Zeit des Rhythmus, Temporalität der Operation
"slave
to the rhythm" — Grace Jones
"Die datenverarbeitende und zerebrale
Maschine [..] ist nicht Herrin über den Schein, sie beherrscht nur die
Berechnung, und ihre Aufgabe - wie die aller kybernetischen und virtuellen
Maschinen - ist es, diese essentielle Illusion durch die Echtzeitnachahmung der
Welt zu zerstören" — Jean Baudrillard[1]
I
Viele Fragen und viel Antwortlosigkeit auch
hier.
Was ist Wachstum, was Schrumpfung? Für nichtbiologische und nichtökologische
Sachverhalte, also etwa Organisationen, Märkte, soziale Gesellschaften, aber
auch für Vorkommnisse und Strukturen wie Kriminalität, Verelendung, Reichtum
und Vertrauen wird in der Regel selbstverständlich das Wort Wachstum benutzt,
um eine Änderung, Veränderung, einen Wechsel anzuzeigen. Wachstum gilt als
Zentralbegriff nicht nur der ökonomischen Moderne; so zentral, daß sogar das
Nichtanwachsen mit Nullwachstum beschrieben wird, ohne Kopfschütteln zu ernten.
Und auch Schrumpfungen werden allerseits konstatiert: beim Bruttosozialprodukt,
beim Vertrauen, sogar der Welt-Raum schrumpft[2],
und nicht zuletzt: die Hoffnung.
Für die folgenden Seiten ist ausschlaggebend, die Betrachtung der
modernen Gesellschaft in zwei unterstellte Pole einzuspannen, die es überhaupt
erst mit sich bringen, eine Rhythmuszeit mit der Temporalität der Operation in
eine vergleichende Auseinandersetzung zu stellen. Und zwar wird davon ausgegangen,
daß einerseits in der modernen Gesellschaft tentativ
alles operativ Vermittelbare/ Medialisierbare auf die Gegenwartszeit reduziert
wird, und daß andererseits auch die Gegenwartszeit selbst schrumpft. Hermann
Lübbe[3]
beschreibt letzteres folgendermaßen:
"Die Gegenwart schrumpft; die Vergangenheit, die sich zur Gegenwart
als eine fremde verhält, rückt, im Abstand von Jahren gemessen, der Gegenwart
immer näher, und analog rückt die Zukunft der Gegenwart immer näher, die nach
dem Muster der Gegenwart nicht mehr beurteilt werden kann. Damit nehmen
zugleich die Zeiträume ab, die uns für die individuelle und institutionelle
Verarbeitung des zivilisatorischen Wandels zur Verfügung stehen."
Man kann offen lassen, ob der Hang zur Temporalisierung von Weltsachverhalten
und der zur Operationalisierung zumindest der
sozialwissenschaftlichen Theorien als kausale Effekte der Zeitraumschrumpfung angesehen
werden müssen, oder ob in Temporalisierung und Operationalisierung
nur die technisch avanciertesten Schrumpfungsagenten sich Gestalt geben. Fest
steht hingegen, daß die Zivilisation, die in der Moderne ihre hegemoniale Form
erlangt hat, sich selbst immer weniger Zeit zur "Verarbeitung" – sei es kulturell, sei es intellektuell, sei
es "sozialpolitisch", sei es ökologisch – ihres eigenen Wandelns und
Wandels mitgibt. Entschleunigung, so könnte man
plausibel fordern, tut not. Und not tut auch, sich nach anderen "Zeitkonzepten"
umzuschauen. Nach Konzepten, die der Irreversibilität von Verarbeitungszeitraumschrumpfung
eine Art Zyklidität der gegenstrebigen
Attraktionen Wachstum/Schrumpfung entgegensetzen können. Die Annahme dahinter
ist, daß sich Wachstum und Schrumpfung als ein und dieselbe Attraktion erweisen.
Auf die Zeiten bezogen, mit der Dinge, Organismen, Umwelten, Gesellschaften und
Psychen bespannt sind, kann man sich nun fragen, ob nicht der Rhythmus als eine
stabile Form dieser gegenstrebigen Attraktion zu
sehen ist; als eine Form der Zeitorganisation, die für eine bestimmte Balancierung
unterschiedlichster "Systemzeiten" verschiedenster Zusammenwirkungen
sorgt. Und zwar besser sorgt denn eine temporalisierte Zeitorganisation, die
nicht mehr Rücksicht nimmt auf die Verschiedenheit
in Zeiten, noch viel weniger Rücksicht nimmt auf Verschiedenheit der Zeiten, sondern nur noch die jeweils
systemgenerierte Eigenzeit als Maß nimmt. Gefragt wird also im Folgenden, was
es mit der Zeitorganisationsform "Rhythmus" auf sich hat und in welchem
Verhältnis sie zu der Form der Temporalität gedacht werden kann.
II
Zu fragen ist zuvörderst, in was sich Rhythmus sicht-, hör- und
bemerkbar macht; ob es bloß verschiedene Rhythmen gibt, für die es keinen
Unterschied macht, ob das Rhythmisierte Maschine oder "Natur" ist;
oder ob es im Begriff Rhythmus selbst nochmals Unterschiede gibt, die es
plausibel machen, von einer Verschiedenartigkeit des Rhythmus zu sprechen.
Rhythmus umgibt vieles und ist in vielem[4],
was sich auf den ersten Blick als nicht-synthetisiert, als "natürlich"
gibt:
·
Es gibt soetwas wie einen
4-tausendstel-Takt-Rhythmus unserer Rezeptoren, der gewährleistet, daß zeitlich
unterschiedliche ankommende Daten ein und desselben Weltsachverhaltes als
zusammengehörige Informationen verarbeitet werden.
·
Es gibt den sogenannten 3-Sekunden-Takt-Rhythmus, der alles, was innerhalb
von drei Sekunden passiert, synchronisiert und zusammengefaßt (etwa Atmung).
·
Es gibt lange, großformatige Rhythmen, die durch Sonne und Mond getaktet
werden und etwa den Rhythmus von Tag und Nacht bedingen; so ist etwa die Photosynthese,
als Transformator von Energie mit den Zuckermolekülen als Akkumulatoren die
fundamentale Technologie der Evolution schlechthin, untrennbar mit dem Zyklus
Tag und Nacht verknüpft.
·
Es gibt die Jahreszeiten-Rhythmen: Die Neigung der Erdachse und der
Umlauf um die Sonne sind die Auslöser unterschiedlicher klimatischer Bedingungen
im Jahresablauf. Wieder stark abhängig vom Ort auf der Erde steuern sie längere
Zyklen wie die Fortpflanzung, aber auch den Lebensraum (gerade bei Lebensformen
die ihr Biotop wechseln, z.B. der Lachs). Nomaden, riesige Herden,
Fischschwärme, Vögel folgen diesem Rhythmus.
·
Es gibt den Rhythmus der Gezeiten: Als uns nächstgelegener Himmelskörper
übt der Mond wesentlichen Einfluß auf die Meere der Erde aus. Der ca.
zwölfstündige Zyklus von Ebbe und Flut beherrscht das Grenzgebiet zwischen Land
und Wasser. Aus anthropozentrischer Sicht ist dieser Takt derjenige mit dem
geringsten individuellen Einfluß. Allerdings befinden sich nicht nur die Wiege
des Lebens in diesem Grenzgebiet zwischen Land und Wasser, sondern auch einige
der artenreichsten und anfälligsten Ökosysteme der Erde.
·
Es gibt bestimmte Eigenzeiten endogener Art: Diese bleiben auch erhalten,
wenn die Taktgeber unter Laborbedingungen ausfallen, oder durch bewußte oder unbewußte
Dinge umgangen werden, wie z.B. im Schichtdienst oder an Bord von Langstreckenjets.
·
Es gibt sogenannte Circa-Annuale Rhythmen:
Viele Bereiche des menschlichen Verhaltens sind jahreszeitenabhängig. So sind
z.B. Geburten und Todesfälle nicht gleichmäßig über das Jahr verteilt, sondern
orientieren sich an der durchschnittlichen Temperatur bzw. der Lichtdauer des
Tages. Dabei finden sich interessante Ergebnisse, die zum Teil den sog.
gesunden Menschenverstand widersprechen. Die allgemeine Sterblichkeit ist
während des Zeitraums des Temperaturminimums in unseren Breiten, also im Januar
und Februar, um 18% höher als im Jahresmittel, Suizide korrelieren positiv mit
der Tageslänge(fast 10% Abweichung vom Jahresmittel) und der Konzeptionserfolg
ist im Mai und im Juni um 7% höher als im Jahresmittel.
·
Es gibt die sogenannten Circa-Diane Rhythmen:
Neben jahreszeitliche Rhythmen besitzen wir auch einen endogenen Tagesrhythmus,
der sich an der Erdrotation orientiert und eine Länge von ca. 24 Stunden
besitzt. Er wird wesentlich durch Licht gesteuert, ein Umstand, der z.B. bei
der Behandlung gesundheitlicher Probleme von Schichtarbeitern Beachtung findet.
Diese "innere Uhr" wird durch Nachtarbeit oder einen Interzeitzonenflug
gestört und benötigt einige Tage, um sich erneut zu synchronisieren ("Jet
lag"). Im Alter verlieren wir die Genauigkeit dieses Steuerungsmechanismus,
Schlaf- und Aktivitätsprobleme und auch geänderte Zeitwahrnehmung alter
Menschen sind das Resultat. Ein Umstand, der durch den Anstieg der durchschnittliche Lebenserwartung immer größere Bedeutung gewinnt.
Nun gibt es auch Rhythmen der Umwelt, die auf soetwas
wie eine inhärente Systemzeit und auf eine Elastizität rückschließen lassen.
Diese beiden Systemeigenschaften sind eng miteinander verknüpft. Werden Systeme
komplexer, so wird die inhärente Systemzeit länger und die Elastizität nimmt,
üblicherweise, ab. Klar und deutlich tritt diese Problematik zu Tage etwa bei
Eingriffe des ökonomischen Systems, dessen inhärente Systemzeit in Wochen,
Quartalen und Jahresabschlüssen gemessen wird, in die Eigenzeit der Umwelt.
Es ist nicht unumstritten, ob große Systeme, wie die Erde selbst, eine
Systemzeit aufweisen. Trotzdem kann man am Beispiel der Atmosphäre dokumentieren,
wie lange das System braucht, um eine Störung sichtbar zu machen. Phänomene wie
der Treibhauseffekt und das Ozonloch sind hinlänglich bekannt. Einige der
Verursacher der heutigen Problematik, vor allem verschiedene Methane und HFCKW, besitzen Verweilzeiten von 50 bis 100
Jahren. Die Verbindungen, die heute die stratosphärische Ozonschicht zerlegen,
sind um 1940 emittiert worden, wobei mengenmäßig deutlich geringere Mengen als
in den 1970er und 1980er Jahren ausgestoßen wurden. Geht man aus von einer eng
gefaßten inhärenten Systemzeit von einem halben Jahrhundert, so wird deutlich,
daß die Schäden unserer "Störungen" um 2030 wirksam und erheblich
größer sein werden. Berücksichtigt man die Einzigartigkeit großer ökologischer
Systeme und betrachtet diese unter ihrer Eigenschaft Elastizität, so ist zu
befürchten, daß der Systemzustand in ein neues Gleichgewicht springen könnte,
das viele Lebensformen ausschließen wird.
Gibt es nun auch eine Zeit des Rhythmus in sozialen Systemen, in
maschinellen, in künstlich beschleunigten Systemen?
Dazu Paul Virilio[5]:
"Da die Bewegung das Ereignis erzeugt, ist die Wirklichkeit kinodramatisch, und der Informationskomplex
hätte niemals seine heutige Macht erlangt, wenn er nicht zunächst eine Kunst des Motors [so der übersetzte Originaltitel
des Buches; B.T.] gewesen wäre, die die andauernde Veränderung der
Erscheinungen zu rhythmisieren vermochte." Rhythmisierung der verändernden
und veränderten Erscheinungen bestand und besteht darin, die nun nie gekannte
Gleichzeitigkeit von Bewegungen, die sonst nur sequentiell, nur nach und nach
durch die Zeit "laufen" konnten, zu synchronisieren und zu
rhythmisieren: und zwar durch die Variation der Beschleunigung.
Aber nicht nur die Kunst der Maschine, auch die der Politik bewirkte
eine neue Zeitorganisation: So war die Einführung eines neuen republikanischen
Kalenders der französischen Revolution nicht nur der bewußte Bruch mit einer
religiösen Langzeit, sondern zugleich der Versuch, die Beschleunigung der Geschichte
an die Kürze der menschlichen Lebenszeit anzupassen; daß daraus ein
qualitativer Wechsel entstand, der sich heute darin zeigt, den menschlichen
Körper "an das Zeitalter der absoluten Geschwindigkeit der elektromagnetischen
Wellen anzugleichen"[6],
scheint evident. Soziale Systeme waren zu Beginn ihrer historischen Entwicklung
primär an natürliche Rhythmen gekoppelt. Die Dominanz der abendländisch
christlichen Kultur beginnt im ausgehenden 15. Jahrhundert und setzt sich bis
zur heute sichtbaren Globalisierung der Beschleunigung fort. Taktgeber für
diese Entwicklung ist eine stetige Beschleunigung der dominanten Systeme, vor
allem aber des ökonomischen Systems, das ja, so Marxens immer noch richtige
Einsicht, im entfalteten Zustand eine Ökonomie der Zeit ist. Die
Ökonomisierung, sprich: Temporalisierung weiter Teile der Gesellschaft ist das
Resultat dieses Prozesses. Die Rhythmik der Wirtschaft ist eine, gemessenen an
ökologischen Systemen, rasante. Tageskurse, Quartals- und Jahresabschluß, dominieren
Pläne und Entscheidungen.
Die Behauptung, daß auch Systeme nichtlebender Art eine Zeit des
Rhythmus in sich tragen, mehr noch: daß ohne Vorhandensein eines künstlichen
Rhythmus' der Beschleunigung die Menschen ihre wissenschaftlich-technologische
Umwelt gar nicht ertragen würden, ließe sich auch plausibel machen mit Norbert
Wieners Kybernetik-Theorie. Norbert Wiener gilt als Begründer der Kybernetik
als wissenschaftliche Disziplin. Er selber bezeichnet die Kybernetik als eine
'Theorie der Kommunikation und der Steuerungs- und Regelungsvorgänge bei
Maschinen und lebenden Organismen'. Mit der Kybernetik will Wiener ähnliche
Forschungsbestrebungen der Nachrichtentechnik, Psychologie, Soziologie,
Biologie und Medizin vereinen. Für ihn steht der Automat im Mittelpunkt der
Untersuchungen. Die Beschaffenheit des Automaten soll dabei keine Rolle
spielen, denn die wichtigste Bedingung, damit zwei Systeme miteinander kommunizieren
können, sei, daß sie sich in derselben Zeitrichtung bewegten: Der moderne
Automat, so Wiener, sei in der gleichen Bergsonschen Zeit wie der lebende
Organismus, und daher gibt es keinen Grund, warum das wesentliche Funktionieren
des lebenden Organismus nicht das gleiche wie jenes des nichttrivialen
Automaten sein sollte. Wichtig ist nur, daß beide in einer nichtphysikalischen,
d.h. einer nichtreversiblen Zeit mit Umwelt
in Verbindung stehen. Wenn nun Wieners These, "Information ist Information,
weder Materie noch Energie. Kein Materialismus, der dieses nicht
berücksichtigt, kann den heutigen Tag überleben" zutrifft, und man davon
ausgehen kann, daß sich eine lebende Einheit, eine ökologische Einheit, eine
soziale Einheit nur soweit ausdehnen, wie eine wirksame Übertragung von Information
reicht: Dann müßte man konzedieren, daß der lebende Organismus resp. Natur und
der moderne Automat resp. Kultur im wesentlichen gleich funktionieren. Da beide
in der gleichen Zeit existierten, gebe es gleichsam keinen Grund zu einer
gegenteiligen Annahme. Der moderne Automat müsse, um dem lebenden Organismus funktionell
ebenbürtig zu sein, lediglich Lern- und Reproduktionsfähigkeit besitzen, zwei
Eigenschaften, die nach Wiener eng miteinander verwandt sind, respektive
wechselseitig voneinander abhängen. Infolge dessen sei eine sogenannte
Zersplitterung besonderer "Dauern" durch eine Temporalisierung der
besonderen Zeit möglich, sei eine Zersplitterung der spezifischen Zeitlichkeit
des lebenden Körpers (aber auch "natürlicher Vorgänge) machbar, sei
schließlich das Problem einer kybernetischen Programmierung der Lebensrhythmen
und der ökologischen Rhythmen lösbar. – Akzeptiert man nicht, daß Welt auf
kybernetische Felder und Wirklichkeit aufs kybernetische Netz reduziert wird,
dann muß man wieder, so hier abschließend Virilio,
die festen Körper, die Formen und Kräfte in Augenschein nehmen, "da die
Überführung der Wirklichkeit in Wellen (mit dem Primat des Informationsbegriffs
über den der Masse und der Energie) darauf zielt, dem Gewaltstreich, der in der Entwertung des konkreten Charakters eines
Ereignisses zum alleinigen Vorteil seiner »Vermittlung« besteht, in allen Bereichen
allgemeine Wirksamkeit zu verschaffen."[7]
Diese Wirksamkeit bestünde darin, nicht mehr nur, bis bisher, Umwelt zu
kontrollieren, sondern die Kontrolle selbst zur Umwelt zu machen ('tragbare
virtuelle Umwelt'). Und das in einer sogenannten Echtzeit, die digital und also
material nicht mehr rhythmisierbar ist, sondern nur noch durch Ausfälle in die
Sphäre des Analogen zu treten vermag.
— Im Folgenden wird es nun um diese beiden Zeiten von System und Umwelt,
von Kultur und Natur, von Automat und lebendem Organismus, von alogrithmisierter und rhythmischer Zeit gehen.
III
Annotativ - mehr können folgende Sätze nicht sein - möchte
ich nun der Frage nachgehen, ob sich das, was man nicht nur in einem musikalischen
Sinne mit dem Begriff Rhythmus beschreibt, erklärt und auch hervorbringt, einsenken
läßt in das systemtheoretisch angesetzte Erklärungsvolumen des Begriffs Temporalisierung,
oder ob Rhythmus für eine besondere Art der Verknüpfung von Weltereignissen
steht, die im Gegenteil sich den avancierten Instrumenten eines analytischen
Naturalismus sperrt und damit zu anderen Ergebnissen in der Wahrnehmung von
Sachverhalten führt, vorallem zu dem Ergebnis, daß
sich die noch herrschende Verhältnismäßigkeit zwischen analytischer Erkenntnis
eines Gegenstandes und dem Gegenstand selbst als gefährlich naiv herausstellt.
Der Gedanke ist, anders gesagt, ob in der von Flusser
so bezeichneten Nulldimensionalität (dazu gleich mehr), in die die menschliche
Technologie vereinzelt einzutreten scheint und in der es als letzte materiale
Distinktion nur noch Punkte, Ereignisse als Operationen und Zeit als
Temporalität zu geben scheint, ob also in dieser Nulldimensionalität das, was
als Rhythmus bezeichnet wird, ebenso komputierbar ist
wie alles andere des Verhaltens, des Imaginierens,
des Handelns und Entscheidens; ob es gar einen Rhythmus der Komputation
bzw. des Komputierens, also des digitalen Auflösens
und Rekombinierens gibt; oder ob das sukzessive
Vereinnehmen menschlicher Emissionen in die komputionale
Rekonkretisierung des Abstrakten eine letzte Chance
verspielt, nämlich die paradoxe Chance eines Vorrangs des Objekts gegenüber der
Form innerhalb der Erkenntnis. Die Chance wäre die, im sozialen
"Material" nichtdekonstruierbare Formen(!)
von Schwingungen, Balancen, Rhythmen aufzufinden oder als fehlende zu rekonstruieren(!);
oder immer dort mit der Gestaltung/ dem Entwerfen von "Welt"
aufzuhören, wo sich kein Rhythmus ergeben kann.[8]
— Anders gesagt: Können Punkte fließen?; lassen sich
Abweichungen rhythmisieren?; sind bestimmte nichtsoziale Zeitrhythmen auf
genuin soziale Relationskomplexe übertragbar? Und: Hat die artifizielle
Gesellschaft (Popitz) selbst Rhythmen der Verknüfung und Auflösung von Zeit anzubieten, die ausschließlich
systemtheoretisch aufschließbar sind?
Oder, nochmals verdichteter gefragt: Wenn das, was Mimesis und
Simulation trennt, der Unterschied ist zwischen Körperlichkeit und
Maschinalität, und dieser Unterschied in der Zeit liegt, und das jeweilige Zeitverhältnis
sich asymmetrisch zum anderen Verhältnis verhält, und man sagen kann, daß Maschinen
zwar Rituale sind, aber Rituale keine Maschinen, obwohl sie eine ähnliche
Funktion haben, nämlich die Formung der Zeit[9]:
Ist dann weiterhin von der Ritualzeit auszugehen, also von dem
"Ritualsein" der Zeit, oder gibt es mittlerweile ein eigenwertiges "Maschinellsein" der Zeit, von der
aus nichtmaschinelle Zeiten referiert werden müssen? Das sind die leitenden
Fragen fürs Folgende.
Unter Rhythmus soll verstanden sein eine bestimmte Form der Beschreibung/Generierung
von Vorgängen der Bewegung und der Intensität, die den regelmäßigen
periodischen Wechsel ganz bestimmter Einheiten (Stoffe, Takte, Bewegungen) so
zu organisieren vermag, als ob die Einheitsbildungen sich implizit aus der
Tätigkeit, der Ereignishaftigkeit, dem Passieren
schlechthin ergeben, ohne dabei Figur oder Form, also explizit zu werden. Der
Rhythmus vertritt, in alten Worten, qua Intensität und Ereignishaftigkeit
der einzelnen Bewegungen das "Ganze" als Teil innerhalb des Ganzen.
Und dies, ohne als Teil identifiziert, rekonstruiert, instruiert werden zu
können, sondern ausschließlich performiert.
Dieser Gedanke läßt sich besser verstehen, wenn man sich die
Überlegungen Michael Polanyis zum Sujet des impiziten Wissens in Erinnerung ruft.[10]
Polanyi unterscheidet das Wissen in explizites und
implizites Wissen. Das implizite Wissen ist dasjenige, von dem wir nicht
wissen, daß wir es wissen; dasjenige, das sich im Akt der Mitteilung offenbart
als Wissen, das wir nicht mitzuteilen wissen; also dasjenige, das sich nur
zeigt, aber nicht sagen, nicht explizieren läßt. Für Polanyi
ist die Wahrnehmbarkeit von Wirklichkeit in Gestalt von Gestalten zu verstehen
"als Ergebnis einer aktiven Formung der Erfahrung während des Erkenntnisvorgangs.
Diese Formung oder Integration halte ich für die große und unentbehrliche
stumme Macht, mit deren Hilfe alles Wissen gewonnen" wird.[11]
Er unterscheidet innerhalb des Begriffs 'implizites Wissen' nun weiterhin zwei
in funktionaler Beziehung stehende Terme, den proximalen
und den distalen Term. In einem Akt impliziten
Wissens wenden wir, so Polanyi, unsere Aufmerksamkeit
vom ersten Term auf den zweiten Term jener stummen Relation. Das erste Glied
der Beziehung erscheint uns nun "näher", das zweite "weiter
weg"; es ist dann der proximale Term, von dem
wir ein Wissen haben, das wir nicht in Worte fassen können.[12]
Rhythmus nun, um vom kognitiven Sujet weg und wieder auf eine eher organisationelle Dimension zu kommen, Rhythmus wäre nun zu
verstehen als die Gestalt, der Modus, die Zeitform, der Taktwechsel, in dem ein
Wissen gelagert ist, das erst die Bedingung zur Aufschließung analysierbaren
Wissens der infrage stehenden Einheit abgibt.
Rhythmus läßt Abweichungen
der Wiederholung zu, nicht jedoch Abweichungen innerhalb der Wiederholung. Es gelingt ein Wechsel,
der nicht mehr über die jeweils kleinsten oder elementaren Komponenten, nicht
mehr über die musikalischen, biologischen, interaktiven usw. Figürlichkeiten
verläuft, sondern über - jetzt wird schlecht formuliert - den Hintergrund der
jeweils an der semantischen, akustischen, chemischen Front stehenden und
prozessierenden Elemente.[13]
Zeit des Rhythmus bedeutet nun nicht, wie zuerst naheliegend, eine Zeit der
Reversibilität, eine des Zyklischen, des Kreises und der Wiederholung, sondern
im Gegenteil: Die Zeit des Rhythmus ist
zu verstehen als diejenige, die sich 'nach vorne bewegt', die zu einem
"Zeitpfeil" werden kann, die derjenigen vielleicht entspricht, die
Ilya Prigogine und Isabelle Stengers
aus der Chaostheorie entnehmen, um sie der physikalischen Theorie der Zeit als
Erklärungsgröße beizustellen.[14]
Erst die Zeit des Rhythmus dynamisiert in einem bestimmten Größenmaß Systeme,
Bewegungen, Stoffwechsel und immaterielle Einheiten jenseits der ebendiese
ausmachenden Komponenten, Elemente, Aktome und läßt
so erst eine Reibung, eine Friktion, eine Irritation, eine Perturbation,
letztlich: eine wirkliche Instabilität zu; nicht im Innenverhältnis der Einheit
oder des Systems, sondern im Außenverhältnis, im Bereich der Ökologie.
Die für diesen Sachverhalt sich anbietenden Begriffe wie
Interpenetration, strukturelle Kopplung, Wechselverhältnis oder Interdependenz
treffen, so die These, nicht richtig zu, da die Zeit des Rhythmus für das in
Frage stehende System oder für die rhythmisierte Einheit selbst nicht zur
Verfügung steht im Sinne einer Zeit, die verbraucht, gebraucht oder auf sich
angewendet wird (wie es bei der operationellen Beobachtung geschieht). Vielmehr
kann es plausibel sein anzunehmen, daß der Rhythmus genau an einer bestimmten
Stelle der Theorie Platz greift, an der Systemtheorie Offenheit verlangt,
nämlich die Stelle, die fragen läßt, ob es eine Einheit/ Unterscheidung gibt
der unterschiedlichsten System/ Umwelt-Beziehungen und der 'Systeme in der
Umwelt anderer Systeme-Beziehungen', die von seiten der Umwelt gebildet/getroffen wird; also ob die
Ökologie von ihrer Seite aus zu einem sog. re-entry der Unterscheidung von
System und Umwelt fähig ist, nun allerdings mit Blick auf eine Art "Protosystemik" der unterschiedlich in Unterschiede
eingesetzten Umwelten von Systemen. Und genau dafür stünde dann der Rhythmus:
Nicht als Modus der Temporalisierung/ Reduktion von Komplexität der Ökologie,
sondern als Modus des Einlasses tatsächlicher ökologischer Komplexität in die
Sondendimensionen von Systemen. Hier verneint die Systemtheorie dezidiert, u.a.
deswegen, da ihr zufolge Komplexität Effekt der Reduktion von Komplexität ist,
also keine Eigenschaft der Umwelt selbst, sondern produzierter Effekt einer System/Umwelt-Differenz,
die nur von der Seite des Systems aus 'erfahrbar' ist. Welt teilt sich nicht
mit, so die Überzeugung; sie läßt sich nur einteilen. – Teilt Rhythmus etwas
von der Welt mit, oder ist er nur Takteinteiler?
IV
Damit sind wir beim zweiten Teil des Titels. Unter Operation wird
verstanden die kleinste und letzte basale Einheit der
Beobachtung von Systemen wie auch von beobachteten Systemen. Operationen sind
die kleinsten Distinktionseinheiten, die im Moment ihres Passierens auch schon
wieder entschwinden. Es sind Punkte, die, wenn aus ihnen Linien, Flächen,
Dreidimensionalitäten geformt werden, als solche Linien, Flächen und
Dreidimensionalitäten wiederum nur beobachtet werden können aus einer
operativen Beobachtung, die aus einzelnen Operationen besteht, die in sich
paradox grundiert sind. Sie müssen nämlich in einer Operation - das Beobachten
- sowohl die Operation Bezeichnung als auch die Operation Unterscheidung
unterbringen, und zwar instantan, was unmöglich ist
und deswegen die permanente Operationalität erst gewährleistet.
Die Betrachtung von unterscheidbaren Einheiten in der Welt (Einzeller,
Fabriken, Seminare, Gespräche usw.) unter dem Blickwinkel der Operationalität will darauf hinaus, daß alle Formen, die
sich in bestimmten Medien (der Sprache, der Luft, der Kunst, der Eiweiße etc.)
zu bilden vermögen, diese die Operationszeit überdauernden Formen nur deswegen
sind, eben weil sie im Rahmen von Evolution immer bis hinunter zu den basalen Elementen, den Operationen, dekliniert werden können.
Das liegt daran, so zumindest ist die Theorie der Autopoiesis
zu verstehen, daß die Organisation von Elementen eines Systems wichtiger ist
für die Aufrechterhaltung eines Systems denn die je besonderen Elemente des Systems selbst. Formen, so könnte man es
vielleicht illustrieren, die resistent sind gegenüber der Ereigniszeit ihrer
sie ausmachenden Operationen, sind wie Kleidungsstücke: Auf das jeweilige Stück
kommt es nicht so sehr an als auf die Gewährleistung des Bekleidens selbst[15].
Kurz: Die Wirklichkeit von geformter Realität gehört dem "Reich" der
wirklichen Möglichkeiten an; nicht Möglichkeiten haben sich den Einschränkungen
der je vorliegenden physikalischen, chemischen, biologischen, soziokommunikativen Realität anzupassen, vielmehr gehört
ebendiese Realität als aktualisierte Potentialität dem Kontingenzkontinent an
und wird das Attribut nicht los, jederzeit wieder deaktualisiert
bzw. repotentialisiert zu werden.[16]
Formen sind intermediär, Formung hingegen ist feste Welt.
Unter Temporalität soll verstanden sein eine unmittelbare Reaktion
eines jeden Systems auf das systemtheoretisch ausgewiesene Problem der Komplexität
der spezifischen Umwelt. Temporalisierung von Komplexität besteht in der
laufenden Wiederherstellbarkeit (Operationabilität) und Wiederherstellung (Relationabilität temporalisierter Operationen) reduzierter Komplexität.
Systeme sind folglich "basal unruhig (wegen temporalisierter Elemente) und strukturell ruhig (wegen relationierter Elemente) und unruhig (wegen re-relationierbarer Elemente) zugleich".[17]
Die Verzeitlichung bzw. Verzeitlichbarkeit
des systemischen Operierens rührt aus dem irreduziblen Komplexitätsgefälle
zwischen System und dessen Umwelt: Systembildung erfolgt immer selektiv. Die Umwelt
des Systems enthält aus der Sicht des Systems immer mehr Ereignismöglichkeiten,
als jemals im System aktualisiert werden können. Es hätte demnach keinen Sinn,
wenn das System das Tempo der Schläge (Tactus)
innerhalb einer bestimmten Ereigniszeit, die die Umwelt vorgibt, erhöhen würde,
also die Bewegung innerhalb einer bestimmten Zeitverbrauchseinheit forcierte,
um der Komplexität der Umwelt gerecht zu werden; auch nicht, wenn es die Zeit
der Verknüpfung einer Operation mit einer nächsten durch die Modulisation des Verknüpfens in Gestalt eines Rhythmus
erheblich reduzierte. Anstelle einer
Rhythmisierung der Operationen im Sinne von: Gliederung der Dauer einzelner
Operationen bzw. Gliederung des Verhältnisses der Dauer einzelner Operationen
sowie des Zeitmaßes, das das Tempo des Verknüpfens der einzelnen Operationen
bestimmt, tritt nun die "Taktung"
der aufeinanderfolgenden Operationen auf den Plan, in eins mit der
gleichsam pausenlosen (rekursiven) Zuweisung diskreter Codewerte auf diskrete
Zeitpunkte.
Ist der Rhythmus zu verstehen als operationable
"Re-Generation" (anstelle einer Re-Präsentation)[18]
der nichtfassbaren Komplexität der Umwelt und damit "Produkt" von
Erfahrung mit einer systemexternen
Unmöglichkeit, so zieht die diskrete Operationsverzeitlichung
jegliche Erfahrungsformen für ihre Umwelt ein und basiert die Gewähr des
anhaltenden Operierens der Verknüpfung von Operationen auf die systeminterne Unmöglichkeit, die, wie
schon erwähnt, in dem Zwang zur Gleichzeitigkeit zweier Operationen besteht,
die nicht gleichzeitig sein können, da nur eine Operation zur Verfügung steht,
aber gleichzeitig sein müssen, und genau durch diese Paradoxie überhaupt erst
die Operationabilität und Beschleunigung eines
Systems entfalten.
V
Wenn es plausibel ist zu unterstellen, daß die letzte große übertechnologisierte Aktion des Menschen, nämlich
absichtsvolle Beschleunigung des Zufalls, nicht grausamer ausfallen muß als die
nun über 400 Jahre dauernde versuchte Ausrottung des Zufalls durch Rigidisierung des Codes sozialer (Funktions-)Systeme, dann
könnte es sinnvoll sein, Prozessualitäten zwischen
Menschen, Menschen und Natur und zwischen Menschen, technischen/sozialen Systemen
und Natur unter dem Blickwinkel des eingehaltenen bzw. nicht eingehaltenen
Rhythmus und nicht mehr unter dem Blickwinkel der sich immer noch naturwissenschaftlich
definierenden Wiederholung zu betrachten. Können, das ist die abschließende
Frage, bestimmte "Körperschaften" nicht des Rechts, sondern des
Sozialen und des Technischen sowie der Stoffwechsels zwischen Natur und
Gesellschaft auf Rhythmus als Modus des Interagierens, Zusammenwirkens und
Prozessierens angelegt werden, oder muß man akzeptieren, daß diese
Zeitorganisationsform nur auf natürliche, biologisch körperliche und
musikalische Zusammenwirkprozessoren gespannt werden kann und für die komplex aggregierten Dimensionen der Gesellschaft keine
vergleichbaren "internen" Grenzziehungen und Markierungen bestehen
außer denen des Kaputtgehens, des Unfalls, des entweder Ein oder Aus, des
operationalen Schließens und der zufälligen Emergenz
von Abweichungen?
Den Rahmen dieser Fragestellung kann man von Vilém
Flusser ableiten.[19]
Nach ihm sei mit dem Umkodieren des Denkens aus Buchstaben in Zahlen ein Dimensionswechsel
vorgenommen worden. Das buchstäbliche Denken fasst den Menschen und die Welt
linear auf, als Prozeß, als ein "Geschehen", das numerische hingegen
fasst beide punktuell, mosaikartig auf, zersetzend und wiederzusammensetzend;
Zusammenhalt weicht dem temporären Zusammensatz; und auch die Tätigkeit des
Auseinandernehmens und Zusammensetzens bildet keine eigene Trace,
kein Teritorium, keinen Eigenwert, keine emergierende Systemqualität: "Mit dem Umkodieren des
Denkens aus Geschichtlichkeit in Systemanalyse und Systemsynthese ist das
Denken abstrakter geworden. Es ist aus der Unidimensionalität
in die Nulldimensionalität zurückgetreten. [...] Das numerische Denken hat zwar
eine der ausgedehnten Welt nicht adäquate Struktur, aber es ist seltsamerweise
trotzdem geeigneter als das buchstäbliche, um die Dingwelt in den Griff zu
bekommen."[20] Zu dieser
Dingwelt gehört jetzt natürlich auch der Mensch. Er wird kalkulierbar als
physische, physiologische, mentale, soziale und kulturelle 'Sache'; er
zerfließt in sich überschneidende Netze von physiologischen, psychischen,
sozialen und kulturellen Relationen. Der Mensch als Subjekt des Kalkulierens,
so Flusser, löst sich im Kalkulieren selbst auf und
befindet sich damit in der vierten Phase seiner kulturellen Entwicklung, und
gleichsam am Endpunkt eines evolutiven Prozesses, der
mit dem Zurückweichen von der Lebenswelt begann (Entstehung des Behandlers und Instrumentenerzeugers), mit dem Zurückweichen
von der Dreidimensionalität der behandelten Dinge sich fortsetzte (Entstehung
des Beobachters und Bildermachens), in das Zurückweichen von der
Zweidimensionalität der Imagination einmündete (Entstehung des Beschreibers und der alphabetischen Schrift), und nun - im
vierten Schritt - angekommen ist: Dem
Zurückweichen von der Eindimensionalität der Schrift (Entstehung des Kalkulators
und der modernen Technik) und dem Eintritt in die Nulldimensionalität. Daher,
so Flusser abschließend, "wenden wir uns sozusagen
um 180 Grad und beginnen, ebenso langsam und mühselig, in Richtung des
Konkreten (der Lebenswelt) zurückzuschreiten. Daher die neue Praxis des Komputierens und Projizierens von Punktelementen zu Linien,
Körpern und uns angehenden Körpern."[21]
Diese neue Praxis, deren Herleitung sicher nicht zufällig an die
Strenge der Hegelschen Konzeption der Herausbildung des absoluten Geistes als
Überwachung eines Reiches vollständig aufgehobener negierter Negationen denken
läßt, schöpft also aus dem Nichts, um das, was geschöpft wird, als Entwurf des
Schöpfens zu kreieren, und kehrt dabei, gleich Baudrillard,
die rhetorische Masterfrage der Philosophie, "Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts"?,
einfach um und wandelt sie ab in eine konstative Aussage
plus Frage: "Es ist nichts. Wie
konstruiert/komputiert man überhaupt (also
jenseits des Bewußtseins) etwas"?
Die Adäquatheit eines solchen Satzes und solch einer Frage mit der
gegenwärtigen Wirklichkeit technophiler
kapitalistischer Gesellschaften hat nun nicht genuin mit der gegenwärtigen
Wirklichkeit zu tun, sondern allenfalls mit der Realisationsmächtigkeit der
modernen Technik, die im Anthropologium
anzusiedelnden Potenzen des Maschinellen, des Logischen, des Virtuellen und
Algorithmischen nun auch reel, d.h. als technologisch
disponible Virtualität zu fügen. Abstraktion, Virtualität sind nichts menschennaturjenseitiges: Sie sind Kultur und Zivilisation,
die erst konkrete individuelle Menschen sekretieren.
Sprache und dann Schrift (ich belasse es bei diesen beiden Trägern) eröffneten
dem Menschen die Möglichkeit, originäre, individuelle und zeiträumlich
abhängige Verknüpfungen und Synthesen anderen mitzuteilen, ohne daß dabei
erforderlich war, daß der die Mitteilung Erfahrende die Erfahrung des Mitteilenden
teilen mußte; teilen mußte er jetzt nur noch die gemeinsame Deixis
des Mittelungsaktes resp. die Grammatik der Schrift. Ausdruck als Modus der
Kommunikation wurde entlastet und dann weitgehend ersetzt durch Zeichen der
Bedeutung; die Kultur des Eindrucks (Einfühlungsvermögen, Empfindungen, Wahrnehmungen;
also als das, was das "Äußere-Spuren-Hinterlassen"
fürs Innere evakuieren konnte) wurde zusehends irrelevant fürs Verstehen als
immer noch monopolartiger Indikator des Erfolgs oder Mißerfolgs einer Kommunikation.
Oder kurz: Die Dynamik des Ausdrucks, des Wahrnehmens als beinahe mimetisches
Korrelat zur Dynamik der Welt wurde zum Stehen (lat.:
stare), zum Verstehen gebracht; der Garant für die
nun notwendige Stabilität (denn erst jetzt konnte soetwas
passieren wie das Fallen) wurde der Buchstabe[22],
der Garant fürs Berechnen der Welt wurde die Zahl, und als Organon
des kein Organ besitzenden Lebens wurde eingesetzt: die Wiederholbarkeit.
Man kann aber auch an die Maschine denken, die seit der frühesten
Zivilisation schon immer als mathematische und symbolische Maschine existierte
und im Laufe der Geschichte in immer gewaltigeren Schüben apparativ wurde.[23]
Kurz: Die behauptete vierte Phase der Nulldimensionalität, der eine Verhältnis-Umwerfwucht
zugeschrieben wird vergleichbar der Wucht des Kapitals im Kommunistischen
Manifest ("Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene
Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und
Bewegung zeichnet die Bourgeoisepoche vor allen anderen aus. Alle festen
eingerosteten Verhältnisse mit ihrem Gefolge von altehrwürdigen Vorstellungen
und Anschauungen werden aufgelöst, alle neugebildeten veralten, ehe sie
verknöchern können"), zeichnet die Geschichte der Freistellung des
freigestellten Tieres namens Mensch von der Natur aus. Hat nun diese
Abstraktionsbewegung, diese expansive Virtualisierung, dieses Distanzräume- und
Entfernungsnähe-Schaffen selbst Rhythmus? Oder besser: Ist Rhythmus in
Information zu übersetzen und als informierter, geplanter, konstruierter
Rhythmus einspeisbar in die Verkehrsflüsse etwa von
Organisationen, in die zwischen Institutionen, in solche zwischen
Funktionssystemen, schließlich einspeisbar in das
Verhältnis zwischen Gesellschaft und Umwelt? — Diese Frage ist so absurd nicht,
wenn davon ausgegangen wird, daß Rhythmus nicht gegenstandsbezogen, nicht
anhand ganz speziell materialer Kreisläufe und Prozesse identifiziert werden
muß, sondern ein Begriff ist im reinsten Sinne des Wortes. Allein die
unzähligen Welttatbestände, die unzähligen Dinge, Einheiten und Vorgänge, denen
Rhythmus unterstellt wird, läßt vermuten, daß Rhythmus keine Eigenschaft von
besonderer Materie/ Energie/ Information ist (wenngleich mit der Kraft, genau
dies zu imaginieren), sondern vielmehr eine
Abstraktion oder zumindest das strukturell Implizite eines Ereignisses oder
Vorgangs. Mit großer Evidenz unterstellt werden der Atmung, der Musik, dem
Herz, dem Tanz, der sportlichen Bewegung, dem Vortrag, dem Beischlaf, dem
Körper, der Seele und dem Geist[24]
Rhythmus[25]; es
gibt mittlerweile Rhythmus-Trainer (entweder als Maschine oder als Therapeut),
eine Unmenge an Forschung über die menschliche Fähigkeit, Rhythmus und Takt in
Musikstücken zu erkennen (mit dem Ziel der automatischen Erkennung von Rhythmen
qua in den musikalischen Frequenzbereich hineinkonvertierbarer konstruierter
Algorithmen), eine immer ausdifferenziertere Beobachtung klimatischer,
geologischer, physikalischer, biologischer und sozietärer Rhythmen, Zyklen,
Schwingungen und Kreisläufe, die nicht esoterisch durchherrscht ist; sowie eine
wachsende Reflexion auf die Bedeutung des Begriffsvolumens "Rhythmus"
in unterschiedlichsten Diskursen[26],
nicht zuletzt den rassistischen und faschistischen.
VI
Dem Nachgehen des Verhältnisses von Rhythmus und Temporalität, ihren
jeweiligen Bedeutungen und Kapazitäten, liegt natürlich eine altbekannte Problemstellung
unter, die in der Geschichtsphilosophie und der Rationalitätstheorie ungefähr
folgendermaßen formuliert wurde: Rächt sich Natur an Gesellschaft und Mensch deswegen,
weil die geschichtliche Emanzipation des Menschen von Natur durch Natur nicht
radikal genug vorangetrieben wurde resp. noch im Status des Projekts weilt
(Projekt der Moderne), oder weil sie zu radikal betrieben wurde? Ist der
Zustand gegenwärtiger kapitalistischer Gesellschaften, in denen sich das Geld,
die Funktionssysteme, letztlich die Gesellschaften selbst von den Menschen zu emanzipieren
scheinen, ein Zustand, der herzuleiten ist aus einem Exzeß der Rationalisierung
der 'Lebenswelt', oder eher aus einer nicht konsequent durchgeführten
Rationalisierung der Lebenswelt, also aus einer "halbierten Vernunft"
(Habermas)?
Man kann im Rahmen einer theoretischen Ökologie und mit Blick auf den
ökologischen Zustand der Gesellschaftsumwelten (und natürlich der Gesellschaften
und kommunikativen Kulturen darin) das Problem auch so variierend formulieren:
Erreichte der "Stoffwechsel" zwischen warenproduzierenden technophilen Gesellschaften und Umwelt deswegen diese
zerstörerische Wucht, die sie hat und noch lange haben wird, weil sich die
Technologie, verstanden als Verstofflichung abendländischer/griechischer
Logik, extrem distanziert hat von den "Eigenwerten" ökologischer
Entitäten (etwa: Kreisläufe, Zyklen, Rhythmen, Interferenzen, Zeitlimits)[27],
oder deswegen, weil Technologie noch zu wenig distanziert von Natur ist, noch
zuviel an Natur in ihrem Operationalismus beinhaltet?
— Auch in dieser Frage geht die Luhmannsche Systemtheorie weiter und verschiebt
die Perspektive, die einen bestimmten Zusammenhang zwischen Technologie und
Natur denken läßt. Ihr zufolge gibt es etwa kein erkenntnistheoretisches Argument,
das auszuschließen vermag, "daß eine Technologie auf Grund einer falschen
Theorie konstruiert wird und trotzdem funktioniert. [...] Es geht bei Technik,
anders gesagt, [..] um kombinatorische Gewinne. Daß es
funktioniert, wenn es funktioniert, ist auch hier der einzige Anhaltspunkt
dafür, daß die Realität soetwas toleriert. Wir
kehren, mit anderen Worten, die übliche Annahme um: Nicht die Technik wird
isomorph zur Natur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils relevanten
Kombinationsraum isomorph zu dem, was man technisch ausprobieren kann."[28]
Mit dieser Sicht ist jeder Prospekt, der eine rücksichtsvollere Technologie und
einen weniger zerstörerischen Umgang der Technik mit Umwelt (umweltfreundliche
Umwelttechnologie) entwirft, theoretisch verunmöglicht. Auch bestehenden und
augenscheinlich umweltfreundlichen Technologien wird mit dieser Sicht die
Möglichkeit genommen, für sich zu beanspruchen, wirklich besser auf Umwelt und
Natur zu passen denn augenscheinlich schädlichere Technik.
Die Umwelt resp. Natur kann von sich aus kein Maß, keine Grenze, keinen
Umschlagpunkt angeben, der Inkompatibilität zwischen ihr und ihrer rekombinierten und aufgelösten Form anzuzeigen vermag; was
in solch einem Falle angezeigt wird, ist nur auf seiten
der jeweils so geformten Technik feststellbar: der Unfall, das Kaputtgehen, die
wuchernde Nebenwirkung, das Nichtstarten.
Was aus dieser Sicht systemtheoretisch gezogen werden kann, ist ein
nichtemphatisches Plädoyer dafür, die sogenannte Abweichungsverstärkung (Devianzamplifikation), zu der alle rekursiv und operational
geschlossenen Systeme fähig sind, wenn nicht zu forcieren, so doch konsequent
weiterzuverfolgen, ohne dabei moralische oder sonstige ökologische Hindernisse
einzubauen. Wenn "ökologische Kommunikation" resp. Kommunikation mit
Ökologie nicht möglich ist, dann, so die Annahme, muß sich das technologische
System an den eigenen Formen und Operationen orientieren; muß sich selbst in Vibration,
in Spannung, in Irritation versetzen. Und dies gelingt durch eine behinderungsfreie,
sprich: von jeglicher Rücksicht auf Natur befreite Exekution der Verstärkung
von Abweichungen als das Oppositionelle schlechthin zur Einhaltung eines
bestimmbaren Kreislauf-Rhythmus.
Abweichungen und Kreisläufe, Abstände und Pausen, Entwicklung und Evolution,
reversible und irreversible Zeit können als derivatiöse
Begriffspaare des Leitpaars Rhythmus und Temporalität verstanden werden.
Gemeinhin wird das Kreisläufige, das Rhythmische, das Zirkulierende der
Ökologie als dasjenige angesehen, das nicht zur linearen, zeitintensiven
Progression von Entwicklungen führt oder maßgebend beiträgt, sondern eher als
Gewähr dafür, daß sich in der 3-Phasen-Evolution (Variation, Selektion,
Re-Stabilisierung) immer wieder eine stabile dynamische Instabilität, ein
unregelmäßiger rhythmischer "Fluß" einfindet, der das Veränderte mit
soviel Zeit versorgt, daß sich auch die Ökologie des Geänderten verändert (und
natürlich vice versa). Garantiert
wurde dies durch die unvorstellbar viele Zeit, die dafür zur Verfügung stand,
man kann auch sagen: durch den sich ergebenden Rhythmus der Abweichungszeit der
Ökologie der Systeme[29].
Die Zeitextension ist Effekt des Umstandes, daß die Ökologie der Systeme selbst
nicht als System organisiert ist, sondern im wahrsten Sinne Umwelt ist. Die
Zeitintensität temporalisierter und sequentialisierter Veränderungen resp. verstärkter
Abweichungen ist dagegen Effekt der Geschlossenheit des zur Auflösung und
Rekombination von Wirklichkeit befähigten Systems. Dieser Unterschied ist, so
denke ich, maßgebend für die Bestimmung des Verhältnisses von Rhythmus und
Temporalität, auch wenn die Kybernetisierung systemtheoretischen Beschreibens
keine Polarität "hier Leben, dort Maschine" innerhalb des
Verhaltens-Feldes zuläßt.
Um das Annotieren abzuschließen und dem vielfach oppositionellen Gegenüberstellen
von Rhythmuszeit und Operationstemporalität auszuweichen, möchte ich die
folgende Annahme machen, nämlich: daß die stabile Form der ménage à trois (Körper, Geist, Gesellschaft)
nicht nur temporal bzw. historisch eine intermediäre Form ist, sondern auch
material bzw. evolutionär. D.h.: Dieser Zustand der Ungeteiltheit von Körper
und Geist (gemeinsamer Träger: Mensch), dieser Zustand der Ungeteiltheit von
Natur und Gesellschaft (gemeinsamer Prozeß: Stoffwechsel), und dieser Zustand
der Ungeteiltheit von "Individuum" und Gesellschaft (gemeinsamer Horizont:
Lebenswelt)[30] sind
Gestalten eines vorübergehenden Prozesses von nun reflexiv gewordener Evolution,
der ebenfalls vorübergeht. Evolution mutierte Geschichte; Geschichte (Geist
und Gesellschaft) kommt an ihre Grenze, den Zeitraum der natürlichen Evolution
gemeinsam mit Natur und Körper teilen und sich reproduzieren zu müssen[31];
zugleich kommen Natur und Körper an ihre Grenze, im "alten" Herr-Knecht-Modus (Herrschaft) und Knecht-wird-Herr-Modus
(Selbstzucht, Selbstdisziplin) ausgebeutet, deformiert und eliminiert zu
werden; Geschichte beginnt, Evolution zu produzieren, nicht verstanden als
Bedeutung der Geschichte der Produktion von Welt für die natürliche Evolution
des Lebendigen auf der Erde, sondern als radikal anderer Modus der Grundlagen
des Selegierens, Variierens und Kondensierens
evolutionärer Prozesse; die von Geschichte produzierte Evolution (zweiter
Ordnung?) koppelt den Geist, den Körper und die Gesellschaft zunehmend ab vom gemeinsamen
Bedingungsensemble der ersten Evolution, und schafft jeweilige, wohl nicht
nur operational abgeschlossene "Wohineins",
in denen jeweils für sich Körper, Geist und Gesellschaft ihre Selbsterhaltung
und Selbstproduktion autopoietisch wiederholen.
Geistloser Körper (Kreatur), körperloser Geist (Dämon), menschenfreie
Gesellschaft (System), gesellschaftsloser Mensch (Monade) - auf eine Art technologischer
Realisation emergenzfähiger "Entmischung"
der bis dato evolutions- bzw. geschichtstheoretisch als verwoben und
unselbständig beschriebenen Wirklichkeitskomponenten namens Natur, Geist,
Körper und Gesellschaft scheint also die Evolution der Evolution, die historische
Produktion von Evolution als Fortsetzung der Evolution von Geschichte,
hinauszulaufen.
Nichts, wenn diese nicht ganz disziplinlose Annahme plausibel würde,
wäre dann dringender zu erreichen denn die Verwortwörtlichung des Pausemachens,
des Aufhörenmachens, des Entschleunigens.
Und das erfordert eine recht ungewohnte Präzision der Ambivalenz, der
"Unreinheit", denn man kann, abstrakt gesagt, nicht ernsthaft
unterlassen, wenn nicht auch das Unterlassen unterlassen
wird. Alles zu unternehmen, um zu unterlassen (zu pausieren, aufzuhören, zu
entschleunigen), perpetuierte nur den Exzeß der Zeit-Produktivität in ihr
intendiertes Negatives hinein. – Diese präzise Ambivalenz, die vielleicht in abstrakter
Form die Selbstattraktion des vermeintlich homöostatischen
Wachsens und Schrumpfens aufbewahrt, kann man, soweit ich es sehe, bisher nur
hören, etwa bei den letzten Stücken Luigi Nonos, bei
Mathias Spahlinger, Arvo Pärt, Jakob Ullmann, John Oswald.
Wer nicht mehr "verarbeiten" kann, muß hören.
[1] Jean Baudrillard, Das perfekte Verbrechen, München 1996, p58.
[2] "Nicht zufällig ist Globalisierung zum Wort des Jahres 1996 gewählt worden. Das Schrumpfen des Welt-Raumes, selbst Jules Verne hätte uns für verrückt erklärt, hätten wir ihm von der Welt des ausgehenden 20. Jahrhunderts berichtet, bringt uns ins Staunen"; so in einem explizit namenlosen Hypertext mit dem Titel Crossing Boundaries – which Boundary is next im Internet: http://www.-isc.unisg.ch/essay/ess27007/heideloff.html.
[3] Ders., Zeit-Verhältnisse: Über die veränderte Gegenwart von Zukunft und Vergangenheit, in: W. Zacharias (Hg.): Zeitphänomen Musealisierung. Das Verschwinden der Gegenwart und die Konstruktion der Erinnerung, Essen 1990, p40-49, hier: p48.
[4] Das Folgende bezieht sich auf einen Hypertext von Thomas Wuchterl und Claus Faber mit dem Titel Zeit. Ökonomie. Ökologie. (http://www.wu-wien.ac.at/usr/h86/h8653026/uni-docs/ Zeit.html)
[5] Ders., Die Eroberung des Körpers. Vom Übermenschen zum überreizten Menschen, FFM 1996 (1993), p31.
[6] Virilio, a.a.O., p113.
[7] Virilio, a.a.O., p143.
[8] Siehe nur als Quasi-Standard Oskar Negt, Alexander Kluge: Öffentlichkeit und Erfahrung, FFM 1972, p44f.
[9] Siehe Dietmar Kamper, Mimesis und Simulation. Von den Körpern zu den Maschinen, in: Kunstforum International, Bd.114/ 1991, p86-94, hier: p86.
[10] Derselbe, Implizites Wissen, FFM 1985 (1966), p14 ff. Man kann aber auch an Wolfram Hogrebes Erinnerung an das Feld der Vorahmung, Ahnung und der Formen gesteigerter Gegenwart denken (ders., Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996).
[11] Polanyi, a.a.O., p15.
[12] Ein Beispiel: Versuchspersonen bekommen eine große Anzahl sinnloser Silben gezeigt, wobei auf das Erscheinen einiger davon ein elektrischer Schlag erfolgte. Bald zeigten die Versuchspersonen Symptome der Antizipation des Stromstoßes beim Anblick der 'Schocksilben'; auf Befragen mochten sie diese Silben nicht anzugeben. Sie hatten herausbekommen, wann ein Schlag zu erwarten war, konnten aber nicht sagen, was sie zu dieser Erwartung veranlaßte. Sie hatten also ein Wissen erworben ähnlich dem, das wir haben, wenn wir eine Person mittels Zeichen erkennen, die wir nicht anzugeben wissen (Polanyi, a.a.O., p17).
[13] Die Annahme ist, daß eine außergewöhnlich verdichtete Information in impliziten, nichtfigürlichen, hintergründigen "Formen" steckt, die sich der analytischen Explikation sperren, nicht aber der Exekution. Sie können nur ausgeführt, nicht aber als abstrahierte in andere Kontexte eingeführt werden.
[14] Dieselben, Das Paradox der Zeit. Zeit, Chaos und Quanten, München 1993. Eine ähnliche Achse wie zwischen berechenbarer und unberechenbarer Zeit (reversibler und irreversibler Zeit) versucht Wolfgang Kaempfer zu entwerfen in seinem Buch "Die Zeit und die Uhren". Mit einem Beitrag von D. Kamper, FFM/Leibzig 1993; dort unterscheiden sich Verkehrszeit und Geschichtszeit voneinander.
[15] Manfred Fassler, Umgebungen postheroischer Körper, in: Frithjof Hager (Hg.): KörperDenken. Aufgaben einer Historischen Anthropologie, Berlin 1996, p222-231, hier: p222).
[16] An dieser Theoriestelle hilft einzig nur noch Evolutionstheorie mit ihrem Schema Variation, Selektion und Restabilisierung, um wenigstens einsichtig werden zu lassen, warum soviele Formen von Realität (vegetatives Nervensystem, Eiweiße, Körperlichkeit des Lebens usw.) sich immer und immer wieder, manche seit Millionen von Jahren, ergeben, ohne Veränderungen anzunehmen. Siehe: Ernst von Glasersfeld, Wissen, Sprache und Wirklichkeit. Arbeiten zum radikalen Konstruktivismus, Braunschweig/Wiesbaden 1987, p188.
[17] Detlef Krause, Luhmann-Lexikon. Eine Einführung in das Gesamtwerk von Niklas Luhmann, Stuttgart 1996, p120f.
[18] Man könnte hier auch den von Gotthard Günther benutzten Begriff der Intersection denken, der den Sachverhalt zu bezeichen hat, daß eine gemeinsame Benutzung von Elementen durch verschiedene Systeme passiert (konträr dazu, als Abgrenzung zum Begriff der strukturellen Kopplung, siehe Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p31). Aber hier geht es ja gerade darum, daß nicht verschiedene Systeme gemeinsame Elemente benutzen, sondern daß im System die für das System unerreichbare und im wahrsten Sinne des Wortes nichtvorhandene Umweltkomplexität zuhanden wird. Aus Sicht der Systemtheorie ist das Unsinn, denn, so Luhmann (1990, p278), "das charakteristische Merkmal eines rekursiv operierenden Systems ist die Sensitivität für den Effekt der eigenen Operation und nicht nur, ja faktisch immer nur in extrem geringem Ausmaß, die Sensitivität für Ereignisse der Umwelt."
[19] Derselbe, Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998, p15 ff.
[20] ebenda, p15f.
[21] dito, p21f.
[22]
Bis auch in dieser Stabilität des Buchstabes das permanente Bewegen und sich
dauernde Verhalten der Buchstaben zueinander (als eine Art neue, semiotische Deixis) als eigentliche Motoren der Sprache und der Schrift
promotet wurden (etwa durch Saussure und Derrida),
brauchte es lange.
[23] Eine symbolische Maschine "gibt es nicht wirklich, sondern nur symbolisch. Sie ist kein Apparat bestimmter physikalischer, z.B. mechanischer oder elektronischer Wirkungsweise, der eine bestimmte Stelle in Raum und Zeit einimmt, sondern diese Maschine existiert nur auf dem Papier. [...] Jeder Vorgang, der formal beschreibbar ist, kann als Operation einer symbolischen Maschine dargestellt und - im Prinzip - von einer wirklichen Maschine ausgeführt werden"; Sybille Krämer, Symbolische Maschinen. Die Idee der Formalisierung in geschichtlichem Abriß, Darmstadt 1988, p2f. Die heutige, in Aussicht gestellte Vernetzung von wirklichen Maschinen, die bestimmte Stellen in Raum und Zeit einnehmen, sollen die unterstellte Fähigkeit haben, die Darstellung der Wirklichkeit auszuführen, also die Wirklichkeit auf dem Papier resp. Monitor existent sein zu lassen.
[24] Gemäß der Biorhythmuslehre dem Körper mit einer Zyklusdauer von 23 Tagen, der "Seele" von 28 Tagen und dem "Geist" von 33 Tagen. Ein vierter mit der Dauer von 38 Tagen kam noch dazu; und zuletzt soll der Schweizer A.J. Dietziker einen sogenannten "Interferenz-Rhythmus" entdeckt haben, der die drei Hauptfunktionsbereiche Stoffwechsel (Bauch), Kreislauf (Brust) und Nerven (Kopf) steuert und zudem enorm erkenntnisträchtig ist.
[25] Man kann weiterfragen: Gibt einen Rhythmus des Tötens, des Verzweifelns, des Analysierens, des Zerstörens? — Diese Fragen laufen darauf hinaus, Rhythmus nicht per se als Ausweis des Lebendigen, des Lebenwollens zu deuten, sondern indifferent zu halten gegenüber der Frage, ob Rhythmus eine Eigenschaft des Lebens oder des Sterbens ist.
[26]
Siehe z.B. die sehr instruktive Studie von Michael Golston,
"Im Anfang war Rhythmus". Rhythmic incubations in discourses of mind, body, and race from
1850-1944; im Netz
unter
(http://shr.stanford.edu/shereview/5-Sup/text/golston.html; last update: 1996).
[27] Man kann es auch so sagen: Mythologie, verstanden als Sammelbegriff voranalytischer Weltinbeziehungsetzungsmuster, versuchte, den Geschichten und Erzählungen der verschiedenen Naturen zu lauschen; Szientologie versucht, die Natur der verschiedenen Naturen zu berechnen (zu zählen, zu formalisieren).
[28] Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.
[29] Die Bedeutung von Pausen in Bewegungen, deren Zeitform rythmisch geordnet ist, kann nicht hoch genug eingeschätzt werden.
[30]
Hier hat die soziologische Systemtheorie bisher am radikalsten Teilung, also
Differenz eingeführt und operational eine solche Wucht an Ungeteiltheit bzw.
Unteilbarkeit von Individuum und Gesellschaft eingeführt, daß gar nicht mehr
ersichtlich scheint, inwieweit die Teilungen noch irgend priviliergierten
Bezug zueinander (die Frage nach der Einheit der Differenz) besitzen können.
[31]
Die Grenze macht sich sprachlich darin deutlich, daß das Hauptwort zur
Beschreibung des Artifiziellen (das ja mit der Natur und dem Körper zusammen
im Gehäuse der materiell-physischen Bedingungen sitzt), nämlich das auf
lebende Materie bezogene Wort Wachstum - Angriffsziel nach- und
neomarxistischer Kritik der letzten 20 Jahre -, heute entweder nur noch für
Krebs, Epidemien, Einsamkeit und Angst einigermaßen plausibel gilt, oder dort,
wo es um die Raten von körperfreien immateriellen Produkten (Bildern) resp. um
die Produktion von körperlichen, materiellen Simulationen von Körper und
Materie (Bio-, Gen- und Reproduktionstechnik) geht. Die Rede von der sog. Informationsgesellschaft,
vom Wissen als die Produktivkraft
meint nichts anderes: Innerhalb der forcierten Internationalisierung des
Kapitals bleibt den G7-Kerngesellschaften nichts anderes übrig, als in der
Abstraktion und "Emanzipation" von Natur wieder einen Schritt weiter
zu gehen. Neben der Verwertung der natürlichen Rohstoffe und der Synthetisierung
von Stoffen tritt nun die kapitalistische Verwertung des menschlichen Körpers
resp. die Verwert- und Kopierbarkeit genau anweisbar
gewordener körperlicher Wachstumsprozesse. "Das bedeutet aber zum einen
die Verlängerung des Konkurrenzkampfes bis in die organische Natur des
Menschen, zum anderen die Aufhebung aller denkbaren 'natürlichen' Schranken der
Kapitalakkumulation" (Rayk Wieland, Schöner klonen, in: konkret 4/1997,
p53).