ff. Man kann aber auch an Wolfram Hogrebes Erinnerung an das Feld der Vorahmung, Ahnung und der Formen gesteigerter Gegenwart denken (ders., Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996).

[11] Polanyi, a.a.O., p15.

[12] Ein Beispiel: Versuchspersonen bekommen eine große Anzahl sinnloser Silben gezeigt, wobei auf  das Erscheinen einiger davon ein elektrischer Schlag erfolgte. Bald zeigten die Versuchspersonen Symptome der Antizipation des Stromstoßes beim Anblick der 'Schocksilben'; auf Befragen mochten sie diese Silben nicht anzugeben. Sie hatten herausbekommen, wann ein Schlag zu erwarten war, konnten aber nicht sagen, was sie zu dieser Erwartung veranlaßte. Sie hatten also ein Wissen erworben ähnlich dem, das wir haben, wenn wir eine Person mittels Zeichen erkennen, die wir nicht anzugeben wissen (Polanyi, a.a.O., p17).

[13] Die Annahme ist, daß eine außergewöhnlich verdichtete Information in impliziten, nichtfigürlichen, hintergründigen "Formen" steckt, die sich der analytischen Explikation sperren, nicht aber der Exekution. Sie können nur ausgeführt, nicht aber als abstrahierte in andere Kontexte eingeführt werden.

[14] Dieselben, Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten, München 1993. Eine ähnliche Achse wie zwischen berechenbarer und unberechenbarer Zeit (reversibler und irreversibler Zeit) versucht Wolfgang Kaempfer zu entwerfen in seinem Buch "Die Zeit und die Uhren". Mit einem Beitrag von D. Kamper, FFM/Leibzig 1993; dort unterscheiden sich Verkehrszeit und Geschichtszeit voneinander.

[15] Manfred Fassler, Umgebungen postheroischer Körper, in: Frithjof Hager (Hg.): KörperDenken. Aufgaben einer Historischen Anthropologie, Berlin 1996, p222-231, hier: p222).

[16] An dieser Theoriestelle hilft einzig nur noch Evolutionstheorie mit ihrem Schema Variation, Selektion und Restabilisierung, um wenigstens einsichtig werden zu lassen, warum soviele Formen von Realität (vegetatives Nervensystem, Eiweiße, Körperlichkeit des Lebens usw.) sich immer und immer wieder, manche seit Millionen von Jahren, ergeben, ohne Veränderungen anzunehmen. Siehe: Ernst von Glasersfeld, Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/Wiesbaden 1987, p188.

[17] Detlef Krause, Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart 1996, p120f.

[18] Man könnte hier auch den von Gotthard Günther benutzten Begriff der Intersection denken, der den Sachverhalt zu bezeichen hat, daß eine gemeinsame Benutzung von Elementen durch verschiedene Systeme passiert (konträr dazu, als Abgrenzung zum Begriff der strukturellen Kopplung, siehe Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p31). Aber hier geht es ja gerade darum, daß nicht verschiedene Systeme gemeinsame Elemente benutzen, sondern daß im System die für das System unerreichbare und im wahrsten Sinne des Wortes nichtvorhandene Umweltkomplexität zuhanden wird. Aus Sicht der Systemtheorie ist das Unsinn, denn, so Luhmann (1990, p278), "das charakteristische Merkmal eines rekursiv operierenden Systems ist die Sensitivität für den Effekt der eigenen Operation und nicht nur, ja faktisch immer nur in extrem geringem Ausmaß, die Sensitivität für Ereignisse der Umwelt."

[19] Derselbe, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998, p15 ff.

[20] ebenda, p15f.

[21] dito, p21f.

[22] Bis auch in dieser Stabilität des Buchstabes das permanente Bewegen und sich dauernde Verhalten der Buchstaben zueinander (als eine Art neue, semiotische Deixis) als eigentliche Motoren der Sprache und der Schrift promotet wurden (etwa durch Saussure und Derrida), brauchte es lange.

[23] Eine symbolische Maschine "gibt es nicht wirklich, sondern nur symbolisch. Sie ist kein Apparat bestimmter physikalischer, z.B. mechanischer oder elektronischer Wirkungsweise, der eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit einimmt, sondern diese Maschine existiert nur auf dem Papier. [...] Jeder Vorgang, der formal beschreibbar ist, kann als Operation einer symbolischen Maschine dargestellt und - im Prinzip - von einer wirklichen Maschine ausgeführt werden"; Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988, p2f. Die heutige, in Aussicht gestellte Vernetzung von wirklichen Maschinen, die bestimmte Stellen in Raum und Zeit einnehmen, sollen die unterstellte Fähigkeit haben, die Darstellung der Wirklichkeit auszuführen, also die Wirklichkeit auf dem Papier resp. Monitor existent sein zu lassen.

[24] Gemäß der Biorhythmuslehre dem Körper mit einer Zyklusdauer von 23 Tagen, der "Seele" von 28 Tagen und dem "Geist" von 33 Tagen. Ein vierter mit der Dauer von 38 Tagen kam noch dazu; und zuletzt soll der Schweizer A.J. Dietziker einen sogenannten "Interferenz-Rhythmus" entdeckt haben, der die drei Hauptfunktionsbereiche Stoffwechsel (Bauch), Kreislauf (Brust) und Nerven (Kopf) steuert und zudem enorm erkenntnisträchtig ist.

[25] Man kann weiterfragen: Gibt einen Rhythmus des Tötens, des Verzweifelns, des Analysierens, des Zerstörens? — Diese Fragen laufen darauf  hinaus, Rhythmus nicht per se als Ausweis des Lebendigen, des Lebenwollens zu deuten, sondern indifferent zu halten gegenüber der Frage, ob Rhythmus  eine Eigenschaft des Lebens oder des Sterbens ist.

[26] Siehe z.B. die sehr instruktive Studie von Michael Golston, "Im Anfang war Rhythmus". Rhythmic incubations in discourses of mind, body, and race from 1850-1944; im Netz unter

(http://shr.stanford.edu/shereview/5-Sup/text/golston.html; last update: 1996).

[27] Man kann es auch so sagen: Mythologie, verstanden als Sammelbegriff voranalytischer Weltinbeziehungsetzungsmuster, versuchte, den Geschichten und Erzählungen der verschiedenen Naturen zu lauschen; Szientologie versucht, die Natur der verschiedenen Naturen zu berechnen (zu zählen, zu formalisieren).

[28] Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.

[29] Die Bedeutung von Pausen in Bewegungen, deren Zeitform rythmisch geordnet ist, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.

[30] Hier hat die soziologische Systemtheorie bisher am radikalsten Tei­lung, also Differenz eingeführt und operational eine solche Wucht an Ungeteilt­heit bzw. Unteilbarkeit von Individuum und Gesell­schaft ein­geführt, daß gar nicht mehr ersichtlich scheint, inwieweit die Teilun­gen noch irgend priviliergierten Bezug zueinander (die Frage nach der Einheit der Diffe­renz) besitzen können.

[31] Die Grenze macht sich sprachlich darin deutlich, daß das Hauptwort zur Beschreibung des Artifi­ziellen (das ja mit der Natur und dem Körper zu­sammen im Gehäuse der materiell-physischen Bedin­gungen sitzt), näm­lich das auf lebende Materie bezogene Wort Wachstum - Angriffsziel nach- und neomarxistischer Kritik der letzten 20 Jahre -, heute entwe­der nur noch für Krebs, Epidemien, Ein­samkeit und Angst einigermaßen plausibel gilt, oder dort, wo es um die Raten von körperfreien immate­riellen Produkten (Bildern) resp. um die Produktion von körperlichen, materiellen Simulatio­nen von Körper und Materie (Bio-, Gen- und Repro­duktionstechnik) geht. Die Rede von der sog. In­formationsgesellschaft, vom Wissen als die Produktivkraft meint nichts anderes: Innerhalb der for­cierten Internationalisierung des Kapitals bleibt den G7-Kernge­sellschaften nichts anderes übrig, als in der Abstraktion und "Emanzipation" von Natur wieder einen Schritt weiter zu gehen. Neben der Verwertung der natürlichen Rohstoffe und der Syntheti­sierung von Stoffen tritt nun die kapita­listische Verwertung des men­schlichen Kör­pers resp. die Verwert- und Kopierbarkeit genau anweisbar gewordener körperlicher Wachstumsprozesse. "Das bedeutet aber zum einen die Verlän­gerung des Kon­kurrenzkampfes bis in die organische Natur des Menschen, zum anderen die Aufhebung aller denkbaren 'natürlichen' Schranken der Ka­pitalakkumulation" (Rayk Wieland, Schöner klonen, in: konkret 4/1997, p53).