Invasive Introspektion
Bernd Ternes
Auszug aus der Dissertation
"Dabei hatte alles ganz schlecht begonnen. Was ich hochtrabend als
'Forschungen' bezeichnete, war das Streben nach einem gewaltigen, in sich
unbestimmten Wissen, das jenes bescheidene Gepäck, welches mir meine Studien an
die Hand gegeben hatten, ergänzen sollte. In Wahrheit war es bloß Vagabundentum. Welche neuen Gebote ich mir auch immer
erfinden mochte, stets trieb mich weniger die Lust am Wissen als die Furcht
vorm Unwissen, und es kam nichts dabei heraus als ein ängstliches Springen von
einem Gegenstand zum anderen. Keiner wurde ausgelassen. Stoße ich heute etwa
beim Aufräumen unvermutet auf manche der Zettel, auf denen ich die Titel und
Daten meiner damaligen Lektüre aufgezeichnet habe, so starre ich sie lange
verdutzt und ungläubig an: welch eine absurde Gefräßigkeit hat mich nur getrieben,
so viele Bücher zu verschlingen, von denen mir heute keine Erinnerung geblieben
ist, nicht einmal die, sie früher einmal in der Hand gehabt zu haben?"
Marcel Bénabou, Warum ich
keines meiner Bücher geschrieben habe, (dt.), FFM 1990, p52
"Die
befristete Täuschung ist unser Teil."
Peter Fuchs, Die Umschrift, FFM 1995, p193
1) VORSÄTZE ZUM
STAND DES NACHDENKENS
A) Das Dunkel im Rampenlicht
Rainald Goetz' Wut fasst die Lage der Zeit und die der Geschichte (oder
vielmehr des Erinnerns?) des okzidentalen (oder verwissenschaftlichten)
Menschen im Singular sehr gut zusammen: Das Problem ist die extreme
Materialferne des theoretischen Produkts der Analyse des Materials. Unsere
Zeit ist die Zeit der (wenn man so sagen darf) Götterdämmerung ebendieser
Ferne des Produkts zum Material, aus dem es besteht. Aber die Frage ist:
Besteht das Produkt noch aus Material? Und: Gibt es noch Material jenseits des
Produkts (der Analyse, der Abstraktion, der Synthese)? Oder, diesen Aussageradius
teilsystemspezifizierend (hört man schon hier
Luhmann?): Stimmt es, daß 'Bewußtsein
für die Wissenschaft nur ungeordnetes "Rauschen" ist, unerläßlich zwar, aber auch nicht mehr'?[1] Allenthalben kreist die Erinnerung,
kreist die Aufarbeitung um diesen monolithischen Entfernungsabgrund, beinahe
so wie der Befreier Prometheus', der, immer wieder zurückgeworfen von der
Welle des Gestanks, die Prometheus und der zugeschissene
Fels verursachten, weitere dreitausend Jahre das Massiv umkreiste. Der
Effekt dieses Umkreisens und Aufschiebens der Befreiung: Gewöhnung, und zwar
dynamische. Denn der Gestank nahm zu in dem gleichen Maße, wie der Befreier
sich an ihn gewöhnte.
Freilich wird diese Gewöhnung an den Gestank (d.i.
das selbstproduzierte Elend einer sich mittlerweile
nur noch kapitalistisch organisierenden technologischen Zivilisation), wird
diese wachsende annährungslose Vertrautheit mit dem geschichtlich Ausgeschiedenen,
wird schließlich die endlos benötigte und deswegen nie mehr endlose Zeit, um
ans zu Befreiende (als letzter Mythos) zu gelangen, nur dann einsichtig,
wenn klar ist, daß keine Zeit mehr zur Verfügung
steht für einen Zeithorizont, der die Ignoranz deckt, daß
der, der ausscheidet, nicht wahr haben will, daß er
der ist, der ausgeschieden wird.
Zuletzt hat noch Peter Furth eine prägnante
Enttäuschungslandkarte angefertigt für die Zeit des nicht abzusehenden Aufenthalts
in dieser Wüste zwischen Erwartung und Gewärtigung, die vorallem
für die Utopieamputierten enorm gewachsen ist. Seine nachtotalitäre
Ideologiekritik hält fest an der Ambivalenz des Ent-täuschens,
also fest an einem Begriff der Approximation: nicht mehr in Richtung Revolution,
auch nicht mehr in Richtung Wahrheit, sondern in Richtung des Begreifens der
eigenen Befindlichkeit, das sich nicht wieder als Material für eine Verrechnung
des Jetzt angesichts zukünftigen Heils einspannen läßt.
Er schreibt: "Am Ende dieses Jahrhunderts nun ist die Erfahrung nicht mehr
zurückzuhalten, die besagt, daß zur Rationalität
Angst und Schrecken gehört und Grausamkeit, daß sie
nicht hell und durchsichtig, sondern dunkel ist, daß
sie nicht zwanglos den Menschen begegnet und sie leicht mit sich nimmt, sondern
daß sie unwiderstehlich wie ein Schicksal ist. Das
können wir heute, am Ende des Jahrhunderts der totalen Mobilmachungen durch
eine sicherlich massenhafte, unscheinbare, jedem Nachdenken widerstehende
Erfahrung wissen". Und: "Was ist geschehen und was geschieht, wenn
die Erinnerung dem sich Erinnernden seine Fremdheit mit sich zeigt?" Und
schließlich: "[...] wenn wir uns als Gewesene nicht verstehen, können wir
dann noch vernünftigerweise uns als Werdende verstehen wollen? Ein Rationalismus
ohne die Anerkennung seiner dämonischen Schattenseiten erzeugt Obskurantismus
und, schlimmer, Depression"[2]. Wem der letzte Satz zu hart
klingt, dem bietet Cornelius Castoriadis eine
beinahe optimistische light-Version an[3]: "Die Unmöglichkeit, aus
den begrenzten Entwicklungstendenzen einen einheitlichen Determinismus des
Gesamtsystems Geschichte zu konstruieren, ist nicht aus der Komplexität der
sozialen Materie zu erklären, sondern aus dem Wesen des Gegenstands
Gesellschaft: das heißt aus dem Umstand, daß das
Gesellschaftliche (oder Geschichtliche) als wesentlichen Bestandteil
Nicht-Kausales enthält".
B) Das verspielte Ausleuchten
von Welt
Es geht also um Anerkennung, daß man
geschichtlich verloren hat und jetzt in der frei flottierenden
Zeit verloren ist, genauer: daß die, die auf das
Pferd gerichteter Zeit setzten, um mittels Entzauberung des Heiligen
ebendieses Heilige spurlos im Profanen zu versenken, und daß
die, die glaubten, der innerweltliche Zukunftshorizont der Moderne könne die
vertikale Ausrichtung auf Transzendenz eben in dem Maße bewältigen, wie der
Zukunftshorizont diese Ausrichtung horizontal aufhebt (nämlich durch
beständige Vervollkommnung des Wissens, des Gemeinwohls, der Naturaneignung),
verloren haben und verloren sind (so jedenfalls sieht es Giacomo Marramao). Es geht um Anerkennung der Nötigung, all jene
Begriffe abzuschreiben, die soviel soziale Symbolik vermittelten, daß völlig aus dem Sinn geriet, wie abhängig sie an den
Mythen des Fortschritts und der Revolution, an der Futurisierung und der Entwerfbarkeit der Geographie und der Historie befestigt
waren, aber auch aus dem Sinn geriet, daß das
Entfernen der Vielfalt und Widerständigkeit des Materials (der Natur, der
Geschichte, des Selbst) mittels der Materialferne seiner abstraktifizierenden
Zurichtung, also mittels der Realisation des Abstrakten, die gefährlichste
praktikable Illusion war, die sich die Moderne leisten konnte. Die Effekte sind
heute, d.h. seit gut einem viertel Jahrhundert, von Tag zu Tag immer
deutlicher zu besichtigen (man wandert sozusagen via TV-Sonde in den eigenen
verfaulenden Röhrensystemen innerer und äußerer Natur umher und liegt doch die
ganze Zeit auf dem Operationstisch). Das Vernichtete der Ökologie, der Sinne,
des Körpers, der Verständigung und des Artikulationsvermögens ist alles
andere als Abfall und nichtig, will sagen: alles andere als endgültig
kontextbefreit und auf Sonderdeponien, in Gewaltausbrüchen, in Talkshows und
auf dem Arbeitslosenamt abladbar.
Das Gegenteil scheint der Fall: Man kommt beinahe nicht umhin, den der ziel-
und zweckgerichteten technologischen Zivilisation inhärenten Ausscheidungen
und Defekten der Natur, der Gesellschaft und der Psyche eine Art konspirative
Organisiertheit zu unterstellen, so als gäbe es nicht nur eine Akkumulation
des Abfalls, sondern auch eine Emergenz, gar eine
Synthese desselben (manche sprechen schon von Rache resp. von einer negativen
Gleichzeitigkeit des eindimensionalen Weltsystems[4]). Fakt ist, daß
die gesellschaftliche Exkorporation des Todes seine höchste Stufe erreicht hat:
die planetare Dimension. In dieser drängeln sich die 'Defekte' mittlerweile
titanenhaft. Dieser Dimension kommt keine Analyse etwa des Umbaus der Industriegesellschaft,
keine Analyse der Reorganisation der Beziehung zwischen Produktivkraft und
Produktionsverhältnis, auch keine Analyse emanzipativer
Potentiale in der Theorie als Voraussetzung der Entfaltung dann empirischer
mehr nach (auch Castoriadis' reformulierte
Praxisphilosophie nicht); desweiteren auch keine
Analyse des Projekts einer Umschrift psychischer Welten in rein kommunikative,
wie es Peter Fuchs anstrebt. Dieser Befindlichkeit der inneren und äußeren
Ökologie der Menschengattung kann nur noch die Frage gerecht werden, die für
die Möglichkeit des Austritts aus der wissenschaftlich-technologischen Kultur
Antworten sucht, einer Kultur, die sich via des "absoluten Geistes"
namens Weltmarkt über alle menschlichen und nichtmenschlichen Gesellschaften
der Erde ausgebreitet hat und, an ihrem logisch anderen Ende, zur globalen
Rationalisierung auch der natürlichen Materie führte, deren ihr zugefügten
Pathologien in ihrer Vernichtungsgewalt die letzte große Einheit der Gattung
ausmachen (und dabei in Jahrhunderten aufgebaute und "gewachsene"
Differenzierungen kultureller, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Art mit
einem Schlag zur Indifferenz verdammen; mit der zur Zeit anhaltenden
Renationalisierung, Reethnisierung etc. erleben wir
das wilde Umherzucken eines angeschossenen Tieres, auf dem 'Europa' sitzt).
C) Die Laterne
kommunikativer Rationalität: Wem spendet sie Licht?
Was aber ist mit der kulturellen Moderne, auf deren lebensweltliches Rationalitätspotential
die Theorie des kommunikativen Handelns setzt? Was setzt sie dieser planetaren
negativen Identität, dieser geschlossenen Rache des Ausgeschiedenen entgegen?
Aus der Sicht kommunikativer Vernunft[5] sind ja die
kognitiv-instrumentelle Verfügbarmachung einer
objektivierten Natur/Gesellschaft ebenso wie die zweckrationale
Selbstbehauptung im Gewande subjektiver Selbstverwirklichung bloß abgeleitete
Momente, die sich gegenüber einer durch kommunikative Strukturen geprägten
Lebenswelt, gegenüber der Intersubjektivität von Verständigungs- und
Anerkennungsverhältnissen einfach, dafür aber unglaublich rigide
verselbstständigt haben.[6] Subjektzentrierte Vernunft, so
Jürgen Habermas, ist Produkt einer Abspaltung und
Usurpation, und zwar eines gesellschaftlichen Prozesses, in dessen Verlauf
ein untergeordnetes Moment den Platz des Ganzen einnimmt, ohne die Kraft zu
besitzen, sich die Struktur des Ganzen zu assimilieren. Dieses Vereinnehmen
durch eine verdinglichte und verdinglichende Subjektivität sei nun nicht, wie
Horkheimer und Adorno ebenso wie Foucault
fälschlicherweise annehmen, genau der irreversible weltgeschichtliche
Hauptvorgang, so wie wir ihn heute allenthalben besichtigen können, denn: Die
tiefe Ironie dieses Vorgangs bestehe darin, so Habermas
weiter, daß das kommunikative Vernunftpotential in
den Gestalten moderner Lebenswelten erst einmal entbunden werden mußte, damit die entfesselten Imperative instrumenteller
Vernunft auf die verletzte Alltagspraxis zurückwirken und dabei dem
Kognitiv-Instrumentellen zur Herrschaft über die unterdrückten Momente praktischer
Vernunft verhelfen konnten. Das kommunikative Vernunftpotential wird also, so
Habermas, letztlich im Verlaufe der kapitalistischen
Modernisierung sowohl entfaltet als auch entstellt. Mit diesem 'sowohl als
auch' sei also ein Stratum vorhanden, das nicht
durch die auch noch so filigranen Infiltrationen instrumenteller Rationalität
kontaminiert ist. Es gelte, die Seite der blockierten, der gehemmten
Entfaltung stärker ins Auge zu fassen und die formalpragmatischen Bedingungen
zur Ermöglichung einer Entfaltung kommunikativer Vernunft in der
herrschaftsfreien Rede zu eruieren. Das Moment einer nichtgewaltsamen, einer
transzendentalen Vernunft liege im Substrat der formalpragmatischen
Verständigungsbedingungen der Menschengattung geborgen. Das Elend der
gesellschaftlichen Vergangenheit und Zukunft sei demgemäß nicht auf ein
Zuviel an Rationalität, sondern auf ein Zuwenig bzw. auf eine halbierte Rationalität
und deren Gestaltwerdung rückzuführen. Da nun das Gewebe kommunikativer Handlungen
sich aus lebensweltlichen Ressourcen speist und gleichzeitig das Medium
bildet, durch das sich die konkreten Lebensformen reproduzieren, behält die
kommunikative Vernunft konstitutiv einen reagierenden bzw. einen erwidernden
Charakter. Ihre Eigenart ist es, sich bei Übergriffen durch eine systemische
Rationalität nicht widerstandslos zu ergeben (vorausgesetzt, man hat sie
weiter entfaltet); sie ist jedoch nicht in der Lage, selbst expansiv auf die
schon systemisch durchrationalisierten Bereiche instruktiv einzuwirken: Ihr
bleibt dafür nur die negative Dialektik in Gestalt expansiv zunehmender
Pathologien der kulturellen, kommunikativen und sozialisatorischen
Reproduktion, durch die symptomatisch angezeigt wird, daß
etwas in der Dosierung der Handlungs- und Verständigungskoordination schief
läuft. Kurzum: Die Theorie des kommunikativen Handelns weist dem verständigungsorientierten
Handeln die Vermittlungsfunktion zu, durch die die vernünftige Praxis als eine
in Geschichte, Gesellschaft, Leib und Sprache sich konkretisierende Vernunft
einzig begreifbar werden kann. Übergehe man diesen Ort der Vermittlung
entweder rückwärts mittels eines neuen Aufgußes der
Subjekt-Objekt-Beziehung, in der es nur Aneignung und Enteignung gebe, oder
aber vorwärts mittels eines endgültigen Ablassens vom Begriff Gesellschaft und
dem Anerkennen einer nicht mehr zu fassenden Hyperrealität, oder schließlich abwärts
mittels einer Theorie, die gar nichts mehr mit dem Begriff Vermittlung
anzufangen weiß, sondern nur noch mit operational geschlossenen, sich autopoietisch reproduzierenden, sich
"gegenseitig" irritierbar haltenden selbstreflexiven Systemen arbeitet,
wie es etwa Luhmann tut, dann bleiben, so muß man Habermas verstehen, nur noch die von Furth
angeführten Alternativen: Obskurantismus und Depression.
Das Ablassen vom Begriff Arbeit als Rahmengeber gesellschaftlicher
Praxis und das Einschwenken in die Bahnen der soziokulturellen, der
symbolischen Reproduktions- und Praxisbedingungen mag tröstlich erscheinen
und manchem Ausblick verschaffen für die mühevolle Weiterarbeit an der
Vervollkommnung des Projekts der Moderne. Man muß
auch nicht wieder und wieder den polemischen Wortwechsel wiederholen, wer nun
das emanzipative Potential der Moderne verrät und dementsprechend
unterkomplex argumentiert: Derjenige, der noch auf eine essentielle Differenz
zwischen unabgegoltener Vernunft der Moderne und der Gestalt der Moderne
pocht, oder derjenige, der in der gestalteten Moderne deren Vernünftigkeit als
zu sich gekommen (und damit nur noch Desaster) sieht. Sieht man es für heutige
Verhältnisse vielleicht etwas außer der Mode so, daß
die Moderne letztlich immer noch am besten als eine ökonomische (also als eine
noch kapitalistische) Gesellschaftsformationszeit begriffen wird[7], ohne allerdings das
Eigenverhalten, den Eigenwert und den Systemcharakter der soziokulturellen Re-
und Produktion in Abrede zu stellen, aber auch nicht ihre Begrenztheit als Erklärungs-
und Verstehensgröße außer Acht zu lassen[8], dann kommt man, vielleicht
etwas grobschlächtig, zu anderen Ansichten. Etwa zu der, daß
alle Hürden, die der Prozeß der kulturellen Moderne
aufstellen konnte oder - vorsichtiger ausgedrückt - aufstellen könnte, um das
Übereinanderherfallen auf den Markt zu beschränken, als längst überwunden zu
gelten haben: Dies nicht, weil diese Hürden etwa nicht übersprungen und damit
als Institutionen nicht legitimiert worden wären (gerade heute werfen sich die
professionellen Gesellschaftsdeuter mit Vehemenz auf die Kultur), und auch
nicht, weil sie immer wieder aufs neue aufgehoben worden wären. Nein: Die
Hoffnungen auf den kulturellen Zusammensatz des gesellschaftlichen Menschen
sind deswegen perdu und als Basis für dessen Zusammenhalt obsolet, weil sich
herausstellte, daß die Laufbahnen, auf denen Hürden
installiert zu sein scheinen, solche der in sich heteronomen Freizeit und
nicht solche der Arbeit sind.[9] Daß
sich Arbeit Stadien erlaubte, in denen Freizeit exekutiert werden konnte, erscheint
nur noch mit dem Attribut 'epochal' richtig gedeutet werden zu können. Die
Laufbahnen draußen in der gesellschaftlichen Praxis haben keine Hürden,
allenfalls solche in Gestalt der Zurückgebliebenen, der Umgefallenen und
Zertrampelten, die auf den Bahnen der Markt- und noch-Sozialstaat-Gesellschaft
herumliegen und über deren Sanierung die kommunikative Vernunft herrschaftsfrei
räsonieren möchte. Will sagen: "Weder als Staatsbürger- noch als Marktsubjekt
kann das moderne Individuum des warenproduzierenden
Systems seine Krise mehr bewältigen, mögen seine Ideologen auch immer neue
Worte kreieren, um die sie noch nie verlegen waren".[10]
Akzeptierte man, daß der abstrakte
Universalismus okzidentaler Rationalität sich einzig als bloßer Reflex der
dinglichen Realabstraktion des Geldes decouvriert[11], und diese Realabstraktion in
einer überschlagenden Totalität mittlerweile auf die Implementation
konkreter Arbeit, auf die Implementation des
Besonderen angewiesen ist, dessen noch nicht ganz nachvollziehbare neue
Vernutzung in den Prozessen der Verdinglichung zur Zeit als comeback des
maoistischen "Laßt tausend Blumen blühen"
ideologisch mit Hoffnung aufgefüllt wird, dann könnte man sich ohne weiteres
folgendem Statement Bernhard Giesens anschliessen,
nämlich[12]: "Während Codes in
traditionellen Gesellschaften die Einheit disparater Teile zu erzeugen hatten,
geht es in postmoderner Lage eher um die Erzeugung des Anscheins von Vielfalt
in einer Gesellschaft, die einheitlich geworden ist. Freilich: Kulturelle
Vielfalt kann dabei nur den Anschein der konkreten Dinge erzeugen und bleibt -
genau besehen - eben auch nur eine Codierung. Was dann bleibt ist die Erkenntnis,
daß diese Trauer nicht heilbar ist". Man
erinnert sich eben nur noch daran, den roten Faden verloren zu haben, nicht
mehr daran, was genau es war, das sich durch die Geschichte ziehen lassen
sollte.[13] Genau das verhindert, das Ganze
(der Geschichte) wieder logisch "hinzubekommen"; denn wäre dies
möglich, dann träte der Zwang wie Phoenix aus der Asche, nach einem tieferen
Sinn suchen zu müssen; und dieses Suchen bzw. dieser Sinn wäre dann nicht mehr
anders zu kontextualisieren, als es Richard Rorty in einem impliziten 'Entweder oder' vorführte:
Entweder Demokratie oder Philosophie resp. Transzendenz.[14]
D) Ist Desintegration
organisierbar?
Die Welt ist aus den Fugen. Diese Einsicht ist nicht neu. Neu ist oder
war, diesen Tatbestand so zu deuten: Sie ist endlich die Fugen los; also als
einen Akt der Befreiung vom Identischmachen zu sehen. Jede Befreiung aber hat
ihren Preis, der zumeist erst ex post herausgefunden wird. Der Preis des Nicht-mehr-Fügens ist, daß
Freiheit aufhört, eine (syntaktisch gesprochen) zweiwertige Relation zu sein:
Es heißt dann nicht mehr frei von oder frei zu, sondern nur noch: Freiheit aushalten
(Richard Rogler).
Heute, nachdem für den sozialen Raum viele "positiven" Inklusionsformen
und Identitäten (wie Solidarität, Klasse, Bürger, Steuerzahler, Genossen,
Wähler etc.) ihre historische Zeit hinter sich gelassen haben (zumindest auf
der Metaebene), scheint sich Aushaltung als letzte Form des Zusammenhalts
psychosozialer und individueller Räume (und noch mehr: Zeiten) massivst auszubreiten; der Zusammenhalt dessen, was sich
da millionenfach mit der ersten Person Singular bezeichnet, ist nur ein negativer.
Massengesellschaften scheinen mit ihrer Produktion von Gütern, Infrastrukturen
und Verhaltensformen für die Masse nun auch beim Wahnsinn als Gut für die Masse
angekommen zu sein, vorausgesetzt, man versteht Wahnsinn als Zustand, "den
begriff ich gebrauchen zu müssen;- und
auch: den begriff ich nicht mehr
gebrauchen zu können."[15] Positive Bestimmungen des eigenen
Selbst, des Selbstbewußtseins können nicht mehr
greifen, da sich diese Inklusionen gleichsam als "falsche Seite" des
Ichs herausgestellt haben: die falsche Seite der Verwechslung von Zusammensatz
und Zusammenhalt. Solange der "Satz" einigermaßen komplett
darstellbar war in einer auf Verdrängung und auf Verrichtung von Arbeit fixierten
Kultur sowie in Konventionen der Kopplung des Ichs mit Leistungen der Arbeit,
der Sexualität, der Sozialrevenue und der Bezahlung,
solange konnte diese Setzung (als) Halt fingieren (noch beobachtbar bei der
Trümmergeneration). Anders bei denen, die wissen, das jede Verkopplung des
Ichs mit: Biographie, Sozialrevenue, Leistung, Bildung,
Selbstkritik, Sex, Gedanken oder gar Weltbildern immer und immer nur eine
Verkopplung auf Zeit ist (die also ihr Nichtwissen um die Nichtvorhandenheit
eines Ich-Selbst verloren haben und das nicht mehr vergessen können): Unbefragbare Identität als Ausnahme (in Momenten). Übrig
bleibt die Lokalisierung einzig entlang einer höherstufigen Kontinuierung der Abbrüche und Unterbrechungen, entlang
einer nur ausnahmsweise unterbrochenen Permanenz des sich Fremdseins, entlang
einer Unwahrscheinlichkeit von Nullsummen ergebenden Gleichungen zwischen
mir und dem, der dieses "mir" (nämlich ich) bedenkt bzw. reflektiert.
Angst zu haben davor, mit einer selbstgewissen Identität, die von anderen
beobachtbar ist, zu scheitern, wechselt seit gut einem Jahrzehnt mit der
anderen, breiteren Angst, eine gewisse Identität zu besitzen, die man selbst
vor sich und dann auch vor anderen zu vertreten und zu verantworten hätte:
Identität als Gestalt der eigenen Formgebung wäre die Katastrophe, nicht mehr
die Abwesenheit von Identität. In diesem Wechselspiel von Haben und Nichthaben,
Sein und Nichtsein, Ich und Nichtich hat sich, da
eine klare Position, eine klare Station bis auf weiteres nicht mehr
installierbar zu sein scheint, die Angst als externe Klammerung des
"eigenen" Amalgams aus Fremd-, Selbst- und Erinnerungbild
eingespielt, als die sich selbst einbringende Unterscheidung von Welt, die
als die eine Seite die andere notwenig macht: Nichtangst. Nichtangst wäre dementsprechend
die Abwesenheit nicht von Angst, aber des Dranges nach Identität. Zur Zeit entschlagen sich jedoch die meisten Menschen aus Angst des
Wunsches nach einer Identität als Abwesendheit von Identität, und landen
glücklos in einem Kreislauf ohne Ende: Je mehr sie von sich Abstand nehmen,
beziehen sie sich auf den, der Abstand nimmt, und nicht auf das, was sie in
einer Leere zurückliessen. Je mehr sie aber Leere
auffüllen, desto stärker wird die Angst, die dieses Vakuum besetzt; desto
bemerkbarer (Schmerz zumeist) wird hingegen das Vorhandensein eines Ichs (als
schmerzendes); desto größer also der Drang, Abstand zu nehmen. Abschied zu
nehmen vom "eigenen" Markt-, Konsum- und auch Verzweiflungs-Ich
scheint in dieser abendländischen Kultur wohl nicht mehr erlernbar (und der
ferne Osten ist fern[16]). Also bleibt nur: Sich, also
diesen immer selben Anderen, aushalten, und das auf einem Niveau, wo Konstanz
einzig in einer immer höheren Quote an Auflösungs- und Rekombinationsmöglichkeiten
sich darzustellen hat, als eine wirkliche Latenz, als eine wirkliche Virtualität,
als jederzeit sich anders zusammensetzender Zusammensatz. Körper geben also
keinen Halt mehr. Aber sie bilden Sätze, machen Sätze (also: springen).
Es scheint vielversprechend, Verknüpfungspunkte
auszumachen, die das Aushalten (des Selbst, der Freiheit, des Anderen) wenn
nicht "logisch", so doch soziologisch mit einem Aufhalten (im Sinne
von Offenheit, nicht im Sinne von Stoppen) in Beziehung setzt. Die Erfahrung
der Geschichte läßt dies jedoch kontraintuitiv
werden: Identität bildete sich bisher über Ausscheidung, nicht über
"Aufwartung". Die Geschichte der Abfolge eines eingeschlossenen
ausgeschlossenen Dritten über das Sakrale (als Vermittlung des Mundanen und des Dämonischen), über das Säkularisierte
(als Vermittlung der Polis und des Nomos), über den
Staat (als Vermittlung des Einzelnen mit dem Allgemeinen), über die Information
(als Vermittlung des Bewußtseins und der Materie) und
über den Markt (als Vermittlung zwischen privater Produktion und gesellschaftlicher
Konstitution), kurz: Die Geschichte der Abfolge von Gestalten des Prinzips
Tausch wirkt immer noch ohnmächtigmachend in
Vorstellungen hinein, die sich vom Zwang zur Resurrektion
des Vereinten im Kompensat der Trennung
freizumachen suchen. Den daraus folgenden Zustand beschreibt Friedrich Stenzler mit der nötigen Prägnanz so[17]: "Aber Getrenntsein
ist heute ein Zustand, in dem der Getrennte nicht mehr anzugeben weiß, wovon
er getrennt ist, wie der Verlassene nicht mehr weiß, von wem und wovon er
verlassen ist". Und, in einem Satz die Systemtheorie in ihrer
diesbezüglichen Impotenz fassend (p12): "Ein System mag entlasten, aber
auch es füllt nicht das 'trennende Nichts'".
Das trennende Nichts; die wachsende Wüste zwischen Erfahrungsraum und
Erwartungshorizont; die mit Leichen übersäten Laufbahnen der Arbeitsgesellschaft-Moderne; das Freiheitaushalten
als einziger Modus des Sichenthaltens in dem, was
nicht mehr Identität genannt werden kann: Das sind die Merkposten, die es
strikt verbieten, immer und immer wieder aus der Ausweglosigkeit der anderen,
aus ihren Ausweglosigkeiten herauszufinden, lernen zu wollen[18], denn auch das ist mittlerweile
längst der Unterhaltung als hegemoniales Weltprinzip und Fortsetzung der Verdrängung
(und Verlachung) subsumiert worden.
E) Aus-Sichten
Die Vernichtung der Sorgen - hieß das Projekt der Aufklärung.
Die Entsorgung der Vernichtungen - so wohl das Projekt der Zukünfte.
Entsorgung gibt es aber nicht - genausowenig
wie Versorgung. Die Vorstellung, die "letale" Kopplung von Entscheidung
und Ausscheidung, Selektion und Elimination befreiend zu brechen, erscheint
mir absurd; sie wird nur erbrochen werden (und die beginnende Faschisierung sind die ersten erbrochenen Brocken, mag auch
der Kommunitarismus noch stark Alternativen anbieten). Die Ausscheidungen der
letzten sagen wir 500 Jahre sind das letzte große, furchterregende
Geheimnis, das der gesellschaftlichen Zukunft aufgegeben ist. Die Zersetzung
des Ausgeschiedenen (und vorallem: das Unzersetzliche; hier hätte die Psychoanalyse ihr Feld) muß erforscht werden. Nur weiß niemand, wie es anzustellen
ist, nicht mehr das Abgesonderte in die Gesellschaft zu integrieren, sondern
diese ins Abgesonderte, ohne dabei a priori der nichtmodernen Barbarei die
Türen zu öffnen.
Aber dieses Nichtwissen ist der wichtigste Posten, den man heute, am Ende
des 20. Jahrhunderts, wissen sollte (auch wenn man es nicht mehr hören, geschweigedenn nicht mehr lesen kann)[19].
P.S.: In dem für meine Ohren genialen Radio-Hörstück "Brut" von
Mathias Zschokke (ursprünglich ein Theaterstück,
fürs Radio bearbeitet und in Szene gesetzt von Jörg Jannings), die trefflichste
und weitumspannende Allegorie auf die Rat-, Lust-
und Orientierungslosigkeit des Denkens und der Zeit, die ich kenne, fragt der
Steuergehilfe den (blinden!) Steuermann des Piratenschiffes, das seit etlichen
Tagen nur noch im Kreis segelt, ob nicht auch er das Schiff steuern könne (was
er faktisch schon tut, nur kein Bewußtsein davon
hat). Der Blinde bejaht lakonisch. Darauf fragt der Gehilfe, wozu man ihn,
den blinden Steuermann, dann noch brauche. Dieser antwortet: "Ich bin überflüssig.
Wir alle sind überflüssig. Bei mir ist es nur am sichtbarsten".
Sichtbar machen, wie blind man ist, ist wohl so überfällig wie noch nie.
2) VORSÄTZE ZUM
STAND DES ANSCHLUSSES BEIM NACHDENKEN: SIEBEN[20] HERAUSNAHMEN, AUF DENEN SICH DIE ARBEIT AUSNIMMT
A) Wissenschaft bleibt in der
Welt
Ein anderes Sich-Hingeben als das einer Frau
(wobei diese nicht das Subjekt, sondern Objekt, besser: Adressatin
der Begierde ist) kommt mir nicht in den Sinn. Infolgedessen kann das
nachfolgend Geschriebene nur Teil der Welt sein, in der ich lebe, nicht aber
diejenige, in der ich lebe - was unerquickliche Konsequenzen mit sich führt,
da gleicherhand "Wissenschaft" mir nur als
Lebensweise vorstellbar und Umberto Eco mir "Paradigma" ebendieser
scheint.[21]
B) Anachronismus der Welt des
Schreibtisches
Desweiteren einschränkend ist in einer mehr rationalistischen
Manier die Tatsache, daß das Vorhaben, einen zumindest
nicht allein auf der Ebene der Formulierung neuen Kommentar zur Lage des
Menschen und dessen wissenschaftlicher (Er-)Fassung abzugeben, durch die
empirische Alleinheit am Schreibtisch, also durch die A-Dialogizität
des Verfertigens von Gedanken bewerkstelligt wird (die auch durch einen breiten
inneren Dialog mit den Texten nur "übertönt", nicht aber aufgehoben
wird); es wirkt anachronistisch und vielleicht auch ein wenig belächelbar, von seinem Schreibtisch aus das überblicken
und in Zeilen einfangen zu wollen, was in einer beinahe ontologoiden
Form als komplex bzw. hyperkomplex bezeichnet wird: Nämlich die Welt, sei es
die der Wirklichkeiten, die der Wissenschaften, der Künste oder der
Vergangenheiten (aber auch der Zukünfte?). Die der Autorenschaft
Hülle verleihende Form des am-Schreibtisch-Sitzens
mag also dazu verführen, durchs weite Land der eigenen "Hoffnungen"
zu reisen und die Welt da draußen (auch die der Texte) als bedauerlichen Irrtum
der Geschichte, die Welt im Kopf hingegen als die eigentliche Absicht derselben
zu bedeuten.
C) Die Selektivität des Zugangs
zur Welt
Zum dritten beschränkt sich diese Arbeit, indem das, was sie sagen will,
ausschließlich in einer Form der Lesbarmachung
lesbar gemacht wird, nämlich in der der Schrift, und auf diesem Kontinent der
Schrift sich nur auf eine "Gattung" bzw. auf ein "Genre"
kapriziert: die monothematische Abhandlung. Mit diesem Lokalisieren des hiesig
Geschriebenen innerhalb einer Spannbreite von Lesbarmachungsweisen
(vergleichbar Nelson Goodmans Weisen der Welterzeugung) soll also die sogenannte Selektivität der gewählten
"Bezeichnungsorganisation" bezeichnet werden (es gibt die
musikalische, die literarische, die bildhauerische, die filmische etc.; und
zwischen ihnen besteht keine Hierarchie bezogen auf das, was bezeichnet werden
soll, sondern allenfalls eine in ihrer jeweiligen Fähigkeit, Komplexe zu enttrivialisieren); und es soll gezeigt werden, daß sich diese Selektivität in der Wahl einer bestimmten
Darstellung der Bezeichnungorganisation fortsetzt
(quasi auf unterem Niveau). Es könnte also, um zu verbeispielen,
durchaus möglich sein, daß das zu Bezeichnende (also
das Thema, das, um das es geht) "besser"[22] in der
Bezeichnungsorganisationsform Theater oder in der des filmischen features oder
auch in der einer akustischen Gedankenlandschaftsskulptur (in Anlehnung an
Bill Fontana) aufgehoben wäre. Und es könnte, hat man sich wie im hiesigen Falle
für das "Medium" Schrift entschieden, gleichsam möglich sein, daß innerhalb dieses Mediums ein Roman, ein Sprech-comic, ein Essay, eine Dokumentation oder ein
"waste-booking"[23] dem Gemeinten mehr an
Lesbarkeit[24] abgewinnt denn hiesige, zur
Ausführung gebrachte étude.
Es ist der Einsicht also Rechnung zu tragen, daß keine
Textform aus sich heraus eine (semiotisch oder semantisch) logische Nähe zu
bestimmten Weltkontexten erstellt, vorausgesetzt man schafft es, alle
vorhandenen Texte als Repräsentationen eines "Totalitätscharakters von
Sinn" (Jochen Köhler) zu bestimmen, deren gemeinsame Aufgabe darin besteht,
sich via Problematisierung an dem abzuarbeiten, was durch die Zentralität der
Ordnung von Sinn von ebendieser ausgegrenzt wurde und nun als Widerständiges
sich wieder in den Innenzonen der Orientierungstexte als Problem bemerkbar
macht.[25] Diese abarbeitende
Problematisierung ist freilich nur paradox zu haben: Sie müsste einem
gedanklichen System entspringen, das es selbst betreffende Probleme und
Fragestellungen hervorbringt, die als zwar richtige, jedoch völlig unerwünschte
Probleme und Fragestellungen des fehlerfreien Systems behandelt werden: Das
System müsste sich damit selbst als unerwünschtes erkennen, dieses Erkennen als
richtiges, wenn nicht gar wahres Erkennen erkennnen,
und folglich in dem Moment, in dem es sich als richtiges System zeigt, von sich
ablassen.[26]
D) Die Behinderung, mit klarem
Kopf zur Welt zu kommen
Viertens beschränkt sich diese Arbeit als Produkt darauf, Produkt eines
Produktionsprozesses zu sein, der ausschließlich in der Wirklichkeit der
Nüchternheit ablief. Zu verstehen ist diese unter zwei Aspekten: unter dem
Aspekt der intellektuellen (1) und unter dem der erkenntistheoretischen
Nüchternheit (2).
(1) Diese Nüchternheit hat etwas zu tun mit dem Eingeständis,
sich maßgeblich als Mitglied einer geistigen Rezession zu verstehen bzw. als
Angehöriger einer klimatisierten Intelligenz (Jean Baudrillard),
die nicht über ihren Schatten (der hier vielleicht immer noch vordringlich
metaphysischer Art ist) zu springen vermag, sondern diesen als Halt für eine
schwache Identität und eine schwache Intensität benutzt: Wer oder was das
Licht wirft und warum, werden dann Fragen zweitrangiger Art (wie Platons Gefangene
in der Höhle, die nur Schattenbilder wahrnehmen, aber die ideae
rerum als das wahrhaft Seiende dahinter nicht erkennen). Es mag dahingestellt
sein, ob die geistige, intellektuelle, künstlerische Verfassung in den technophilen spätkapitalistischen Gesellschaftsgebilden
wirklich nur noch aus dem Leeren schöpft oder einfach nur schöpferisch leer
ist. Offen bleibt auch, ob nur Neues Geschichte machen kann und also das Ende
der Geschichte in eins geht mit der Absenz von Innovation. Plausibel
voraussagbar scheint dagegen zu sein, in nicht allzu ferner Zeit einen Anschluß der "akademischen Welt" an die
Fortschritte einer gesellschaftlich immer breiter werdenden Vermittlung der
Beziehungen über "Null-Destruktivität" mitzuerleben, die der Preis
einer kontinuierlich verhinderten und tabuierten Kultivierung von Agressivität in der Gesellschaft zu werden beginnt, der
auch nicht mehr über die zur Sozialintegration als Notbehelf eingesetzten
Medien des Geldes, des Rechts, der Macht und der kulturtechnologischen Unterhaltung
"bezahlt" werden kann (man sollte sich allerdings davor hüten, nach
einer neuen "Währung" Ausschau halten zu wollen oder alte zu
reaktivieren, solange die alte Wahrheit noch intakt ist). Der Einschluß der kulturellen und intellektuellen Eliten in
die "Weltherrschaft der Unbrüderlichkeit" (Max Weber) wird also Agressivitätssyndrome als maßgebliche, wenn auch durch
"Klassensolidarität" bisher verdeckt gehaltene "Triebfedern"
der Reproduktion dieser "Expertensysteme" freilegen, die weit über
das hinauszugehen versprechen, was eine noch freundliche postempiristische
Wissenschaftskritik Paul K. Feyerabends als auch eine
schon näher an den Nerv gehende Konterkarierung der akademischen Klasse durch
postmoderne und psychoanalytische Philosophien bisher zeitigten. "Die
theoretische Windstille ist zum Kernproblem geworden, die Demoralisierung des
Denkens droht sich zur Paralyse zu steigern"[27]. Nüchternheit innerhalb einer
Paralyse zu wahren heißt daher beinahe hinreichend, die Material- und
Sinnerschöpfung der Begriffsmaschine des abendländischen Denkens um ein
weiteres Jota zu erweitern, anstatt sie, die Maschine, mit ihren Mitteln gegen
sie zu kehren. Als letzter "Held" darf hier, vielleicht in der
Tradition Kierkegaards und Husserls, Adorno ausgemacht
werden, an den sich die vorliegende Arbeit im Gedanken anlehnt.
(2) Diese nüchterne Wirklichkeit ist desweiteren
nicht aufzufassen als diejenige eigentliche, in der alle anderen,
uneigentlichen Wirklichkeitsverfassungen zu sich kommen und also aufgehoben
werden; die Tatsache, daß alle Betäubung nur als
temporäre und dazu als explizite Zutat, als Dreingabe, als unabdingbares
Zutun aufzutreten vermag, um dann doch in eine sich scheinbar von selbst wieder
einstellende Nüchternheit zurückzuströmen, sollte m.E.
nur sehr vorsichtig zu dem Umkehrschluß führen, daß die sich selbst tragende (wenn nicht gar träge)
Wirklichkeit des immer schon In-der-Welt-Seins (à la
Heidegger wäre dies das Sich-nicht-melden der Welt)[28] das einzige Fenster sei, durch
das gesehen die Transparentwerdung von Welt notwendigerweise dasjenige ist, was
am verborgensten bleibt. Mit einer sicherlich nicht
mehr ganz stimmigen Unterscheidung von Wahrheit und Täuschung ließe sich demgegenüber
auch eine Auffassung von der Beständigkeit und des Sich-selbst-Einstellens
der nüchternen Wirklichkeit halten, die mit der Unterschiebung des Bleibenden
als des Wahren den Anfang der Wahrheit als Anfang der Täuschung trans- bzw. deformiert sieht. Es wäre demgemäß also
"ein Fehlschluß, was dauert, sei wahrer, als was
vergeht."[29] Wendete man diesen erkenntnis-
und wahrheitstheoretischen Vorbehalt auf das Schreiben an (also als Konnex der
Punkte drei und vier), dann entpuppte sich das Schreiben als die perfideste
Art, dieses Fehlschliessen zu perpetuieren: Nicht
nur, daß es durch ritzen und graben (lat.: scribere; griech.: graphein) das amorphe,
zeitlose Rauschen, das verschwindene Passieren und
das gegenstandslose Material der Zeit überhaupt erst zugänglich (und also
lesbar, bewahrbar und identifizierbar) macht, sondern
daß es noch im eigenen Spuren-legen
darüber informiert, uno actu
Spuren zu verwischen, die als verwischte Spuren erst dadurch erkennbar werden, daß sie verschwinden, mache die Perfidität
des Schreibens, d.h. genereller die Perfidität des
Unterscheidens[30], aus. Es mag also absurd sein,
im Schreiben festzuhalten dadurch, daß überhaupt
erst Bleibendes konstituiert wird, das sich dann festhalten ließe. Und noch
absurder, gar paradox läßt es sich an, in z.B. postmoderner
Manie(r) das Nicht-integrierte, das Unverbundene, das
Inkommensurable dadurch inkommensurabel sein zu lassen, indem es durch sein
"Erschrieben-werden" (man könnte auch von
"auflesen" sprechen) zur Vollstreckerin der Ortlosigkeit
des Schreibens (Michel Foucault) gemacht wird.
Was dann noch bliebe, ist Jacques Derrida[31] (bzw. Heidegger bzw.
Nietzsche).
E) Vokabulare als Erinnerung an
die Orientierung
Fünftens ist der schreibende Gang durch das Thema, versteht man es einmal
als fremde Stadt oder als fremde Landschaft, der man zu begegnen sich traut,
kein Gang unter Führung einer exakten Stadt- oder Landkarte, die als Referenz
des Abgleichs dessen, was ist, mit dem, was sein soll, dient, sondern ein Gang
vergleichbar dem eines (sicherlich anachronistisch gewordenen) Flaneurs, eines
Flaneurs allerdings, der seiner Gangart nicht ganz sicher ist und zur Not
etwaige Karten (sprich: Texte) bereithält, sollte er einmal in einem Hinterhof
ohne Ausgang landen. Diese Karten sind nichts anderes als Vokabulare[32], deren Markenzeichen an Namen[33] wie (u.a.)
Aristoteles (scholastisch-aristotelische Lehre), Bacon (empirischer Materialismus),
Kant (Transzendentalphilosophie), Hegel (System des objektiven Idealismus),
Heidegger (temporalisierte Fundamentalontologie), Adorno (Kritische Theorie),
Freud (Psychoanalyse), Habermas (Theorie des kommunikativen
Handelns), Lyotard (Theorie der philosophischen
Postmoderne), Luhmann (Theorie der Systemtheorie) und Maturana
(Theorie der Autopoiesis) festgemacht werden. Es
besteht kein Zweifel, das allein schon soziologisches bzw. philosophisches
Flanieren nur dasjenige "Sehenlassen"
(Heidegger) zuläßt, das durch die Vokabulare schon
seine wenn auch nur applizierte Interpretation erfuhr. Es wäre also töricht zu
glauben, man entdecke (die Stadt) neu. Der Vorteil dieses schreibenden Flanierens
durchs Thema ist denn auch nur, in Momenten, wo klar wird, wieviel
Denken noch zu erledigen ist, nicht stante pede auf den Kanon der Kartographie zurückzugreifen (also
die Texte der Philosophie, der Soziologie, der Biologie, der Psychoanalyse
usw.), sondern sich vielleicht noch einwenig mehr als üblich zu verwickeln mit
dem, was man verstehen, einordnen und in seiner Bedeutung klären will. Wir
werden also nicht mehr in der Lage sein zu sagen: "Von unserer Person
schweigen wir", wie es Kant tut, wenn er ein Zitat Francis Bacons als
Motto seiner Kritik der reinen Vernunft voranstellt. Ob sich damit allerdings
die kantsche Forderung der Restriktion auf Erfahrbares halten läßt?
F) Von der Schwierigkeit, Kritik
zu üben
Sechstens versteht sich die versuchte Arbeit in ihrer Auseinandersetzung
mit wissenschafts- und erkenntnistheoretischen Modellen der Systemtheorie
(und, abgeschwächt, des Radikalen Konstruktivismus) primär nicht wissenschaftstheoretisch
und erkenntnistheoretisch, sondern gesellschafts- und, in modifizierter
Form, ideologiekritisch. Dies wäre dann, etwa im Falle der hier zur Erörterung
anstehenden Wissenschaftsmodelle, eine Entscheidung dafür, ebendiese nicht
allein entlang einer "ideengeschichtlichen", entlang einer wissenschaftsinternen
Differenzierung zu kontextualisieren, wie es etwa
Luhmanns Sicht der Wissenschaft als geschlossenes autopoietisches
System nahelegt, das allenfalls perturbiert
werden kann, aber das Maßgebliche (etwa die Leitdifferenz wahr/falsch)
weiterhin selbst generiert, sondern das Aufkommen und die Gestalt dieser
Forschungsprogramme klar von einer Theorie der strukturellen Affinität zwischen
Technik, Wissenschaft und Kapital aus zu fassen[34], bzw. von einer Theorie des Verhältnisses
zwischen Wissensproduktion und sozialer/politökonomischer Struktur[35]. So wie etwa Francis Bacons
neues Organon nicht allein vor dem Hintergrund seiner
Ablehnung der innovationsschwachen scholastisch-aristotelischen Lehre,
sondern seine veränderte Naturauffassung durchaus als Resonanz und Verstärker
einer sich ebenfalls wandelnden Einstellung "der" sich im 17.
Jahrhundert ausbildenden Industrie verstanden werden muß[36], wobei deren Auffassung über
Natur als Arbeitsgegenstand mit der Bacons, ebendiese einer rationalen
Beherrschung zu subsumieren, konvergierten, so sind die hier in Rede stehenden
Modelle des Verhältnisses von Welt und Mensch nicht allein mehr oder weniger
akademische Richtungen, die mit anderen akademischen Richtungen über Fragen
epistemologischer Reichweite diskutieren ('Was ist der Mensch?'; 'Ist Denken
körperlos simulierbar?'; 'Was bedeutet Kommunikation?'), sondern es sind Modelle,
die in ihrer "Neuheit" zumindest Auswege andeuten aus derjenigen
Sackgasse, in die die vordringlich us-amerikanische
Computerindustrie- und forschung (vorallem die KI-Forschung und die Kognitionswissenschaft)
mit ihrer hegemonialen von-Neumann-Architektur und
ihrem Paradigma der semantisch-symbolischen Informationsverarbeitung geraten
sind[37].
Gewiß, die gewohnten Parameter dieser Kritik sind im Gebrauch
weitgehend abhanden gekommen und es wird Jahre dauern, bis Gesellschaftskritik
wiederentdeckt und erneuert wird[38]; notabene eine Kritik, die
darin überzeugen kann, nicht zu einem marktwirtschaftskonformen Räsonnement (R. Kurz) sich verkehrt zu haben. Kritik hat
selber als Thema der Kritik sich auszuliefern (ohne allerdings die
unausweichliche Zirkularität als Totschlagargument
dafür zu benutzen, aus Kritik der Kritik deren Eliminierung abzuleiten), hat an
sich selbst anzuwenden, daß nicht nur grundlegender
Wandel statthat, sondern ein Wandel der Grundlagen des Wandels (Ulrich Beck).
Bliebe dies aus, so bliebe (zumindest aus meiner Sicht) nur dies: Das Suchen
nach Anschluß an ein Forschungsprogramm (im Sinne
Imre Lakatos') bzw. an ein Paradigma (im Sinne Thomas
Kuhns), und die Installation eines Leitsterns in Gestalt des Satzes 'Die Richtigkeit
der Theorie liegt in ihrer Richtung auf sich selbst' (N. Luhmann). Praktisch
gewendet bleibt jedoch die Einsicht gültig, daß
"negative Kritik [...] unverzichtbar [ist], wenn wir nicht gleich
resignieren und das, was uns an Zivilisation bleibt, mit der Polizei einbunkern
und gegen alle Eindringlinge dichtmachen wollen"[39].
G) Die Unfähigkeit zur
Konzentration: Ein Geschenk?
Schließlich (aber dieses schließlich ist nur eine dezisionistische
Entscheidung, nicht im Uferlosen zu enden) "quetscht" das Vorhandensein
eines Fernsehers (eines Apparates also) eine Antiquiertheit
aus dem Vorhaben, theoretisch zu schreiben, hervor, die vielleicht in der
rhetorischen Frage gebündelt werden kann: "Wie ist es möglich, noch
theoretisch zu schreiben, wenn der Fernsehapparat etwa 2 Meter von einem
entfernt steht"? Wenn eine große Menge von kleinen Perzeptionen
zusammenkommt, worin sich nichts deutlich unterscheidet, so Leibnitz im Satz 21
seiner Monadologie, so ist man betäubt; das Gehetztsein von der Angst, in den
Abgrund des Nichtwahrgenommenen zu fallen, so Christoph Türke, erhöhe das Bildtempo,
also die Anästhesie; aber: Charakteristisch für das Bewußtsein
als aus Ereignissen bestehendes System sei es, so Luhmann, daß
deren Dauerzerfall zur unerläßlichen Mitursache des
Systembestandes wird. Die laufende Vernichtung der Elemente sei Bedingung
dafür, daß hinreichend verschiedenartige Elemente
entstehen. Es könnte nun sein, daß zwar Vernichtung
der Elemente (Gedanken, Bedenken), aber keine Elemententstehung statthat. Das
entstehende Element wäre dann meist ein etwas diffuses Gefühl ob der Abwesenheit
von Gedanken: Man greift ins Leere, weiß aber, daß da
etwas gewesen sein muß, nach dem zu greifen lohnte.
Dieses "Schicksal" dürfte wohl all die treffen, die sich nicht als
Spätgeborene einer über 2000-jährigen (überlieferten) Kultur- und
Geistesgeschichte verstehen, sondern eher als Exemplare derjenigen geistigen
bzw. intellektuellen Verfassung, die Adorno so einprägsam als
"Halbbildung" bezeichnete. Gewiß, stupendes
Wissen macht auch in einer besonderen Weise stupide; aber während für
"unsereinen" die intellektuelle Kraft, vielschichtige geschichtliche
(Text-)Welten um sich herum zu bilden, aus denen wir mit sicherer Hand
Verbindungen ziehen, recht schnell erlahmt und wir uns wieder zurückgeworfen
sehen an unseren kleinen Schreibtisch, der als Enklave in dann doch wieder nur einer Realität sich an diese anzuschliessen sucht, vermögen die "Wissenden" im
Wissen der vielen geschichtlichen Zeiten zu leben (hoffentlich mehr leidend
denn hoffend). Während diese also in ihrer Gegenwart umschaltlos
Zugang zur polytexturalen Geschichtlichkeit gewinnen,
schaltet "unsereiner" wohl eher recht beliebig aufs Fernsehn- und Printprogramm[40] um oder zwischen diesen und dem
Alltag "der Straße". Es trifft tatsächlich verallgemeinerbar zu, was
Kommissar Jansen im soziologischen Kriminalroman "Mord im 31.
Stock" von Per Wahlöö feststellt, als er im
Rahmen von Ermittlungsarbeiten Zeitschriften "des Konzerns" zu lesen
hat: Einhundertvierzig Zeitschriften: keine Hinweise! Trotzdem ist die Wirkung,
die vom etablierten Konsum hinweis- und verweislosen Seh- und Lese-junk-foods
auf die Produktion eigener Verweisungshorizonte abstrahlt, beträchlich.
Wem es immer weniger ausmacht, sich den Verlockungen der "Sekundenkultur"[41] hinzugeben, bekommt
unausweichlich Schwierigkeiten, Bögen zu spannen. Unentspanntes Bögenspannen dürfte in der Arbeit wohl zu besichtigen
sein. Der Schwung, so ein richtiger Satz Luhmanns, der Schwung des Anfangs verliert
sich in den Bemühungen um Rettung des Begonnenen. (Nur im literarischen Feld
scheint es möglich, aus dieser Zustandsbeschreibung selbst ein schriftliches
Reflektieren zu erstellen, das nicht in seinen eigenen Gehalt eingeht: Fernando
Pessoa fällt einem ein: "So bin ich, nichtig und sensibel, fähig zu
heftigen, verzehrenden Impulsen, [...] niemals aber zu einem überdauernden
Gefühl, niemals zu einer Gefühlsregung, die fortwirken und in die Substanz der
Seele eingehen würde. [...] Alles fesselt mich und nichts hält mich fest".[42])
Der folgende Text ist also Produkt von Herausnahmen aus
- dem "Einstellungsraum", der zwischen den Begriffen Engagement
und Distanzierung (Norbert Elias) aufgespannt ist; tentativ
geht die Einstellung zum Text in die
Richtung der Distanz (nicht zu verwechseln mit einer Distanzierung vom Text), und weiß damit, was sie alles
unberücksichtigt hält.
- dem "Herstellungsraum", der zwischen den Begriffen Dialogizität (von Sprechhandlungen) und Dialogizität (von Gedanken) aufgespannt ist; eindeutig
geht die Herstellung des Textes in Richtung der letzteren (und weiß damit, was
sie alles unberücksichtigt hält).
- "Räumen von Medien und Formen von Medienräumen": Diese
umfassen das gesamte Spektrum der Kulturtechniken des Ausdrucks, der
Darstellung und der Imagination sowie die Sinne des Hörens, Sehens, Erinnerns (Gedächnis verstanden als Sinnesorgan), Lesens und
Schweigens - alles ohne auch nur einen Hauch von Hierarchie. Der Text wählt das
Medium Schrift und die Form des Lesens (und weiß damit, was er alles unberücksichtigt
hält).
- dem "Raum der 'Bewußtseinszustände'",
der aufgespannt ist zwischen Nüchternheit, Verzweifeltsein,
Im-Rausch-sein, Stummsein u.v.a.m.
(speziell esoterische Zustände sind hiermit nicht gemeint); der Text entstammt
einem nüchternen Zustand (und weiß damit, was er alles unberücksichtigt hält).
- dem "Raum des Stils", der sich zwischen der Markierung 'stilsicher' und einer Umschreibung erstreckt, die lautet:
"Das kommentierende Subjekt entfernt sich. Es ist, als würden bloß noch
Türen aufgerissen, aus denen herrenlose Rede quillt"[43]. Der Text wird gezwungen sein,
sowohl jederzeit sich in einer Art Auffindbarkeit für das kommentierende
Subjekt zu halten, also auch (manchmal) zu verschwinden (und damit in der Inadäquatheit der Vermittlung[44], die dabei praktisch zum Vorschein
kommt, die Unwahrscheinlichkeit der textlichen Vermittlung kurz gegenwärtig zu
machen). Der Text weiß hier, was er alles berücksichtigt.
- dem "Raum der Verantwortung": Dieser reicht von der Verantwortung,
die man gegenüber dem Vokabularreservat oder der Schule empfindet, aus dem und
aus der heraus man einen Beitrag für es und sie liefert, bis hin zur
Verantwortung, die man für die Gesellschaft, die Menschheit, den Planeten zu
empfinden meint. Der Text geht eindeutig in die zweite Richtung[45] und weiß damit, was er alles
berücksichtigten muß.
Der Text ist schließlich Produkt von Herausnahmen aus
- dem "Raum des intellektuellen Daseins": Dieser beinhaltet
sowohl die eigene Anwesenheit als bloße Notwendigkeit zur Verwirklichung der
Freiheit des lesenden Lebens in Abwesenheiten (der Zeit, der Geschichte, der
Gedanken) als auch Anwesenheit als Freiheit von der Notwendigkeit des Sich-Vergegenwärtigens, wie abhängig sich das Anwesende aus
dem Abwesenden heraus verwirklichte. "Sieht" die erste Anwesenheit
Spitzen nur als Spitzen von Eisbergen, so die andere nur sich unterscheidende,
aber auf nichts verweisende oder zeigende Punkte auf einer Oberfläche
(vielleicht passte hier die heideggersche Zuhandenheit).
Der Text "ist" in der letzteren Anwesenheit, geht aber zur ersteren.
(Das Problem ist, zugespitzt: Man will immer nur die langsamen Sätze
hören.)
3) DER AUFBAU DER
UMWELT, IN DER DIE SYSTEMTHEORIE ALS SYTEM-IN-DER-UMWELT DES SYSTEMS KRITIK
AUFFINDBAR WIRD: ENGFÜHRUNG DES THEMAS IN DIE KANÄLE DES SCHREIBENS DURCH WEITUNG
DER HINTERGRÜNDE
"Das Individuum kann niemals zum Maß der Dinge werden, denn das Individuum
steht der objektiven Wirklichkeit notwendig als einem Komplex von starren
Dingen gegenüber, die es fertig und unverändert vorfindet, denen gegenüber
es nur zum subjektiven Urteile der Anerkennung oder der Ablehnung gelangen
kann"
Georg Lukács
"Der Bereich sprachlicher Äußerung ist ein geschlossener Bereich und
es ist unmöglich, aus ihm durch sprachliche Äußerung hinauszutreten. Da der
sprachliche Bereich ein geschlossener Bereich ist, ist es möglich, die
folgende ontologische Aussage zu machen: Die Logik der Beschreibung ist die
Logik des beschreibenden (lebenden) Systems (und seines kognitiven
Bereichs)"
Humberto R. Maturana
"Das Problem liegt also darin, wie man berücksichtigen kann, daß Hintergrundwissen und Erwartungshorizont eine Interpretation
zuwege bringen. Bei der Systementwicklung im Bereich künstlicher Intelligenz
hat das dazu geführt, der Repräsentation 'interne' Gesichtspunkte hinzuzufügen.
Das Programm zieht nicht nur Schlüsse über den Gegenstand selbst, sondern
versucht, diejenigen Aspekte interner Denkprozesse bei Sprecher und Zuhörer
nachzubilden, die für die Interpretation wichtig sind"
Terry Winograd/Fernando
Flores
Der unvermittelte Einzug der Uneinholbarkeit der Totalisierung von
Vermittlung als Verdinglichung ist nun ein (wenn nicht der) Ausgangspunkt des
Radikalen Konstruktivismus und der luhmannschen Systemtheorie, die es hier zu
betrachten gilt.
3.1 Invasive Introspektion
A) Was ist gemeint?
Invasive Introspektion will ich
all die Versuche philosophischer, soziologischer und vorallem
"erkenntnistheoretischer" 'Beschreibung' des Verhältnisses zwischen
Mensch und Welt, zwischen 'Subjekt' und 'Objekt', zwischen lebenden Systemen
bezeichnen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, Abschied zu nehmen von
Überzeugungen, die die Sprache als Medium, das Erkennen als objektives Begreifen
und Kommunikation als Prozeß des Verstehens
innerhalb des Repräsentationsparadigmas verorten, und sich nun darum bemühen,
Wissen, Verstehen, soziale Ordnung, Lernen und Kommunikation (u.v.a.m.) als offene Prozesse zu fassen, denen semantisch
mit einer theorietechnisch neuen Offenheit der Beschreibung Rechnung getragen
werden soll.[46] Der antirepräsentationistischen
(und zum Teil anticartesianischen) Stoßrichtung und dem Aufgeben einer Einteilung
der "Welt" in harte Fakten (Tatsachen) und bewußtseinsabhängige
Fiktionen (Imaginationen) kommen Begrifflichkeiten entgegen, die von der Realität
ausgehen als eine von vielen Möglichkeiten der Anschließbarkeit notwendiger
Reproduktion und Autopoiesis lebender Systeme; die
davon ausgehen, daß Unwahrscheinlichkeit das Selbstverständliche
ist; davon, daß Welt ohne Grund ist und also nur noch
dies als "Begründung" übrigbleibt: daß Systeme ihre eigenen Operationen im Rück- und Vorgriff
auf andere eigene Operationen erzeugen; daß Wissenszustände
keine "schlafenden Kopien früherer Erfahrungen" sind, die von Zeit
zu Zeit ins Bewußtsein gerufen werden; daß Berechnung und Erklärung des Anderen scheitert[47] ; daß
Verstehender und zu Verstehendes sich zirkulär bedingen; daß
also Organismus und Umwelt ineinander eingefaltet sind und sich in einer
grundlegenden Zirkularität auseinander entfalten
(genannt: Leben); daß
alter und Ego operational für sich immer getrennt bleiben, auch intrapsychisch (das alter Ego im Ego aus der Sicht Egos;
das Ego im alter aus der Sicht alters); daß es im Emergenzverhältnis zwischen alter und Ego - Subjekt und
Objekt - innerhalb der Systemrealität keine Hierachie
der Realitätsdichte gibt, etwa: daß die Realitätgewißheit organisch-physikalisch-chemischer Objektivationen größer ist als die Realitätsgewißheit
von Unterstellungen, die von black boxes erzeugt werden (die als gegeneinander intransitive
Partner Transparenz dadurch schaffen, daß das Unterstellen
zu einem Unterstellen des Unterstellens beim alter Ego führt[48]); daß
doppelte Kontingenz nicht hintergehbar ist; daß
gesellschaftliche Immunsysteme wie etwa das Recht nicht die Konsequenz
schlechter Anpassung an die Umwelt bedeuteten, sondern die Konsequenz des
Verzichts auf Anpassung; kurz und gut: daß nichts nahbar
wird (will sagen: im Wortsinne aufgeklärt wird). Zugleich verschwindet aber
auch für die Weltbeschreibungen, die von oben Gesagtem ausgehen, die Notwendigkeit,
auf die Differenz 'nahbar - unnahbar' zur Beschreibung von Welt einzugehen:
sie wird u.a. abgelöst durch die Sichtweise, wie
sich Weltzustände an andere Weltzustände anschliessen
lassen, und zwar in zeitlicher, sachlicher, sozialer und kognitiver Hinsicht;
bzw. abgelöst durch die Sichtweise, die sich alleine auf das Lösen (der Probeme des Darstellens) und das Darstellen von Problemen
spezialisiert. Exemplarisch wird diese Sichtweise im Konzept der
Selbstsozialisation, deren Folgen zu begrüßen sind, deren Ausgangspunkt
(nämlich die monadisch gefassten Bewußtseinssysteme)
allerdings theoretisch nicht akzeptiert werden kann. Luhmann sagt: "Als
Selbstsozialisation ist Sozialisation nicht irgendeine 'Übertragung' von vorwegbestimmten Normen, Kognitionen, Verhaltensmustern
oder sonstwelchen Daten von 'außen' nach 'innen'. So
mag es einem Beobachter erscheinen, [..] und so mögen auch Soziologen als
Beobachter den Vorgang sehen. Diese Auffassung ist denn auch nicht falsch, sie
bleibt aber relativ auf dem Standpunkt der Autopoiesis
des beobachtenden Systems und formuliert nicht die Perspektive, in der der Sozialisand sich selbst sozialisiert".[49]
Der Terminus invasive Introspektion
läßt sich im übrigen vor allem bei den Texten
Luhmanns als Nachfolger dessen verstehen, was man bei Husserl
- in seinem Buch "Ideen zu einer reinen Phänomenologie und phänomenologischen
Philosophie" - mit seinem Verfahren der "Einklammerung" (epoché) als philosophische Introspektion
bezeichnen kann (die ihrerseits implizit auf Wilhelm Munds psychologische Introspektion zurückgeführt werden darf). Husserls Begehr, die sogenannten
intentionalen Gehalte des Geistes rein intern und ohne Bezüglichkeit zu Gegenständen
in der Welt, zur Dimension der Sprache und ohne Bezüglichkeit zur Dimension konsensuell geprägter Erfahrung bestimmen zu können, findet
sich empiri-, systemi-, zirkulari- und naturalisiert wieder in Luhmanns
Systemtheorie.[50] Allerdings handelt es sich nun
nicht mehr um 'Wesensschau', sondern um das sich allüberall ausbreitende
Beobachten einer wesentlichen Absenz irgendeines Wesens.
B) Das Selbst im Außen
Die im hiesigen Sinne verstandene invasive Introspektion als elementares Konstituens
von Welterzeugung im nichtmetaphysischen Sinne flieht der maßgeblichen
Architektur von theoretischen Angeboten, Sinn, Welt, Bezüglichkeiten und Situationen
zu definieren: nämlich der Architektur von (theoretischen) Erwartungen an die
Gründungskraft "des" Grundes. Mit Hilfe einer Begrifflichkeit, wie
sie sich etwa in "doppelter Kontingenz", "Emergenz",
"Selbstreferentialität", "Autopoiesis", "subsymbolisches Paradigma"
und "Kopplungsviabilität von Emergenz
und Welterzeugung" dartut, versuchen die sie benutzenden neuen Beschreibungen
einen Bewußtsein endgültig naturalisierenden Weg der
Verrückung und Auflösung bis dato gebräuchlicher Grenzen und Zusammenhalte zu
gehen, der Sinn-, Erklärungs-, Verortungs- und Verstehensangebote unerreichbar
macht, die sich an den Leitdifferenzen "Wesen - Erscheinung",
"Subjekt - Objekt", "materiale Präsentation - semiotische
Repräsentation" und "Universalismus - Partikularismus"
orientieren. Die fortgeschrittene Systemtheorie, der viable
Konnektionismus, Theorien über mutualistische
Konstitutionen von "Sozialität" stehen dabei vor dem Problem, trotz
Aufgabe materialer Intersubjektivität, trotz Aufgabe eines Denkens, das noch
von einer gemeinsamen Benutzung von Elementen durch verschiedene Systeme, und
trotz Aufgabe interner Verklammerung von Kultur, Person und Gesellschaft in
der Lebenswelt Bedingungen angeben zu müssen, die die kulturelle Reproduktion,
die Sozialisiation, die Sozialintegration und die
individuell geführte kollektive Kommunikation als ausschließlich extern und kontingent verbundene und gesellschaftskonstituierende
Systeme erklärt (semantische Reproduktion), ohne auch nur ein Jota an Verschmelzung,
an evolutionärer Emergenz von Verschmelzungsformen
oder von Transzendenz beizugeben. Zu diesem Behufe stehen Begriffe wie
Interpenetration, strukturelle Kopplung, Beobachtung zweiter Ordnung bereit,
deren einzige Aufgabe es ist, bestimmte, scheinbar intern verbundene
'Systeme' wie etwa Individuierung und Vergesellschaftung
als bloß temporäre und sequentielle, operationell oder strukturell gekoppelte
Verbindungen zu beschreiben, damit das wichtigste eines funktional differenzierten
und autopoietischen Sozialsystems gewahrt bleibt:
nämlich ein allgegenwärtiges hohes Auflöse- und Rekombinationsvermögen
der sich extern aufeinander beziehenden Systeme. Vor allem die biologische
Epistemologie H. Maturanas, auf der ein maßgeblicher
Strang des radikalen Konstruktivismus fußt, macht radikal ein Ende mit (aus dieser
Sicht) leichtfertigen Annahmen von Gemeinsamkeiten verschiedener Systeme, mit
leichtfertigen Unterstellungen von Verstehensakten und leichtfertig als
objektiv angesehenen Übereinstimmungen zwischen Systemen (der Kognition, der
Verständigung, des Verhaltens): Der "Andere", das "Andere",
die "Welt", die "Anderen" sind endgültig und irreversibel
unzugänglich, auch das Beziehungsgerüst Egos zu seiner "Welt", in
der er ist (Heidegger), bleibt reflexiv nicht einhol- und positiv bestimmbar.
Gesellschaftskonstituierend ist einzig ein
"ontologisch" völlig anders gearteter Raum, der Raum der Beobachtung
(von Beobachtung), des Fernsehens, des Hin- oder Hineinsehens in das Außen des
Beobachters, der beobachtet. Diese theoretische Grundlegung elementarer Bezüglichkeit
zwischen Lebewesen, Systemen und Sprachen, wie sie die biologische Epistemologie
und der davon beeinflußte Systembegriff Luhmanns
entwerfen, birgt zumindest Ambivalenz: Es geht in der Beziehung zur Welt da
draußen, zum "Anderen", erstblicklich nicht
vordringlich um Vereinnahmung, nicht um Okkupation, nicht um Reduktion auf
das, was Ego wichtig ist, sondern es geht darum, anzuerkennen, daß das Verstehen des Anderen logisch gekoppelt ist mit
"es-sein-lassen"; immaterielle Beobachtung, nicht materielle
Bearbeitung ist der Flaschenhals zur Erkenntnis. Was könnte der Akt der
Beobachtung bedeuten?
C) Die Unberührbarkeit des
Beobachtens
Hineinsehen: Hin-einsehen könnte meinen, das
Objekt des Sehens bleibe dort am Platze, wo es ist, einzig der Sehende muß sich bewegen, zu es hinbewegen, um es zu sehen. Die
räumliche, lokale, ökologische, materiale Dimension des Gesichteten bleibt
untangiert, bar einer Zurichtung, die bewerkstelligte, das Zusehende dem
anzupassen, was man sehen will (oder nur kann). Die Entfernung zwischen Seher
und Gesehenem wird anerkannt durch ihre gewollte Überwindung im Bewegungsakt
des Sehenden zum Gesehenen hin, und nicht eliminiert durch Feststellung des
Gesehenen als Gewußtes, dessen man nicht mehr innen
einsichtig werden muß, um es zu begreifen (etwas zum
stehen bringen, meist gewaltsam, um es dann zu verstehen).
Hineinsehen: Hinein-sehen könnte meinen, daß das reale Objekt in seiner Empirik
notwendig ergänzt wird durch ein imaginiertes, assoziiertes, symbolisches. Die
konkrete Gestalt des Gesichteten wird einzig anerkannt, um von ihr zu
abstrahieren. Die Resultate des Hineinsehens ins Objekt bleiben aber, anders
als bei der Interpretation (etwas Hineininterpretieren), dem real Gesehenen
strikt äußerlich, von außen kommend und als von außen Kommendes anerkannt.[51] Die tatsächliche Kontextualität des Objekts wird nicht negiert durch das Hinein-sehen (wie es etwa beim Hineintuen
oder auch beim Hineinreden der Fall ist), sondern das Hineingesehene wird
verstanden als Erkenntnisgast im erkannten Objekt. Das gesehene Objekt wird
nicht erkannt als Erkenntnisobjekt; Objekt der Erkenntnis ist das, was nicht
gesehen wird im Gesehenen, auch nicht notwendig ist für das Gesehene, sich aber
in es einbilden läßt, ohne das Gesehene sich
anverwandeln zu müssen. Das Objekt der Introspektion,
Attraktor des introspektiven Prozesses, wird im
Laufe der Inspektion als Objekt abgelöst durch den Introspektierenden
selbst, dem nun gewahr wird, daß das anfängliche Objekt
nur die Rolle der Verkörperung einer Äußerlichkeit
zu spielen hatte, damit sich der Akt des Hineinsehens selbst veräußerlichen konnte. Dieses durch
Zeit gewährleistete Veräußerlichen des Hineinsehens wird in dem Moment
unabhängig vom anfänglichen Objekt (das mittlerweile zum Appendix wurde) und
damit erkenntnis-wert, in dem die Beobachtung des veräußerlichten Hineinsehens, also die second
observation, sich
als das verkörpert sieht, was die erste Beobachtung, das Hineinsehen in
ein Objekt, als Veräußerlichtes darstellt.
Invasive Introspektion meint, daß auch eine schwache, wenig in die Welt und deren
Gegenstände eindringen wollende Art der Erkenntnis durch ihre Ausweitung auf
das Draußen der Welt (und nicht mehr nur auf das Innen der Psyche) in ebendieses
Draußen eindringt und Verwüstungen anrichtet, die nun nicht mehr unmittelbar in
der realen, empirisch materiellen Welt dingfest werden (Umweltzerstörung,
Krieg, Depressionsarchitekur, Ausbeutung), sondern
sich in denen abspielen, die draußen bleiben (von draußen aus in die Objekte
hineinschauen). Die Empfänger dessen, in das die Sonden gesteckt werden, auf
das die Kameras gerichtet sind, über das sich die Zeichen, Codes, Bilder und
Worte legen, ohne Kontakt zu nehmen, exekutieren in einer nur noch simulierten,
imaginierten und symbolischen (semiotischen) Bezüglichkeit mit der Welt da
draußen ihre Apotheose der Einsamkeit in der und ihr Abgetrennt-sein
von dieser Welt. Mit etwas Mut zum Mythos ließe sich sagen, die modernisierte
Natur des Menschen und die Kultur der Moderne rächten sich dadurch, daß sie die Unerträglichkeit, daß
sie das Unverfügte der Herrschaft über die Objekte nun in Permanenz
reproduzieren mit Bildern dessen, was einmal Grund und sogar Ursache dafür war,
sich einzubilden in sie, jetzt aber nur noch als rohes, antiquiertes Überbleibsel,
quasi als materiales Substrat der algorithmisierten und digitalen Bilder
wahrnehmbar bleibt: als Erinnerung, was alles verloren ging dadurch, es
aufgelesen zu haben.
Was rechtfertigt es zu behaupten, in diesen Versionen der Systemtheorie
und des Radikalen Konstruktivismus (plus seiner Technologie) sei eine
totalitäre Vernunft ausfindig zu machen, und noch dazu eine, die jenseits der
Moderne sei resp. orthogonal "auf" ihr stehe? Beide Theorien, die
eine Gesellschafttheorie, die andere (in ihren
Ursprüngen) eine biologische Theorie des Lebewesens, sind nicht nur universell,
d.h. sie lassen nichts, was es gibt, aus[52], sie sind auch unilateral. Das
dürfen, ja müssen sie, da sie gleichzeitig auch spezifische Theorieprogramme
sind, d.h. die "Welt" mit einer bestimmten Leitunterscheidung zu
beschreiben suchen (und eben nicht mit anderen). Das gleiche gilt auch für Habermas' Theorie: sie beansprucht Universalität,
beschreibt die Welt hingegen unilateral entlang der Differenz
verständigungsorientierten versus zweckrationalen
Handelns (um es einmal fahrlässig zu vereinfachen). Unilateralität der
Theorien macht also kein Aufhebendes, zumal ihnen unterstellt wird, jenseits
der Moderne zu sein, also einem
bestimmten Charakter ebendieser nicht mehr zu folgen, der darin besteht, einen
"geschichtsmetaphysischen", einen "teleologischen" Rahmen
zu beanspruchen, der als zumeist zukünftiger die Gegenwart und das Leben in
dieser radikal verbraucht für die Eigentlichkeit
des Menschen in der Zukunft. Systemtheorie und Radikaler Konstruktivismus sind
demgegenüber radikal utopieamputiert (und lassen nicht einmal hinreichende Ableitungen
zu den unsichtbaren Utopien namens Demokratie und Freiheit zu), ihr Maßstab
ist vollständig jenseits innergesellschaftlicher Differenz: Es geht entweder
darum, daß ein lebendes System viabel
ist, also nicht stirbt (wobei dann auch ein Todkranker auf einer Intensivstation
in seine Umwelt passt, also viabel ist), oder darum,
daß die Gesellschaft genügend Komplexität bereitstellt,
um die unendlichen Anschlußmöglich und -nötigkeiten
zur Reproduktion ihrer selbst zu realisieren (um sie dann gleich wieder zu
verwerfen, um neuen Platz zu machen). Ob ein Lebewesen strukturell unterdrückt
oder eine Gesellschaft im Kern irrational die Fortsetzung der Autopoiesis bewerkstelligt, bleibt dabei zweitrangig: Fürs
Überleben, so das vielzitierte Diktum, reicht
Evolution. Es geht also beiden Theorien nicht um eine Bestimmung eines Zieles
für Gesellschaft und Individuum, auch nicht einmal um eine
"Kultivierung" des Dschungels oder gar um das Zurückdrängen des
Dschungelgesetzes in seiner Wirkmächtigkeit auf das Leben vergesellschafteter
Menschen mittels rationaler Plannung, sondern
darum, noch den Dschungel als gesetzlos zu fassen und einzig das Überleben
darin mittels theoretischer Kartographierung
desselben in seinen Bedingungen zu beschreiben. Die Geschichte ist nicht mehr
befragbar für das Ganze, weil es das Ganze nicht mehr
gibt; Realitätsbezug ist nur noch durch einen Abgleich systemischer Operationen
möglich - "also darin, daß bestimmte Formkombinationen
nicht gehen!"[53]; Kommunikation als Medium für
Konsens und Bedingung des Prozessierens von Konflikten eruiert auch keine sozialevolutiven Vermögen mehr, die im Prospekt die Bewußtseins- und Lebenslagen der Individuen verbessern
könnten[54]; Menschen sind die, um die es
am wenigsten geht, wenngleich alles um sie herum auf sie zu konvergieren
scheint: aber das sei, so Luhmann, ein Irrtum. Den Menschen, so der Radikale
Konstruktivismus, gibt es nicht: es gibt Beobachtungen autopoietischer
Maschinen (die selbstreferentiell, homöostatisch, autonom, strukturdeterminiert und geschlossen
sind) über/von autopoietische(n) Maschinen (die selbstreferentiell, homöostatisch,
autonom, strukturdeterminiert und geschlossen sind), die beobachten,
wie...usw. Der Effekt solcher Konstruktionen des Menschen kann, wie oben
bereits erwähnt, eine positive Ambivalenz erzeugen, etwa wenn aus dieser Sicht
strikt logisch abzuleiten ist, daß es unzulässig
ist, "eine Kultur aus der Perspektive einer anderen als 'erfolglos'
anzuprangern"[55] (wird es aber auch unzulässig
werden, andere Kulturen als barbarisch zu bezeichnen?). Endgültig verlustig
gehen hingegen Kriterien, die soetwas wie eine
(mittlerweile vielgeschmähte) kritische Distanz zur
Gesellschaft zulassen, die allein zu bestimmen fähig wäre, innerhalb welchen
Maßstabes das gegenwärtige "Sein" der Gesellschaft mit einem
prospektiven "Sollen" vermittelt ist. All solche Kriterien können
für die hiesigen Theorien bloß Zweit- oder gar Drittcodierungen sein, innersystemisch
generierte Unterscheidungen, die niemals für die Gesellschaft als ganze
(wie vormals in der Polis) Geltung besitzen. Die Abstraktheit der
Unterscheidung Viabilität/Nichtviabilität
via Selbsterhaltung und -erzeugung der geschlossenen Systeme degradiert
alle Handlungen und Verständigungen als Ausflüsse eben dieser Leitdifferenz:
Verständigung, Solidarität, Kommunikation erscheinen somit als eine Art Luxusausführung
eines ausschließlich je systemischen Imperatives der Selbsterhaltung. Was Horkheimer und Adorno mit dem Begriff der instrumentellen
Vernunft einfassten (dem Habermas mit seiner
Reaktivierung der kulturellen Rationalität einen vernebelten Lichtblick entgegen
setzten wollte) und als Totalität erfassten, das setzt der biologische
Konstruktivismus als empirisch voraus und die Luhmannsche Systemtheorie endgültig
in die Gesellschaft ein, deren Begriff damit ebenfalls endgültig lösgelöst ist von den Konnotationen einer Gesellschaft mit
menschlichen Antlitz (wenngleich Luhmanns Antihumanismus mehrheitlich nur ein
methodischer ist).
3.2 Ein kleines Gespräch[56] vor dem Anfang
"Worüber reden wir jetzt?"
"Sie meinen, worüber reden wir jetzt?"
"Womit wir anfangen ist egal. Sie können auch das Reden
herausgreifen, oder das 'wir'. Oder von mir aus den ganzen Satz, den noch zu
schreibenden Text, in dem der Satz wohl einmal aufgehoben sein wird, den
Kontext, in dem der Text sich verorten lassen muß,
den Kontext, der sich auf seine kulturellen und philosophischen Erbschaften
wird abklopfen lassen müssen...- es ist egal: Überall ist anzufangen, wo das
Material nichts mehr hergibt (: aus freien Stücken), mit dem was anzufangen
ist (: aus Notwendigkeit)".
"Was dann aber bedeutet, Rattenschwänze an Einkreisungen, an
Herausfindungen, an Auslotungen und Versprechungen sich aufzuhalsen, um erst
den schmalen Korridor auszumachen, in dem wir überhaupt miteinander zu reden
vermögen, n'est-ce pas?"
"Nun ja, lassen wir das. Lassen wir uns reden über das Verlorengehen,
über das Auslaufen, das Abdriften all dessen, was uns durch sein Heranziehen,
sein Feststellen und sein Aufheben über Jahrhunderte das Denken in Kohäsion
befindlich erscheinen ließ[57]. Über das, was wir in paradiesischen
Momenten des selbstirrenden Denkens im Kessel der
Affinität und Universalität von Zeit, Raum und Artefakt dem Wunder des Her-Stellens ohne Wachstum überantworteten, dem nichtglaublichen
Projekt, produzieren zu können, was nicht aus der Materie wächst.[58] Lassen wir uns ein in die
Schleifen derjenigen Begriffe, die soviel soziale Symbolik vermittelten, daß völlig aus dem Sinn geriet, wie abhängig sie an den
"Mythen des Fortschritts und der Revolution" [G. Marramao],
an der Futurisierung und der Entwerfbarkeit der
Geographie, und an der Pervertierung des "unfertigen Menschen"
sowohl zu einer unendlich dehnbaren Masse als auch zu einem rigide reduzierten
Automaten befestigt waren".
"Warum sollten wir? Ich kann nicht ganz nachvollziehen, warum wir
nur über genealogische, über rekonstruktive Hängebrücken Zutritt finden werden
zum Uterus des sagen wir okzidentalen Rationalismus[59], warum wir überhaupt Anschluß zu suchen haben an eine Begriffs-, eine Ideen-,
eine Produktions- oder auch Praxisgeschichte[60], auch wenn der Anschluß mit einem vermeintlichen Abschluß
in eins zu fallen scheint. Warum antwortgebährende,
verantwortliche oder gar logische Bezüglichkeit immer wieder herstellen
wollen zwischen verschiedenen Welten, Kulturen, Gedanken, Begriffen,
Kontinuitäten und Dissonanzen? Warum Ausscheidung als ein Anwendungsfall
von Verschiedenheit denken wollen, und nicht als das, was sie bedeutet, nämlich
die logische Bedingung der Ermöglichung des Unterscheidens? Wir denken immer
noch so, als könnten wir denken, so wie wir immer noch zufuß
gehen, als könnten wir uns bewegen. Wir bedenken immer noch Dinge (Kant,
Hegel), Sachverhalte (Wittgenstein), Paradoxien (G.Spencer
Brown) und Relationen (Kybernetik) so, als könnte man mit dem Erklären des
Beschreibungsmediums im Medium des Beschreibens das, was zu beschreiben ist,
klären (Strukturalismus). Kaum hat die Transzendenz ihren Thron verlassen, von
dem aus sie Raum, Zeit, Mensch und Gesellschaft einigermaßen in und sei es nur
imaginierter Konvergenz hielt, schon nimmt die Kontingenz dort Platz und
zelebriert die Forderung, daß jeder Zusammenhang,
der sich einer "Verschmelzung", einer Symmetriisierung
und damit einer gewissen Unabhängigkeit gegenüber den (systemspezifischen)
Kontexten (also Umwelten) verdanken soll[61], der also eine Art
teleologische Notwendigkeit für sich beansprucht, sofort zu beweisen hat,
"negierte Kontingenz" zu sein[62]. Kaum sieht sich die formale
Logik gezwungen, ihren durch sie mit Schließungsprinzipien versorgten Raum
faktisch[63] stattfindender Entscheidungen,
Entschließungen und Unterscheidungen zu provinzialisieren (etwa induziert
durch die Krise des Repräsentationsparadigmas, durch die Krise der Implementierung
menschlichen Denkens auf Maschinen), schon steht eine nicht-Aristotelische
Logik (G.Günthers), ein polykontexturaler
Weltbegriff (der sog. second order cybernetics) und
ein Formen- bzw. Indikatorkalkül (G.Spencer Browns)
zur Verfügung, um der "neuen" Aufgabe gerecht zu werden,
"Formen zu identifizieren, die auch im Chaotischen noch eine Ordnung
erkennen lassen"[64]. Kaum läuft die Batterie des
Menschenbildes aus, das diesen aus seiner sozioanthropologischen,
aus seiner gesellschaftlichen und kommunikativen Wirklichkeit verstand, schon
erklären uns Theorien der Biologie der Kognition (allerdings nicht
biologistisch), daß der geeignete Flaschenhals für
das Selbstverständnis des Menschen der sei, ihn als biologisches Lebewesen zu
betrachten (und eben nicht mehr zuvörderst als sozialgeschichtliches), das
sich in der Bedeutungswelt seiner kognitiven Konzepte bewegt, die mit der
Semantisierung dieser Konzepte in der Sprache sowenig zu tun haben wie die
neurophysiologischen Perzepte mit den kognitiven
Konzepten, die diese erst bedeuten. Und kaum schwindet die Überzeugung, daß Intersubjektivität die Bedingung für Kommunikation
ist, zementiert die Systemtheorie den Umkehrschluß,
die Kommunikation sei Bedingung für "Intersubjektivität", mit der
Konsequenz, auf die übersubjektiven, quasi das Psychische und das Soziale in
einem Dritten überordnenden Sprachstrukturen zu verzichten[65], aus denen erst soetwas wie eine Einheit oder Identität der Gesellschaft in
den praktischen Formen gemeinsamer Öffentlichkeiten herleitbar
ist. Man könnte gar, vorausgesetzt, man akzeptiert nicht die Ausbildung geistig-kultureller
Lebensweisen als 'Evolution' einer in der Naturgeschichte des Menschen
angelegten Organisationsform, von einer zweiten Vertreibung (andere würden
sagen: einer zweiten Menschwerdung) des Menschen sprechen: nach der Dissoziierung von der Natur, wie sie Horkheimer
und Adorno trotz vorhandenen Geschichtspessimismus' doch noch dialektisch
einfangen konnten in einer Sichtweise des "Ent-fernens
von" (Inhibierendem) und nicht nur in einer
Sichtweise des "Entfernens von" (dem 'Anderen' des Menschen), nun die
Dissoziierung von den gesellschaftlichen, kultuellen und sprachlichen Räumen, in denen Individuation
und Sozialisation, Objektivität und Solidarität, Vielheit und Einheit,
Besonderes und das Allgemeine, alter und ego disseminiert werden konnten. Zurück bleibt die Einsamkeit
des Menschen nicht nur in der Natur, sondern auch in seinem Selbst, das als
Selbst dann wohl doch nur die Gestalt eines Auto-Systems konstituiert. Zurück
bleibt das niemals abstreifbare Unbehagen des
Menschen[66] an seiner zweiten Haut (die wissenschaftlich-technische
Zivilisation) und die damit verbundene Einsicht in den Zwang, sich auf das zu
reduzieren, was ihn reduziert: auf die Ver-mittlung
der Zwecke von Mitteln, auf die Reduktion von Bedeutung auf Funktion. Zurück
bleiben (die Begriffe) Beobachter, strukturelle Kopplung und konsensueller Bereich, die sich im "Innen", das
sein Außen verloren hat, einrichten bzw. einstellen und nichts übrig lassen
außer einer beobachtungsinvarianten Welt, deren Einheit darin besteht, daß Beobachtungen beobachtet werden können, und nicht
darin, was die Beobachtungen in einem Dritten, das Beobachtetete,
verbindet. Der Mensch bleibt in seinem Innen draußen aus dem vormals
eingeschlossenen Dritten (die Sprache, die Gesellschaft), indem das Dritte
nur noch als ausgeschlossenes Drittes eingeschlossen wird. Aber wo ist es eingeschlossen?
In der Realität, der Wirklichkeit, der Welt? Wie es aussieht wohl nur in der Autopoiese. Und damit wäre die Selbsterhaltung des
Subjekts (die jetzt allerdings unter anderem Namen, nämlich Selbsterschaffung,
auftritt), die die kritische Theorie Adornos als die Selbstbewegung des
Menschengeschlechts ausmachte und zu denunzieren suchte, perfekt: Bis hinein
in die biologisch-kognitiven Ausstattungen des nur noch empirischen Subjekts
wäre so evident gemacht, daß jegliche Offenheit,
jegliche Interaktion und Kommunikation bis hin zu den ausdifferenzierten Formen
verständigungsmotivierter intersubjektiver Kommunikation innerhalb der Welt
als Zeichen/Bedeutung (also der sprachlichen) nichts anderes seien denn
"Wirkungen" der Bedingungen zur Ermöglichung von Fortsetzbarkeit geschlossener
Reproduktion geschlossen bleibender Systeme. Jeglicher Austausch, jeglicher
Kontakt, jegliche interaktive und kommunikative Strukturbildung, jegliches
Überindividuelle Tun, jegliche Kooperationen, jegliche Verschmelzungen,
Vereinigungen oder gar Versöhnungen blieben immer eingebunden in der nur einen
Wirklichkeit des sich selbst schaffenden Systems, würden niemals eigene, neue Tableaus schaffen zwischen "Mensch" und Realität,
wären also letztlich nur Instrument; nicht auch Instrument, sondern nur
Instrument einer ausschließlich biologisch-kognitiven und systemgeschlossenen
Grundlegung. In gewisser Weise geht dieses neue, systemtheoretisch und
kognitionsbiologisch fundierte Vokabular der Selbstvergewisserung und
-verortung des Menschen in der Welt (und nicht mehr in der "Welt")
über die Menschenweltbilder eines genetisch fundierten biologischen
Fundamentalismus hinaus (wenngleich dessen Hegemoniewerdung erheblich grausamere
sozialpolitische Konsequenzen mit sich zöge): Während dessen Austreibung des
Menschen aus seiner psychischen, sozialen, kulturellen Haut relativ einfach
als Resultat einer geschickten Konfusion von Kausalität und Korrelation zwischen
bestimmten Genen und psychosozialen Erscheinungsformen nachgewiesen und ad
absurdum geführt werden kann[67], so besetzt der Radikale
Konstruktivismus einen Anspruch auf Erklärung der Bedingungen von
Welterkenntnis und Weltwissen in derartig umfassender Weise mit den
biologischen Bedingungen der Existenz des Menschen, daß
sich jede oppositionelle Erklärung der Bedingungen von Welterkenntnis und
Weltwissen etwa anhand der sozialen und kulturellen Daseinsbereiche des Menschen
unversehens in ihren eigenen biologisch-kognitiven Voraussetzungen verfangen
lassen kann, nimmt sie sich nicht vordringlich der Aufgabe an, dieses biologisch-naturalistische
Konzept des Menschenweltbildes seinerseits plausibel als nur im Rahmen
diskursiver Erkenntnistheorien bzw. diskursiver Rationalität entscheidbar
und der Leitdifferenz wahr/falsch unterstellbar zu
kritisieren".
"Sie müssen aber jetzt aufpassen, daß Ihr
Absehen von jeglicher Wiederherstellung des sozialen Raumes, der sozialen
Zeit und einer sozialen Identität unter Berücksichtigung der Unbegründbarkeit
von bis dato teleologisch daherkommenden Zukünften der Freiheit, der Gleichheit,
der Solidarität und der gerechten Ordnung nicht dort landet, wo Heidegger mit
seiner ontologischen Differenz nur noch Seinsvergessenheit ausmachte; in Ihrem
Falle wäre die nicht mehr nur auf das Abendland beschränkt, sondern gälte dann
wohl für den gesamten anthropologischen Menschen. Sie hätten das Dasein
endlich festgestellt. Die Feststellung, die biologischen Parameter des Menschen
seien nicht bloß notwendige Bedingungen für die Schaffung sozialer,
historischer und individueller Schnittmengen, Synthesen und Räume, sondern
"konstituierten" ebendiese als bloße Emanationen ohne Eigenwert und
ohne Transzendenz, als bloße Appendizes und Supplements[68], konvergierte dann etwa mit
der Feststellung des geschichtsphilosophischen Adorno, die gewalttätigen Realabstraktionen
der Tauschwertproduktion (also einer historischen Formation) seien letzlich nichts anderes als Emanationen der Gewalt der
Gebrauchswertproduktion (also einer anthropologisch konstanten Dimension)[69]. Beide wären ein Einstehen für
die Überzeugung, daß die Zeit, in der Grenzen bloß
durch Logik, Arbeit, Sprache und Zeit gezogen wurden und doch durch diese
überschritten werden können, vorbei ist. Die Odyssee des Helden Mensch durch
die Zeitgestalten "rationales Tier", "arbeitendes Wesen"
und "kommunizierendes Subjekt", zusammengehalten bzw. verdinglicht
durch List, Herrschaft und Eigentum[70], entpuppte sich nicht als Sichtung
nach Stützpunkten des Sinns, der Vernunft[71] und des Glücks, sondern als
das, was sie war: ein Unterwegs-Sein (P. Sloterdijk) auf den Meeren der Kontingenz
(und eingebettet vom Rauschen der Meere), mögen die Deutungen,
Unterscheidungen und Erklärungen der Künste und der Wissenschaft auch noch soviele empirische Bedingungen der Möglichkeit dieser
"Unentwegtheit" erfolgreich zur
"Landung" bringen. Die Deutungen und Erklärungen wären nichts anderes
als Anfertigungen von Beschreibungen der Odyssee durch Mitreisende, quasi
Auszugsgestalten, die für eine bestimmte Zeit die Permanenz der Operation Reise
(oder, moderner gesprochen: der Operation Anschluß) verunsichtbaren, um (semantisch) festzuhalten, was es nur
als Unhaltbares gibt. Sie wären nichts anderes als Versuche, im Fallen
herauszubekommen, was der Fall ist: der Fall ist dann zwar semantisch der
feststehende Fall, empirisch aber nur im Zustande des Fallens. Es gibt keinen
Fall des Falls, sondern nur noch Fälle des Fallens. Vergleichbar ist dies mit
einer anti-philosophischen Bestimmung des Bewußtseins:
Die Einheit des Bewußtseins ist nicht mehr verankert
in der letzten, sich selbst transzendierenden
Synthese desselben, nämlich dem transzendentalen Subjekt (Kants), sondern die
Einheitlichkeit des Bewußtseins besteht in der
generellen Verfügbarkeit der Information. Nicht das Ich, sondern die
Information konstituiert das Bewußtsein. Erkennen und
Empfinden liegen nicht deswegen vor, weil es ein Subjekt gibt, vielmehr ist
das Subjekt des Erkennens damit gegeben, daß
überhaupt eine Empfindung vorliegt.[72] Die bahnbrechende
und das bis spät ins 19.Jahrhundert hinein wirksame Repräsentationsmodell
ablösende Erkenntnis der Wissenschaften, es nicht mit der Natur, sondern nur
mit unserer Kenntnis der Natur zu tun zu haben, steht nun ihrerseits davor,
abgelöst zu werden von der Erkenntnis, daß die
Kenntnisse nicht einem in der Realität stehenden Subjekt, sondern ausschließlich
der (jeweiligen) Wirklichkeit eines Beobachters "zukommen"; zurück
bleibt, als letztes gemeinsames Drittes, nur noch die Operation Beobachtung,
eingezwängt in eine rigide zeitliche Sequenz."
"Nun ja, ich weiß nicht, ob ihr implizites Unbehagen implizit nicht
wieder einen blinden Aktionismus der Theorie favorisiert, der entweder wie
wirr nach neuen Subjekten der Geschichte, der Erkenntnis, der Gattung Mensch,
der sozialen Bewegung oder nur gar der Bürgerlichkeit sucht, oder der sich ins
Reich des Schattens begibt, um im Verdrängten, Ausgestoßenen und inkommmensurabel Gemachten Anschluß
an eine neue Plattform namens Subjekt bzw. Identität versucht. Beides halte ich
für Verstärker eines turbulenten Stillstands, für ein Zucken der Glieder im
Zustande der Verletzung, die den Schmerz noch nicht voll ausgebildet hat. Wir
stehen nach der neolithischen, kopernikanischen, darwinschen, freudschen, nach
der linguistischen und soziologischen Entzauberung des Menschen nun mit einem
Wissen über seine Stellung in und seine Beziehung zu der Natur, in und zu der
Kultur, zu und mit Seinesgleichen und seine Beziehung zu sich da, das seiner
eigenen Entzauberung harrt, aber, wohl aus einer noch nicht einsehbaren
Finalität heraus, bis jetzt in Ruhe gelassen wurde. Vielleicht ist aber auch
der gewohnte Modus der Entzauberung müde bzw. selbstreflexiv geworden. Das
Fugenlosmachen bzw. das Fugen-Losmachen in Tateinheit mit der Besetzung leerer
Sinn- und Gefügestellen durch Techik und Technologie,
also Dekonstruktion des In-der-Welt-Seins und
Konstruktion der Welt als die maßgebenden Beschäftigungen des Menschen mit der
Welt, scheinen sich schon längst abgekoppelt zu haben von ihrem (metaphysisch
gesprochen) agens, der Sorge (als Sein des Daseins)[73], um nun, als
"Wirkungen" auf Suche nach ihren Ursachen, richtungs-, visions- und horizontlos ihre durch sie selbst initiierten Prozesse der
Beschleunigung, der Verwertung, der Sichtbarmachung
und der Vernichtung nicht nur auf den genuin menschlichen Raum loszulassen, sondern
mittlerweile den planetarischen mit ins Vernichtungsspiel einzuschliesen.
Der Mensch als eingeschlossener auf der Erde schließt diese Erde in sein Spiel
mit ein, da er sich aus den Kreisläufen dieser entfernt hat, in denen es kein
Anfang und kein Ende gibt, sondern nur verschiedene Stadien der Transformation.
Aus solch einer planetarisch-ökologischen Sichtweise wären dann etwa alle
Versuche, den Sinn des Menschen durch Interpretation seiner
"Abfälle" zu erkunden, hinfällig: Die Stellung des Menschen als
einziges Lebenwesen der Erde, das Abfälle produziert,
behielte auch durch Rekonstruktion derselben ihre vollständige Alienation.[74] Die Leere, die man spürt,
schaut man in Richtung Zukunft oder in Richtung Vergangenheit (für viele, für
immer mehr sogar scheint diese Vergangenheit der letzte Halt zu sein), diese
Leere nicht nur an alternativen Formen des Zusammenlebens,
Zusammenwirtschaftens, Zusammenverkehrens, sondern auch an kollektiver
Phantasie, an Imaginationskultur, diese Leere gewinnt mit der Systemtheorie
und der Theorie der Kognition ihre erkenntnis- und wissenschaftstheoretische
Fassung[75]: beide gehen aus vom Nichts,
aus dem heraus sich etwas selbst schafft, aber auch (bis es stirbt) selbst
bleibt. Beide riegeln lebende bzw. kommunizierende Systeme hermetisch ab in
ein jeweils als primordial zu verstehendes autopoietisches System der Kognition bzw. der Kommunikation,
von wo aus entweder über das Erlangen von strikt eigener Geschichte
bestimmter rekursiver Organisationen strukturelle Kopplung mit der Umwelt entsteht,
oder über das Erlangen einer eigenen Geschichte bestimmter rekursiver Organisationen
der zeitlichen Kopplung von Bewußtsein und
Kommunikation soetwas entsteht wie Konsens, Konsens
allerdings, der niemals als Identität einer Differenz (von System und System,
von System und Umwelt) herhalten kann, sondern imaginäre Institution
bleibt: für den einen und für den anderen. Jede Zusammenfassung des einen und
des anderen ist eine Zusammenfassung durch eine Beobachtung, die als Beobachtung
hermetisch in der Geschlossenheit (aber nicht: Abgeschlossenheit) des einen
oder des anderen verbleibt. Was immer auch an Gemeinsamkeiten durch Sprache,
durch Bedeutungen, durch Handeln erzeugt werden mag: es bleiben Gemeinsamkeiten,
die dem System systemimmanent aneignungsfremd bleiben: "Wahrnehmung und
Wahrnehmungsräume spiegeln folglich keinerlei Merkmale der Umwelt, sie spiegeln
vielmehr die anatomische und funktionale Organisiation
des Nervensystems in seinen Interaktionen".[76] Als Konsequenz dieser Stellungsgabe
des Menschen in der Natur und in der Welt verlören bestimmte Begriffe und Metaphern
zur Bestimmung des Menschen ihren Halt: das "Du", das
"Wir", das Bild des Spiegels (entweder der Natur oder des Selbst),
der Begriff der Sozialisation, der des generalisierten Anderen[77], der der (Holzkampschen)
"Je-Meinigkeit" als Resultat einer objektiv
gesellschaftlichen Wirklichkeit... . Zurück bleiben also, träfen kognitionsbiologische
und systemtheoretische Beschreibungen (die als Erklärungen auftreten) des
Menschen zu, auf ewig unverbunden bleibende Systeme des Lebens, der Sprache
und des Handelns, deren jeweilige Zwecke nur Emanation der Zwecklosigkeit
der Autopoiese lebender Systeme wären, also
Konstruktionen, die nur im Raum der Beobachtung, nicht aber in "der"
Realität wirklich sind".
"Ich bin eigentlich nicht so skeptisch wie Sie. Gewiß,
es sind naturwissenschaftlich generierte und codierte Modelle, die sich
allmählich als Avantgarde der Reformulierung dessen
geben, was man einst Sozialwissenschaft nannte. In gewisser Weise
wiederholen wir die Anfangszeit der Aufklärung des 15. und 16.Jahrhunderts, in
der die naturwissenschaftliche und auch die technische Revolution die Vorgaben
fürs genuin soziale Entwerfen von Modellen machten. Schufen damals jedoch Decartes, Bacon, Locke und der aufkommende Industrialismus erst die semantischen und materialen Voraussetzungen
für eine wissenschaftlich-technische Zivilisation, innerhalb derer neue Formen
und Interpretationen des Menschen erst ausprobiert werden konnten (bis hin zu
Marxens Bild der Industrie als das aufgeschlagene Buch der menschlichen
Wesenskräfte), so stehen wir heute vor der Aufgabe, Formen und Interpretationen
des Menschen jenseits seiner technologischen Welt zu denken (und zu kreieren):
Ein Unterfangen, daß zur Voraussetzung hat, daß sich der Mensch in Distanz zu bringen vermag zu seiner
zweckrationalen, zu seiner maschinisierten
Zurichtung (etwa der abendländischen Logik), also sich zu befreien wüßte aus seinen Hüllen als Markt-, Waren-, Funktions- und
Subjekt-Objekt-Subjekt. Die Frage ist nicht mehr entlang einer neuen Sondierung
des Kommensurabelmachens von anthropologischem und
technologischem Sein des Menschen zu beantworten, die weiterhin innerhalb der
Logik der Dissoziation Assoziation suchte, sondern entlang der Frage Godela Unselds: Maschinenintelligenz oder Menschenphantasie[78]? Menschenphantasie wäre der
letzte ernstzunehmende Gegner einer sich technisch und gesellschaftlich
ausbreitenden Digitalisierung der sprachlichen und kulturellen Bezüglichkeiten
des Menschen, vorausgesetzt, es ließe sich nachweisen, daß
die (nun technologisch durch den gesamten anthropologischen Raum hegemonial hindurchgreifen
könnende) Digitalisierung als Auslöschung jeder materialen Identität nicht
ihrerseits einer bereits durch die Koordinaten subjektiver Selbsterhaltung
zurechenbar gemachten Phantasie entsprungen ist[79].
Dazu müssten bestimmte begriffliche Dyaden oder auch Leitdifferenzen
aufgebrochen werden, die bis heute das Selbstverständnis des Menschen und
seiner Bezüglichkeiten sowohl koordinieren als auch moderieren, wie etwa
Ausnahme/Regel, Zufall/Notwendigkeit, Sinn haben und Sinn machen, Interaktion/Kommunikation,
System/Umwelt, Rationalität/Irrationalität, Kultur/Natur, Zweck/Mittel und
Selbsterhaltung/Selbstverwirklichung. Aber auch dann bleibt die Frage, ob man
mit diesen Unselbstverständlichkeiten der Begriffe, mit dieser nötigen Sichtbarmachung der Blindheit bisheriger Sichtbarmachungsweisen im Handgepäck tatsächlich bis zu
den Dimensionen vorankommt, in denen anzusetzen ist, um zu verstehen, was
heute in den Menschen, zwischen den Menschen, in und zwischen Kulturen, in den
Städten, den Gruppen, den Gesellschaften, den Umwelten und den Zukünften
passiert respektive passieren kann. Die Frage ist, ob man mit einer neuen
Architektur der Begrifflichkeiten, wie sie etwa bereits der biologische Kognitivismus und
die Systemtheorie ausgebildet und sich damit bewußt
jenseits einer "alteuropäischen Semantik" in Stellung gebracht haben,
das Fugenloswerden wirklich wird verstehen können, ohne wieder neue Gefüge und
Gefügigmachungen unterderhand
mit auf den Weg zu bringen, die das Fugenlos-Fremde in seinem Fremdsein enteignen:
Identifizierung bliebe damit auf einem erweiterten Verhältnisniveau erhalten,
Berechenbarkeit weiterhin möglich, nur eingebettet in einem größeren Raum der
Unordnung, kurz: Die vor dem Hintergrund der okzidentalen Rationalität
logisch erscheinen müssende Beziehung zwischen Begreifen und Ergreifen unter
Abspaltung des Loslassens (dieses Loslassen wurde transformiert in ein
Einlassen in technische Artefakte, deren Funktion es ist, Ergriffenes auf Dauer
in ein Verfügungsverhältnis zu stellen, um Greifen zu können, ohne mehr
begreifen zu müssen, um überhaupt dem noch Unbegriffenen seine eigentümliche
Maßstäblich- und Wertigkeit zu entreißen und es vollständig am Maßstab der Verfügbarmachung abzugleichen). Man sieht, die Situation eines
Denkens, das zwischen Mimesis und Abstraktion, zwischen dem Besonderen und
dem Allgemeinen, zwischen Verstehen und Fest-Stellen changiert, um der eigenen
Verkettung an das Prinzip Aneignung zu entgehen, läßt
sich nicht anders beschreiben als: 'Das Alte geht nicht und das Neue geht
auch nicht'[80].
"Ich bin da nicht so fundamental skeptisch wie Sie. Die Sprache läßt doch immer noch erheblich Raum für Ambivalenz, die wir
zur Zeit mehr denn je nötig zu haben scheinen. Sie selbst haben eben doch ein
Beispiel gegeben mit dem Fugenloswerden. Ohne jetzt im vorneherein (wenn
überhaupt) die Frage nach Subjekt und Objekt zu entscheiden: Aber Sie können
schon fragen, ob die Welt fugenlos wird, oder ob sie - endlich, möchte man
hinzufügen - die Fugen los wird. Die erste Interpretation evoziert sagen wir
traditionelle Kritik, die zweite 'postmoderne' Affirmation. Die erste Sicht
klammert wohl noch Verfügen an Vermögen - verstanden als Bedingung zur
Ermöglichung von noch nicht vorhandenen Handlungen -, die zweite verbindet die
Befreiung aus den Gefügen der Welt mit der nun erst möglichen Verfügung über
das Leben, wohlgemerkt das Leben als ein der Existenz sehr nahe gerücktes
Dasein, und nicht als artifiziell herzustellendes gesellschaftliches
Produkt".
"Und was passiert mit Ihrer Ambivalenz, wenn sich herausstellen
sollte, daß das Ungefügigwerden der Welt die letzte,
vielleicht am weitesten entwickelte und brillanteste Ausdrucksweise des Gefügig-SEINS von Welt darzustellen trachtet; wenn sich
herausstellen sollte, daß etwa kultureller Antitechnologismus, Antiinstitutionalismus, Antirationalismus
bloß unter Erlaubnis einer systemtechnologisch rigid
gewordenen Welt allerlei Oppositionalismen und Alternativen in die theoretischen
und empirischen Lebenswelten hineinstreuen; daß
also letztlich die Funktion sich in einem Stadium befindet, in der sie sich im
Nichtfunktionieren aller noch technikperipheren Sphären wie Sozialisation,
Kultur und "Selbst" nicht bloß manifestiert, sondern wohl schon zu
konstituieren ansetzt?"
"Was sie jetzt mit dieser Fragestellung versuchen, ist, jegliche Spuren
von Redialektisierung, von Immanenz der Widersprüche
zu verwischen, die man, so man nicht endgültig mit dem Herauswurf
der Vernunft aus der Geschichte einverstanden ist, an den vielfältigen Fronten
eines postmodernen Elends ausfindig machen könnte, das sich nun als Theorie
ohne Bewußtsein und ohne Subjekt gestärkt in der
Systemtheorie wiederfindet, die nun endlich die
"Zumutung" (speziell der Handlungstheorien) eliminiert zu haben
glaubt, daß vor ihr ein Begriff des Individuums
gewissermaßen nur durch Zeigen auf Menschen expliziert wurde.[81]
Okay, Sie können sagen, daß das Krisenmodell
für die Konstituierung des modernen Bewußtseins
einen wohl idealen Rahmen abgegeben hat, heute aber, angesichts der weltweiten
Entleerung von Dissonanzen, Brüchen, Krisen und Problematisierungen, ja, angesichts
der Krise der Krise und des Repräsentationsprinzips (von der Politik bis hin
zur Erkenntnistheorie) kaum noch herhalten kann, um der postmodernen "Mein-Gesicht-ist-meine-Maske-Attitüde" eine
Korrespondenz zu eröffnen zum Kontinent der ganz normalen modernen Entzweiungen,
die erst den Blick freigeben auf einen untergründigen Universalismus, der
bisher nur als Totalitarismus einer Vernunft des Subjekts in den Zeiträumen
subjektiver, sozialer und objektiver Welten und deren Beziehungen
untereinander vertikal hindurchgriff.
Man kann dann hingehen und über die lachen, die noch in der Wirklichkeit
einen nicht nur empirischen, sondern auch logischen Unterschied machen wollen
zwischen sagen wir libidinaler Ökonomie und einer
Ökonomie der Begierde, zwischen Bedürfnis und Begierde, zwischen agonistischen Diskursen und Diskursen über Agonie,
zwischen Autonomismus und Autismus, zwischen Vernunft
und Mythos, Metadiskurs und Umgangssprache.
Bekanntlich bleibt einem das Lachen im Halse stecken; aber auch das
bliebe einem erspart, da ja nicht mehr auszumachen ist, ob über Multicodiertes
eindeutig Traurigkeit oder Lustigsein, Nachdenklichkeit oder Zerstreuung, Sinn
oder Unsinn, Wirklichkeit oder Fiktion angebracht ist.
Was Sie aber nicht mehr können ist, Ihren Denkhorizont zu erreichen, und
das heißt: ihn zu entgrenzen. Auch wenn die Postmoderne,
Sektion Philosophie, die zeitgemäße Formgebung der Erfahrung einer äußersten
Grenze jener Logik des Zerfalls ist, die schon von Hegel als modern bezeichnet
wurde: Wie soll sie je ihre Verunmöglichung einer rationalen Analyse der
Zerstörung der Vernunft als Chiffre bedeuten können, die vernünftig, d.h. hier
universell und der Totalität verpflichtet, das Ende der Vernunft proklamiert?
Einzig möglich bliebe nur noch eine bestimmte epikuräische
Attitüde des Abwinkens. 'Die Liebe erregt und ermüdet, das Handeln verzettelt
sich und geht fehl, niemand gelangt zum Wissen, und das Denken färbt alles
trübe. Besser ist daher, unser Wünschen und Hoffen einzustellen, den
vergeblichen Anspruch, die Welt erklären zu wollen und das törichte Vorhaben,
zu verbessern und zu regieren, fahren zu lassen. Alles ist nichts oder, wie
es in der griechischen Anthologie heißt: Alles kommt aus der Unvernunft, und
es ist ein Grieche und also ein rationaler Mensch, der das sagt. Wir werden
gleichgültig bleiben für Wahrheit oder Lüge aller Religionen, aller
Philosophien, aller umsonst nachprüfbaren Hypothesen, die wir Wissenschaften
nennen. Ebensowenig wird uns das Schicksal der sogenannten Menschheit kümmern, das, was sie in ihrer Gesamtheit
erleidet oder nicht erleidet.'[82] Wir werden..."
"...Ja, wir werden heiter sterben, ich weiß. Und doch genügt diese
Einsicht nicht, wenn man den Zeitpunkt verpasst hat, sich aus dem Leben
zurückzuziehen. Es bleibt, und sei es ganz krude gesehen bloß als Ausfluß unseres Mangels an Phantasie, nichts anderes übrig
als festzustellen, daß wir noch übrig sind. Wir
leben noch zuwenig als daß wir uns schon vom Leben
verabschieden oder es hinter uns lassen könnten. Und darüber müssen wir reden.
Wir müssen darüber reden, warum wir noch da sind, obwohl wir uns nie verwirklichen
werden - nicht im Leben, nicht im Reden, nicht im Selbst und schon gar nicht im
Anderen. Wir müssen darüber reden, warum wir den Frieden wollen, obgleich wir
die Fähigkeit verloren haben, den Unterschied zwischen Krieg und Frieden zu
hören.[83] Wir müssen...- das ist unsere
Freiheit."
"Wir müssen, wir müssen - das ist mir zu kryptisch. Sterben? Geschenkt.
Leben? Geschenkt. Hoffen, arbeiten, verzweifeln, lieben? Unmögliches machen?
Gemachtes verunmöglichen? Paradoxien als aushaltbare zu Boden zwingen? Geschenkt.
Den Tod beschwatzen lernen anstatt ihn zu praktizieren? Vielleicht. Vielleicht
ist es unsere Aufgabe, den Tod in ein Gespräch zu verwickeln, bis sie uns
fragt, ob wir auch noch etwas zu Trinken bestellen wollen, bis sie uns sagt:
Oh, heute habe ihre Wahrheit vergessen, mit Fleischermessern eure Schlafzimmer
aufzusuchen, bis sie uns fragt: Zu dir oder zu mir? - Freiheit!? Freiheit
heißt jetzt Kontingenz, denn wozu noch fragen: Freiheit wovon oder Freiheit zu
was? Daß weniger Menschen unnötig sterben? Daß möglichst alle frei sind, über sich zu bestimmen?
Selbst nachdenken, selbst sprechen, selbst arbeiten und selbst lieben?
Geschenkt, weil zu teuer erkauft. Die Arbeit beginnt im Alten aufs neue. Alles
Gegebene wird..". [hier langsam ausblenden]
[1] N. Luhmann, Die Autopoiesis
des Bewußtseins, in: Ders.,
Soziologische Aufklärung, Bd.6, Opladen 1995,
p55-112, hier: p112.
[2] P. Furth, Phänomenologie der
Enttäuschungen. Ideologiekritik nachtotalitär, FFM 1991, p102 + p103.
[3] C. Castoriadis, Gesellschaft
als imaginäre Institution, (dt.), FFM 1984, p76-77.
[4] "[...] breiten sich Armut, Verelendung und
Verwahrlosung gleichmäßig über den gesamten negativ gleichzeitig gemachten
Erdball aus." - R. Kurz, Das Ende der Neuen Weltordnung. Ein Essay zur
globalen Ökonomie und Politik nach dem Epochenbruch, in: Zeitschrift für kritische
Theorie, 1/1995, p23-42, hier: p38.
[5] Siehe für das folgende: J. Habermas,
Der philosophische Diskurs der Moderne, FFM 1988, p367.
[6] Aus einer anderen, mehr körperbetonenden
Sicht wird dann selbst die gutmeinende, aber schlecht
handelnde Vernunft selbst abgeleitetes Moment einer tätigen Einbildungskraft
und also jedes Wiederaufrichtenwollen eines Modus'
von Vernunft zu einem viel zu flach ansetzenden Unternehmen.
[7] Christoph Türcke etwa geht so
vor, wenn er in seinem Aufsatz über "die Sensationsgesellschaft"
(in: Die Zeit, Nr.35/1994, p32) folgendes schreibt: "Was ist nicht für
Aufhebens um die Ausrufung des postindustriellen und später des postmodernen
Zeitalters gemacht worden, ohne daß sich die
Grundverhältnisse der warenproduzierenden Gesellschaft
auch nur irgend geändert hätten. [...] Um so wichtiger die Feststellung, daß 'Sensationsgesellschaft' kein neues Paradigma ist,
[...] sondern nur die vielleicht neueste Gestalt einer schon überalterten
Gesellschaftsformation: der kapitalistischen".
[8] Dieses "sowohl als auch" ist theoretisch
schwierig durchzuhalten: Den einen führt es in eine Art Orwellsches 'Zwiedenken' (Bernhard Giesen), den anderen in eine Art
Kniefall vor der Perseität von Paradoxien (Niklas
Luhmann), und nur noch wenige zur Dialektik (Francis Barker).
[9] Man kann es auch anders formulieren: Das Reich der
Freiheit als Reich des "prattein", des in
sich zweck- und sinnhaften handelnden Tätigseins, das
das Reich der Notwendigkeit, des "poiein"
(also das Reich der Arbeit) hegemonial überformen sollte, ist erst mal das Gattungsverhältnis
zwischen Mensch und Natur jenseits instrumenteller Vernunft organisiert,
dieses Reich des "prattein" also entpuppte
sich als uneigenständig und nicht als Gattungskontrast zum Dasein als Sorge
(Heidegger). Die "Agora" war in ihrem
"Wesen" immer nur Markt, nur selten auch (öffentlicher, diskursermöglichender) Platz. - Systemtheoretisch kommt man
zu einem ähnlichen Ergebnis betreffs der unhaltbaren Identität (N. Luhmann,
Soziologische Aufklärung, Bd.6, a.a.O., p107).
[10] R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom
Zusammenbruch der Kasernenökonomie zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991, p266.
[11] Ich schließe mich der Sehweise von Kurz an. Kritisch
dazu: G. Fülberth, Zu Kurz, in: konkret 12/1991,
p33-34.
[12] Die Entdinglichung des
Sozialen. Eine evolutionstheoretische Perspektive auf die Postmoderne, FFM
1991, p144.
[13] "Man" erinnert sich nicht mehr (an den
"Auftrag"; Heiner Müller): aber nicht alle. Hauke Brunkhorst
etwa erinnert sich nicht nur, sondern behauptet Unverzichtbarkeit desselben:
"Strikter Universalismus ist, wo es um Moral und Recht geht, auch dann unverzichtbar,
wenn man eingesehen hat, daß es Unrecht war und
Unrecht bleibt, anderen, die das nicht wollen und lieber in einer sinnfesten
Folter- und Sklavengesellschaft leben, unsere westliche Lebensform von außen
aufzuzwingen" (Derselbe, Gefährliches Denken und die Zeit des Vergessens,
in: FR, 27.8.94, p ZB3); in Anlehnung an Husserls Wiener
Vorträge 1935 bezeichnet Luhmann eine solche Sicht sehr ungewohnt als
"postkolonialen Kulturimperialismus"; siehe nur: Ders.,
Kultur als historischer Begriff, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.4,
FFM 1995, p31-54, hier: p52. Fundierter kritisieren Th. Ebermann/R. Trampert (Die Offenbarung der Propheten, Hamburg 1995,
p245ff.), da sie weder anti- noch prowestlich argumentieren.
[14] R. Rorty, Der Vorrang der
Demokratie vor der Philosophie, in: Derselbe, Solidarität oder Objektivität?
Drei philosophische Essays, (dt.), Stuttgart 1988, p82-125.
[15] F.J. Czernin, die aphorismen.
eine einführung in die mechanik,
8 Bde, Wien 1992, Bd.1, No.1.7, p63.
[16] Nicht ganz so fern für Dietmar Kamper,
Unmögliche Gegenwart. Zur Theorie der Phantasie, München 1995, p27.
[17] Versuch über den Tausch. Zur Kritik des
Strukturalismus, Berlin 1979, Klappentext.
[18] Aus der Auswegslosigkeit der
anderen lernen wollen: dies ist sehr milde formuliert. Man kann den selben
Sachverhalt auch auf eine Ebene kultureller Mentalität bringen und feststellen,
daß etwa das Wort "Schadenfreude" als
deutsches Wort in fremden Sprachen deutsch beibehalten wird, weil hier, im sog.
deutschen Kulturraum, Humor (Ironie, Relativismusfreundlichkeit) als
überwundenes Leiden an der Welt (Jean Paul) sich nicht duchsetzen
konnte (sondern eher Ernst und Geniekult). Solange die Zelebrierung der
Einsamkeit als Grundlage einer bestimmten geistigen Kultur nicht abgelöst
wird, wird sich daran leider nicht viel ändern - Matthias Beltz
steht immer noch auf einsamen Posten.
[19] "Was hoffen läßt, ist
allein die Präzision, mit der die Soziologie die Welt über das Ausmaß ihrer
unverschuldeten Ratlosigkeit in Kenntnis setzt", meinte zuletzt noch
Thomas Assheuer in seinem Bericht über einen Kongreß
des Hamburger Instituts für Sozialforschung zum Thema "Modernität und
Barbarei"; siehe: "Short cuts oder: Die
Präzision der Ratlosigkeit", in: FR, 5.5. 1994. Die Gentechnologie lacht
darüber nicht schlecht, ist sie dem genauen Gegenteil verpflichtet: Nach nicht
unseriösen Spekulationen dürfte es in 15 bis 20 Jahren möglich sein, alle 3
Milliarden "Geneinheiten" eines Menschen
binnen eines Tages zu identifizieren. Gesellschaftswissenschaften müssen sich
anstrengen, daß bis dahin der Wert offener Fragen als
Antworten auf Fragen nicht endgültig ausgemerzt ist und nur noch
technologisierbare Antworten akzeptiert werden.
[20] Es sind eigentlich acht Herausnahmen, nur daß die achte jetzt in den Fußnoten "versteckt"
wird; während sie noch vor ein paar Jahren als der maßgebende 'Flaschenhals'
zur Verortung eines Textes herangezogen worden wäre. Es ist die
"Tatsache", diesen Text an (früher stünde hier: mit) einem Computer
erstellt zu haben, also tippend und kompilierend, und nicht schreibend und
überschreibend. W. Künzel und P. Bexte
fordern gar eine neue Hermeneutik für computerproduzierte Texte (Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, FFM/Leibzig 1993, p77). Über die Veränderungen in der
Einschätzung der Auswirkungen der Computerisierung aufs Denken, Handeln und auf
die Gesellschaft im Text mehr. Vorerst ein Verweis auf V. Flusser, Die
Schrift, Göttingen 1987.
[21] Gegenbilder, die auf eine das ganze Leben transgredierende Identität verzichten und beinahe eine Schizophronie zu operationalisieren
im Stande waren, können in Andy Warhol und in William Gibson gesehen werden:
Die Überschreitung war Bestandteil innerhalb des Alltags, und nicht der Alltag
transzendiert in der Überschreitung.
[22] Besser heißt hier nicht in einem quasi normativen
Sinne, daß das Gesagte mit dem Gemeinten mehr
übereinstimmt oder gar identisch wäre (unter Abzug der gebrauchten Zeichen,
die immer die Vermitteltheit von Bezeichnetem und Bezeichnendem mitbezeichnen),
sich also in einem gemeinsamen "Dritten" fänden (nämlich in der
Regel in der Sprache); besser meint ausschließlich die sehr weiche Kohäsion
von Bezeichnung und Bedeutung der Bezeichnung mittels ihres Kompatibelseins.
Kompatibilität meint hier eine ausschließlich negative Bestimmung des
Zueinander-Passens: Ich verstehe den anderen nicht deswegen, weil ich quasi an
der Substanz des vom anderen Gemeinten teilhabe, sondern deswegen, weil ich
keine Fragen mehr stelle; Verständnis oder Verstehen wären somit immer nur
Zustände der Abwesenheit von Mißverständnis und
Nicht-Verstehen. Oder, schwächer formuliert: Bedeutungsidentität ist weder als
Qualität eines an sich Seienden noch als regeldeterminierte Invarianz
zu verstehen, sondern "ist Produkt der Abweisung anderer
Möglichkeiten", so Wolfgang Ludwig Schneider in seinem Aufsatz 'Intersubjektivität
als kommunikative Konstruktion' (in: P. Fuchs u. A. Göbel [Hg.]: Der Mensch -
das Medium der Gesellschaft?, FFM 1994, p189-238, hier: p203, Anm.43). Siehe
für das Verhältnis Sprache/Interpretation Ernst von Glasersfeld:
Über den Begriff der Interpretation, in: derselbe, Wissen, Sprache und
Wirklichkeit. Arbeiten zum Radikalen Konstruktivismus, (dt.), Wiesbaden/Braunschweig
1987, p86-96 [p92]. Für Verständigung als unterkomplexere Form des
Kommunizierens (im Vergleich zum Verstehen) gibt Luhmann die m.E. passende Einschätzung (in: Ders.,
Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992, p141),
nämlich die, "daß man bei allen Versuchen, sich
zu verständigen, von der Unsicherheit des anderen ausgehen kann. Wenn er sie
leugnet, kann man sie ihm nachweisen. Verhandlungen haben dann den Sinn, die
Unsicherheit aller zu vergrößern, so daß man sich nur
noch verständigen kann."
[23] Siehe dazu Georg Christoph Lichtenberg: Werke (in einem
Band), hg. von Peter Plett, Hamburg 1967; sowie, in
dessen Nachfolge stehend, Eckhard Henscheid,
Sudelblätter, Zürich 1991.
[24] Diese Lesbarkeit müsste im Rahmen der hier aufgezählten
Einschränkungen ihrerseits als bloß eine "Form" der Beziehung zu den
drei Wirklichkeiten der sozialen, "objektiven" und subjektiven Welt
bestimmt werden (eine etwas gebeugte Variante der Einteilung von Habermas, 'TdkH', Bd.1, FFM
1988, p115 ff.), als eine, die in Konkurrenz steht zu anderen Formen der
Organisation von Bezüglichkeit zwischen (mannigfaltiger) Erscheinungswelt/Erfahrung
und kategorialer Welt/Erkenntnis (Kants transzendentales Schema; Kritik der
reinen Vernunft, hg. von Raymund Schmidt, Leibzig
1944, p196 ff.), und zwischen Erkenntnis und Form (Adornos 'Erfahrung'; GS,
Bd.10/2, FFM 1977, p752), als da wären: Die Anschauung, die Imagination, die Assoziation,
die Wahrnehmung, das (Zu)Hören und das Verdrängen. Das konkurrenzierende
Verhältnis dieser Formen zur Lesbarkeit ist allerdings nur ein analytisches:
Hat man entschieden, sich innerhalb begrifflichen Schreibens aufzuhalten,
bleibt "logischerweise" nur das mehr intellektuelle denn sinnliche
Vermögen, zu lesen, also eine höhere Dichte der Syntheseleistungen für das
Triumvirat Bezeichnendes/Bezeichnetes/Bedeutendes. Lesbar ist auch ein Film,
eine Musik, ein Bild: umgekehrt bereitet es jedoch Schwierigkeiten, einen begrifflichen
Text hören, wahrnehmen oder der Anschauung zuführen zu wollen. Gewiß, es geht und wirft sicherlich neue Perspektiven ab,
die dem Lesen nicht zugänglich sind (man denke nur an die Schriftschreibkunst
"Sho"). Aber solches Tun hätte nur noch die
Vermittlung zum Thema, aber kein Thema mehr, das vermittelt würde (die Lesbarmachung des Entzuges von Lesbarkeit wäre dann das
Meta-Thema).
[25] Beharrt man auf den Generalhiatus des Menschen in
Gestalt der Unterscheidung Sinn-Natur, so weist die stetige, lange Zeit mit
dem Wort Fortschritt etikettierte Transformation der Unbegrifflichkeit der
Natur in sinnvolle Problematisierungen einen inneren Zusammenhang auf mit den
gesellschaftlichen Transformationen von Gefahr in Risiko. So wie diese durch
ihre selbst gefährlich werdenden Umwandlungen immer das Nichtvermittelbare (die
Gefahr) erinnern und als Hintergrund präsent halten, so perpetuiert die
Umwandlung (man könnte auch sagen: die Produktion von Erinnerung durch
Vernichtung des Sinnjenseitigen) von Natur via Sinn-Konstitution die Präsens
des unbegrifflich Anderen des Sinns: der Tod bleibt also als Ausgesperrter
präsent in den Formen, die man benutzt, ihn auszusperren.
[26] Man kann sich nun fragen, was für eine Rolle das jahrtausendealte Paradoxie-Verbot für die Existenz von
Systemen spielte und weiterhin spielt: War es eine Strategie der Entfaltung
paradox grundierter Systeme oder wirklich eine Hemmung der Entfaltung? Und was
bewirkt ein sich seit gut 2 Jahrzehnten langsam anbahnendes Paradoxieverbot-Verbot?
Was wird sich dadurch entfalten?
[27] R. Kurz: Der Letzte macht das Licht aus. Zur Krise von
Demokratie und Marktwirtschaft, Berlin 1993, p41-42.
[28] Martin Heidegger: Sein und Zeit, Tübingen 1979, p75f.
[29] Theodor W. Adorno: Zur Metakritik der
Erkenntnistheorie. Studien über Husserl und die
phänomenologischen Antinomien, FFM 1990 (1970), p25.
[30] Unterscheidung als langsam paradigmatisch werdender
Begriff für Beschreibungen des Verhältnisses zwischen Formen der
Weltbeschreibung wird ein Hauptpunkt der Abhandlung sein. Zu dessen
Hauptinterpreten siehe: George Spencer Brown, Laws of
Form, New York 1979 (Neudruck); siehe auch den fortgeschrittensten Anwender
dieses Begriffs: Niklas Luhmann, Zeichen als Form, in: Dirk Baecker
(Hg.), Probleme der Form, FFM 1993, p45-69; Niklas Luhmann, Die Wissenschaft
der Gesellschaft, FFM 1992, vorallem Kapitel 6.
[31] Ein etwas längers Zitat
Derridas (aus seinem Versuch, Heideggers ontologische Differenz anhand der
Unterscheidung Anwesen/Anwesendes zu rekonstruieren): "Da die Spur kein
Anwesen ist, sondern das Simulacrum eines Anwesens,
das sich auflöst, verschiebt, verweist, eigentlich nicht stattfindet, gehört
das Erlöschen zu ihrer Struktur. Nicht nur jenes Erlöschen, dem sie stets muß unterliegen können, sonst wäre sie nicht Spur sondern
unzerstörbare und monumentale Substanz, vielmehr jenes Erlöschen, welches sie
von Anfang an als Spur konstituiert, als Ortsveränderung einführt und in ihrem
Erscheinen verschwinden, in ihrer Position hinausgehen läßt.
Das Erlöschen der frühen Spur des Unterschiedes ist also 'dasselbe' wie das
Zeichen ihrer Spur im metaphysischen Text. Dieser muß
das Merkmal (marque) des Verlorenen oder
Zurückbehaltenen, des beiseite Gelegten, bewahrt haben können. Paradox an
einer solchen Struktur ist, in der Sprache der Metaphysik, jene Umkehrung des
metaphysischen Begriffs, die den folgenden Effekt produziert: Das Anwesende
wird zum Zeichen des Zeichens, zur Spur der Spur. Es ist nicht mehr das, worauf
jede Verweisung in letzter Instanz verweist. Es wird zu einer Funktion in
einer verallgemeinerten Verweisungsstruktur. Es ist Spur und Spur des Erlöschens
der Spur. Der Text der Metaphysik ist damit erfasst"; J. Derrida, Die différance, (dt.), in: Peter Engelmann (Hg.): Postmoderne
und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Gegenwart, Stuttgart
1990, p76-113 [p107]. Wäre das schon wieder Metaphysik? Von einer anderen
Seite meinte Luhmann polemisch (im Kontext seiner Präferenz des sozialen
Systems gegenüber dem psychischen), "daß Philosophen,
die an einer Subjektreferenz festhalten möchten, gezwungen sind, entweder unter
Namen wie Platon, Aristoteles, Kant, Hegel, Heidegger, Wittgenstein Texte zu
interpretieren oder selber zu denken" (Die Wissenschaft der Gesellschaft,
a.a.O., p63, Anm. 66). Selbst denken kann aber nur
heißen: gegen sein eigenes Denken, das Eigenes schon längst verloren hat und
nur als Verzweiflung an der Aporie sich noch erinnerlich hält, zu denken, und
nicht, wie in der Systemtheorie, zur Steigerung der Eigenkomplexität eines
Systems für die Reduktion der Umweltkomplexität strategisch eingesetzt zu werden.
- Das andere, das noch bleibt, die kybernetisch belehrte Systemtheorie
Luhmanns, baut, auch wenn die Quellenlage nicht danach aussieht, sehr nah an
den Texten sich auf, die Derrida, Deleuze, Zizek, Lacan produzierten (siehe
nur: N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, FFM 1995, p491 und öfter, aber
konträr p492).
[32] Richard Rorty (Kontingenz,
Ironie und Solidarität, dt., FFM 1989, p45-51) siedelt die Vokabulare, die im
Laufe der Geistes- und Kulturgeschichte enstanden
sind, alle auf einer Oberfläche an. Diese Oberfläche wird bestimmt durch das
blinde Schaffen und "Abtöten" von Formen der Sprache (eben Vokabulare),
gleich der Schaffung und Abtötung von Formen des Lebens durch die blinde
Evolution. Rorty versteht Vokabulare als Werkzeuge,
die einfach zufällig für bestimmte Zwecke besser geeignet sind als andere oder
frühere Werkzeuge (aber woher nimmt er die Kriterien für dieses
"besser"?).
[33] Aus einer syntaktischen Betrachtungsweise dieser
Vokabulare ist die Verwendung des Wortes Name natürlich irrelvant,
denn: "Wissenschaft ist ein System von Sätzen, nicht von Namen", wie
es R. Carnap in Anspielung auf die These 1.1. des TLP Wittgensteins notierte
(derselbe, Die logische Syntax der Sprache, Wien 1968, p230).
[34] Siehe hierzu Otto Ullrich, Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller
Produktion, FFM 1979, p49-150, als historische Analyse dieser Affinität.
[35] Mehr wissenssoziologisch geht dabei Peter Weingart vor in seinem Buch "Wissensproduktion und
soziale Struktur", FFM 1976, mehr Technik- und Industriesoziologie
betreibend dagegen Lothar Hack, Vor Vollendung der Tatsachen. Die Rolle von
Wissenschaft und Technologie in der dritten Phase der Industriellen Revolution,
FFM 1988. Einen Bogen zu spannen zwischen Luhmanns Theorie der Wissenschaft
(Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1992, vorallem
p271-361) und etwa der Ullrichs versuchen W. Krohn und G. Küppers, Die
Selbstorganisation der Wissenschaft, FFM 1989, vorallem
p17ff.
[36] Ich teile die These W. Krohns (in Anschluß
an B. Farrington), daß die
Bedeutung Bacons für die weitere Wissenschaftsgeschichte maßgeblich darin zu
untersuchen ist, daß er dem Erkenntnisinteresse und
der Philosophie neben den bereits vorhandenen epistemologischen Zugängen den
Zugang zu einer wissenschaftspolitischen Einordnung verschafft hat (W. Krohn
[Hg.]: Francis Bacon, Neues Organon, 2 Teilbde., hier: 1. Teilbd.,
Hamburg 1990).
[37] Siehe den Überblick bei F.J. Varela,
Kognitionswissenschaft - Kognitionstechnik. Eine Skizze aktueller
Perspektiven, (dt.), FFM 1990, ein Text, der auf einen Auftrag der Royal Dutch Shell Corporation zurückgeht. Auswege aus der
Sackgasse bieten zur Zeit Konzepte, die Intelligenz ohne Repräsentation zu
denken suchen, oder Systemanalysen, die nicht mehr nach Funktionen, sondern
nach Aktivitäten die Maschine zu planen versuchen. Siehe auch: Elmar Holenstein, Kognitive Wissenschaft, in: Information
Philosophie, 1/1988, p5-14.
[38] Schlimmer sieht es aus bei der sozialphilosophisch
fundierten Gesellschaftsanalyse: Ihr werden meist nur noch Grabesreden
gehalten. Siehe mit Hinweisen J. Roth, Tote Philosophie, in: konkret 11/1995,
p47.
[39] H. Brunkhorst, a.a.O., pZB3.
[40] Eine Ehrenrettung dieser Geschichten (und nicht:
Geschichte) vornehmlich aus den Hallen der "Kulturindustrie"
versucht Siegfried Zielinski, wenn er als Motto
seines Buches "Audiovisionen. Fernsehen und Kino als Zwischenspiele in der
Geschichte", Reinbek 1989, ein Zitat Goncourts,
zitiert nach Curt Morecks "Sittengeschichte des
Kinos", anbringt, das in seiner trotzigen Eingenommenheit hier
wiedergegeben werden soll: "Wenn man die alten Klassiker liest, einige
hundert Bücher durchsieht, und daraus Auszüge auf Zettel macht, dann ein Buch
darüber schreibt, wie die Römer sich die Schuhe anzogen, und wie sie liegend
aßen - so nennt man das Gelehrsamkeit. Dann ist man Gelehrter. Man wird Mitglied
der Akademie, man gilt für bedeutend, man hat alles. Wählt man aber eines der näherliegenden Jahrhunderte, durchwühlt einen Berg von
Dokumenten, Tausende von Schriften, einige tausend Zeitschriften, und macht
daraus nicht nur eine Monographie, sondern ein...Sittenbild der Gesellschaft,
so ist man nur ein liebenswürdiger Nachspürer, ein
netter Wißbegieriger, ein angenehmer Plauderer. Es
wird noch einige Zeit vergehen, ehe das Publikum Hochachtung vor der
Geschichte bekommt, die wirklich interessiert".
[41] Das Sich-Einfinden in die
Formen der Sekundenkultur ist das Sich-Aufgeben in
der Zeit durch Aufgabe der Zeit, die über das Jetzt hinausgeht. Sich dem Rythmus des Hip-Hop, des Films,
der Clip-Schnitte hinzugeben - den müden Ekstatismen
des belanglosen Zeitschriften-Lesens, des
Fernbedienens, des maschinengleichen Stampf-Tanzens, des Lallens und auch des
Fickens - all das ist ein kleiner Tod, hat zumindest Nähe zu ihm: er strahlt
die nötige Hitze ab, die das Sich-Aufgeben braucht,
um außer 'Ich' zu sein, also sich gut zu fühlen ohne Ich oder sich. Rausch hat
es geschafft, institutionalisiert, technisch in den Alltag implementiert und
doch weiterhin wirksam zu sein als Entgrenzung
desselben, quasi in light-Version, ohne Initiation,
(noch) ohne leid- und blutvolle rituelle Begleiterscheinungen (außer der,
nicht mehr an seine eigenen Schmerzpunkte zu kommen), ohne Brimborium und
doch weiterhin wesentlich - aber nur noch für Sekunden. In dieser
Sekundenkultur oder gar -welt, die als solche keine mehr ist, sondern einfach
nur noch warmer Tüll, der einen nicht fallen läßt,
wenn man (im Rausch) umfällt, in dieser also kann man sich gefangen nehmen
lassen wollen. Das tun sehr viele zur Zeit, die radikal von der Perspektive
einer langen Zeitachse (Utopie) runter zur Zeit der homöostatischen
Zeitlosigkeit des Hin und Her, des Bum-Bum, des
Finger-Schnippens, des joy of repetition
geschaltet haben. Die Einsicht, daß mit der Zeit, in
der wir leben, etwas los ist, und nicht nur bloß in ihr, dämmert vielen: sie
ziehen sich zurück in sie, um nicht mehr mit ihr zu kollidieren.
[42] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe (des
Hilfsbuchhalters Bernardo Soares), (dt.), FFM 1987,
p194.
[43] So Thomas Groß in einer Rezension von Rainald Goetz'
Werk 'Festung', in: TAZ, 21.8.1993, p13-14 [14].
[44] Die Inadäquanz musikalischen
Ausdrucks selbst Ausdruck werden zu lassen ist ein schon lange versuchtes
Konzept in der Musik (man höre etwa "musiqua inpura", für Sopran, Gitarre und Schlagzeug, von
Mathias Spahlinger). Eine Adaption fürs
wissenschaftliche Schreiben dürfte noch lange Zeit vielen Kopfzerbrechen
bereiten.
[45] Man kann hier mit Heinz von Foerster
auch von Transdiziplinarität sprechen, ohne
allerdings den Anspruch zu haben, das Verstehen als solches zu verstehen
(Wissen und Gewissen. Versuch einer Brücke, (dt.), hg. von S.J. Schmidt, FFM
1993, p285).
[46] Für Maurice Merleau-Ponty
läge in diesem Unterfangen ein Widerspruch vor. Er schreibt (Das Sichtbare und
das Unsichtbare, gefolgt von Arbeitsnotizen, dt., hg. v. Claude Lefort, München 1994 [2.Aufl.], p41-42): "Wäre die
Wahrnehmung durch 'Introspektion' sich selbst gegeben
oder wäre sie konstituierendes Bewußtsein des
Wahrgenommenen, so müßte sie definitionsgemäß und
grundsätzlich Selbsterkenntnis und Selbstbesitz bedeuten - sie könnte dann
nicht offenen sein für Horizonte und für Fernen, und daß
heißt für eine Welt, die zunächst nur da ist für sie, und von der aus sie sich
erst als deren anonymer Inhaber erkennt, auf den die Perspektiven der
Landschaft zulaufen."
[47] N. Luhmann, Soziale Systeme, FFM 1987, p156.
[48] Dito, p156f.
[49] N. Luhmann, Die Autopoiesis
des Bewußtseins, in: Ders.,
Soziologische Aufklärung, Bd.6, Opladen 1995,
p55-112, hier: p87. Auf der nächsten Seite schränkt allerdings eine Tautologie
die vermeintliche Rücksichtigkeit der Analyse wieder ein: wenn ein System
nicht schon sozialisiert ist, dann kann es sich auch nicht selbst
sozialisieren.
[50] Die damit den Schritt vom subjektiven zum objektiven
Idealismus nicht nachvollzieht, so Habermas (Der
philosophische Diskurs der Moderne, FFM 1988, p429).
[51] M. Merleau-Ponty (a.a.O., p36) schreibt zu diesem Abstraktionsbereich
kritisch: "Der Rückgriff auf ein 'Außen' dagegen gewährleistet als solcher
noch keinen Schutz vor den Irrtümern der Introspektion,
er verleiht unserer verworrenen Vorstellung von einem psychologischen 'Sehen'
nur eine neue Gestalt: er verlagert es nur von innen nach außen". Luhmann
(Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O., p708) meint
in Hinblick auf die Gleichwahr- und unwahrheit von selbstreferentiellen und fremdreferentiellen
Beobachtungen: "Es gibt keine Wahrheitspräferenz für Introspektion".
Natürlich gibt es diese nicht: sie wird gemacht, diese Präferenz (auch beim
wenig Produktcharakter besitzenden Bekunden subjektiver Wahrhaftigkeit
["ich habe Schmerzen!"]).
[52] N. Luhmann, Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie,
in: Merkur, 4/1988, p292-300 [p292f.].
[53] N. Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft, a.a.O., p492.
[54] N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM
1990, p22-23.
[55] So S.J. Schmidt im Vorwort zum Sammelband von H.R. Maturana: Erkennen: Die Organisation und Verkörperung von
Wirklichkeit, (dt.), Braunschweig/Wiesbaden 21985, p7.
[56] Das Wort Gespräch weist hier schon für den gesamten
Raum der Arbeit darauf hin, daß es sich, soweit die
Frage nach der Stellung des Menschen in der Welt und das sich in ihr Erkennen
gestellt ist, ausschließlich um Aussagen handeln wird, die in der Diskursivität
der Erkenntnis verankert sind, und nicht in dem 'Sein' des Erkannten (was ein sogenanntes Abbildverhältnis implizierte). Wir sprechen
nicht von Natur, Welt und Sein, sondern mit Auffassungen und Interpretationen
über diese in Sätzen miteinander.
[57] Es geht hierbei um den Begriff der Identität (der
Philosophie, der Aufklärung, der Vernunft). Entfaltet werden wird, ob dieser
bloß u.a. aus der Sicht seiner Herrschaft zu
begreifen ist (womit dann die Herrschaft des Identitismus
sich in einen bloßen Anwendungs- und Gebrauchsfall
verflüchtigte), oder ob Herrschaft die notwendige und hinreichende Bedingung
der Ermöglichung von Identität ausmacht. In diesem Zusammenhang wäre eine
Auseinandersetzung mit dem Verhältnis Horheimers und
Adornos zum Idealismus notwendig.
[58] Productio contra creatio galt und gilt als die passende Unterscheidung für
diesen Sachverhalt. Die Frage ist und bleibt, ob Produktion zur
Kreatürlichkeit des Menschen gehört, etwa so, wie Artifizialität
ein natürliches Bedürfnis der Menschen sei kann.
[59] Okzidentaler Rationalismus steht hier als Begriff
jenseits der Entscheidung, seinen 'umfangslogischen' Raum mittels einer kulturtheoretischen
oder einer universellen Bestimmung zu ermitteln. Die faktische Hegemonie
formal-operationalen, logischen, funktionalistischen Denkens als bloß
notwendiger (so Habermas) bzw. notwendig und
hinreichender (so Weber) Ausfluß der Entzauberung der
Welt, die ihrerseits Voraussetzung für das moderne Weltverständnis ist,
erlaubt hier diese Indifferenz. Aber auch hier wird der Frage nachgegangen
werden müssen, ob die moderne Vernunftfassung 'Rationalität' sich an sich als subjektlos konstituiert (und sich also durch/an
"subjektlose/n Subjekte/n" exekutiert), oder erst durch den
intersubjektiv 'richtigen' Gebrauch (Habermas'
kommunikative Rationalität) ihr dann noch vorhandenes emanzipatives
Potential zu entbinden vermag.
[60] Als Beispiele für solche Anschlüße
siehe etwa: R. Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur
Semantik geschichtlicher Zeiten, FFM 1979; K.H. Haag, Der Fortschritt in der
Philosophie, FFM 1985; R. Kurz, Der Kollaps der Modernisierung. Vom
Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991;
und K.H. Tjaden, Mensch - Gesellschaftsformation -
Biosphäre. Über die gesellschaftliche Dialektik des Verhältnisses von Mensch
und Natur, Marburg 1992.
[61] Als Vertreter dieser (sprachanalytischen) weichen
Transzendenz gelten u.a. J. Habermas,
H. Putnam und Th.A. McCarty.
In seinem Aufsatz "Die Einheit der Vernunft in der Vielheit ihrer
Stimmen" (Merkur 1/1988, p1-14) schreibt Habermas,
daß "die für Propositionen
und Normen beanspruchte Geltung Räume und Zeiten transzendiert,
aber der Geltungsanspruch wird jeweils hier und jetzt, in bestimmten Kontexten
erhoben und mit faktischen Handlungsfolgen akzeptiert oder zurückgewiesen"
(p12). Und, eine Seite weiter: "Die kommunikative Vernunft ist gewiß eine schwankende Schale -aber sie ertrinkt nicht im
Meer der Kontingenzen, auch wenn das Erzittern auf hoher See der einzige Modus
ist, in dem sie Kontingenz 'bewältigt'". Was aber soll diese schwankende
Schale auf hoher See, wenn ihr semantisches 'Bewältigen' dem Rauschen des
Meeres nur ein weiteres Rauschen hinzufügt?
[62] Siehe N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, a.a.O., p332. 'Negierte Kontingenz' - wäre dieser
Luhmannsche Topos direkt vergleichbar mit Habermas'
'doppelter Negation von Geltungsansprüchen', die für ihn der einzige Modus
ist, in der eine riskante Kommunikation Bindungseffekte zu erzeugen versteht
(Ders., Der philosophische Diskurs der Moderne, a.a.O., p405)? Nein. Die Antwort auf die Frage, warum beide
nicht vergleichbar sind, gibt Habermas einige Zeilen
zuvor (ebenda): "Lebenswelten können sich strukturell noch so weit
ausdifferenzieren [...] - die Komplexität jeder Lebenswelt ist durch die
geringe Belastbarkeit des Verständigungsmechanismus eng begrenzt". Genau
hier macht Luhmann nicht mehr mit, indem er den Zugang der Erklärung
(Beschreibung) von Welt abgekoppelt wissen will von der zu engen Kapazität der
sich verständigenden Menschen, Komplexität zu verarbeiten; für sie bleibt die
Interaktion, die Wahrnehmung, das Bewußtsein übrig
- Maßstab für die Gesellschaft sind sie für ihn nicht mehr (das meint sein
Satz, den Menschen als Teil der Umwelt der Gesellschaft zu sehen und nicht mehr
als Teil der Gesellschaft selbst; ders., Soziale
Systeme, a.a.O., p288).
[63] "Obwohl die moderne Technik wesentlich durch die
Zwecksetzung der politischen Ökonomie des Bürgertums bestimmt und geformt ist,
so hat die Entwicklungslinie technischer Vernunft doch ältere Wurzeln. Sie
lassen sich zurückverfolgen wenigstens bis hin zu den frühen Ansätzen der
formalen Logik im alten Griechenland. Technologie, die Synthese von
Wissenschaft und Technik, ist die Verstofflichung
logischer Prinzipien in Raum und Zeit"; A. Bammé,
Telematik und Gesellschaft. Geschichtsmetapysische
Spekulationen nach Marx, in: H.T. Blattner/G. Getzinger u.a. (Hg.): Telematik. Gestaltungsmöglichkeiten und soziale Folgen,
München 1990, p21-55 [p41]. Siehe auch: E. Holling,
P. Kempin: Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg
zur technologischen Zivilisation, Reinbek 1989.
[64] So D. Baecker im von ihm
herausgegebenen Band "Probleme der Form", FFM 1993, p9. Als weitere
Versuche, dem Leitmotiv 'Alles muß haargenau in eine
tobende Ordnung gebracht werden' (A. Artaud) immer
mehr semantische Felder zu übergeben, können gesehen werden: die physikalischen
Theorien des deterministischen Chaos' (etwa F. Cramer, Chaos und Ordnung. Die
komplexe Struktur des Lebendigen, Stuttgart 1988); die (aus der Termodynamik herrührenden) Theorien der dissipativen
Strukturen (etwa I. Prigogine, I. Stengers:
Dialog mit der Natur. Neue Wege naturwissenschaftlichen Denkens, dt., München
1986 [5., erw. Aufl.]; Theorien der fraktalen
Geometrie (siehe etwa H. Jürgens, D. Saupe, H.-O. Peitgen, Bausteine des Chaos: Fraktale,
Heidelberg (u.a.) 1992; sowie die Forschungen in den
Bereichen der Diskreten Mathematik, der Synergetik
und der neuronalen Netzsysteme. Kurt Gödel, Henri Poincaré,
Werner Heisenberg und Albert Einstein hat man sich allerdings als Hintergrund
vorzustellen. - Eine hier interessante Frage ist, ob all diese Formbegriffe
nicht doch auf die Seinsverfassung namens "causa formalis"
sich beziehen lassen, in der das Seiende bloße Gegenwart, pures Beharren ist
mit einer ihr äußerlichen Zeit. Kybernetik hätte dann bloß die Aufgabe
erfüllt, totem Seienden eine innere Zeitlichkeit zu verleihen.
[65] "Während Sprachphilosophen oft meinen, Sprache sei
ein System (wenn nicht gar: das einzige System für die Koordination von Lebenszusammenhängen),
ist für die hier vorgestellte Analyse entscheidend, Sprache als Nichtsystem
anzusehen, das Systembildungen im Bereich von Bewußtsein
und Kommunikation erst ermöglicht, indem es die strukturelle Kopplung der
beiden Systemarten ermöglicht"; N. Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft,
a.a.O., p51.
[66] Freuds Kennzeichnung des Preises für den Fortschritt
der kulturellen/zivilisatorischen Entwicklung als "Glückseinbuße durch
die Erhöhung des Schuldgefühls" (Studienausgabe, hg. von A. Mitscherlich u.a., FFM 1969ff., Bd.IX, p260) darf von heutiger Sicht aus als zu
optimistisch angesehen werden; erhöhtes Schuldgefühl erscheint heute als bloß
Intermittierendes in der Entwicklung zur völligen psychischen Inkontinenz.
[67] Jürgen Neffe: Alle Macht den Genen?, in: Der Spiegel,
Nr.51/1993, p168-171; Gerhard Vowinckel, Homo sapiens
sociologicus oder: Der Egoismus der Gene und die List
der Kultur, in: KZfSS, 3/1991, p520-541.
[68] J. Derrida, Grammatologie,
(dt.), FFM 1974. Der Begriff Supplement ist nur zu halten in einer Unterscheidung,
deren andere Seite ein Agens beinhaltet. Bei Derrida ist das der
"allgemeine Text" oder die (abhanden gekommene)
"Urschrift": ein subjektloses Geschehen, das mit keiner Faser
hineinragt in die "Geschichtlichkeit" und in das physische und
semantische "Substrat" der Kommunikation; sie bleibt Vergangenheit,
die niemals gegenwärtig gewesen ist (Habermas). Eine
ähnlich Trennung in Agens und Emanation unternimmt E. Husserl
anhand der Unterscheidung Ausdruck/Bedeutung bzw. Zeichen/Anzeichen, wenn er die
orginäre Bedeutung eines Zeichens vollständig
abkoppelt von pragmatischen (und logischen) Regeln der Herstellung von
Bedeutungsidentität, wie es dann L. Wittgenstein analysiert hat (E. Husserl, Logische Untersuchungen, 2.Bde, hg. v. U. Panzer,
Haag 1984 [vorallem Bd.2]).
[69] "Menschliche Geschichte, die fortschreitender
Naturbeherrschung, setzt die bewußtlose der Natur,
Fressen und Gefressenwerden, fort"; Th.W.
Adorno, Negative Dialektik, Bd.6 d. GS, FFM 1970 ff., p348.
[70] Siehe Th.W. Adorno, M. Horkheimer: Die Dialektik der Aufklärung, FFM 1969 [1944],
p50-87; T. Reucher: Der unbekannte Odysseus. Eine
Interpretation der Odyssee, Bern/Stuttgart 1989. Reucher
sieht in der Odyssee im Vergleich zur Ilias einen Fortschritt in der Gestaltung
von Herrschaft, die sich hier auf die Einbeziehung personaler und sittlicher
Verhältnisse verlassen muß, um zu funktionieren.
Kommunikatives Handeln würde dann zwar allein Mittel zur Erfüllung von
Strategie, entließe aber auch durch sein Instandsetzen als notwendige Vergesellschaftsform Potenzen an Ambivalenz, auf die Habermas schließlich seine Konzeption der Eigenwertigkeit
der Lebensweltrationalisierung fußt. - Im Text wird dieser Punkt wieder
aufgegriffen.
[71] Hören wir Leibniz angesichts seiner Erfindung des dem arithmetischen
Kalkül formal analogen Infinitesimalkalkül: "Denn meine Erfindung enthält
den Gebrauch der gesamten Vernunft, ein Urteil in Kontroversen, eine
Interpretation der Begriffe, eine Abwägung der Wahrscheinlichkeiten, ein Kompaß, der uns über den Ozean der Erfahrungen leitet
[...]; eine Schrift, die jeder in seiner Sprache liest"; in: W. Künzel, P. Bexte: Allwissen und Absturz. Der Ursprung des Computers, FFM/Leibzig 1993, p50-52 [p51]: Brief von G.W. Leibniz an
Herzog J. Friedrich (1679).
[72] Siehe dazu J. von Stenglin:
Denken der Wirklichkeit. Eine sprachlich und kognitiv fundierte Theorie der
Erkenntnis, Würzburg 1990, p102-103.
[73] M. Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 161986, p180ff.
[74] E. Altvater, Der Preis des Wohlstands, Münster 1992,
versucht mittels der Distinktion Entropie/Syntropie
eine neue Einordnung der Gesellschaften in einer termodynamisch
zu verstehenden Entwicklung zu begreifen: Die Bestimmung der Grenzen von
Entropieproduktion wäre dann Ausgangspunkt für eine Kritik an den im pysikalischen Sinne Unordnung produzierenden
Gesellschaften, gleich, ob es sich um kapitalistisch oder sonstwie
organisierte handelte. Ökonomie wäre als menschliche Ökologie und als
sozialer Prozeß zu begreifen. Meßlatte einer
nachhaltigen Entwicklung der organisierten Menschheit sind also pysikalisch und termodynamisch zu
bestimmende Grenzen der Reproduktion, nicht mehr genuin gesellschaftsinterne.
Siehe auch als Beispiel einer naturalisierten Gesellschaftskritik: R. Bahro,
Logik der Rettung. Wer kann die Apokalypse aufhalten? Ein Versuch über die
Grundlagen ökologischer Politik, Berlin 1990; Parallelen gibt es hier zu C.
Lévi-Strauss' Forderung nach einer Anthropologie als Entropologie
(Traurige Tropen, dt., Berlin/Köln 1970, p366f.).
[75] Auf eine andere Fassung dieser Leere, eine in der
Tradition Lacans stehende, die in dieser Leere einen
anderen Namen für das Subjekt erkennt und dort erkenntnistheoretisch verharren
möchte (anstatt schnell wegzuschauen), wird noch ausführlich zurückzukommen sein;
siehe etwa Slavoj Zizek,
Grimassen des Realen. Jacques Lacan oder die
Monstrosität des Aktes, (dt.), Köln 1993, p206 (Anm. 124).
[76] H.R. Maturana: Erkennen. Die
Organisation und Verkörperung von Wirklichkeit. Ausg. Arbeiten zur biologischen
Epistemologie, (dt.), Wiesbaden/Braunschweig 21985, p86.
[77] Auf die Konsequenzen für eine an Mead und Dewey bis hin
zu Habermas orientierten Rekonstruktion der
Menschenbeziehungen über die Internalisierung objektiver Sinnstrukturen sowie
auf die Konsequenzen anderer Beziehungsmodi zur Welt (Spiegelung, Aneignung)
wird im Text nicht hingewiesen. Sorry!
[78] So der Titel ihres Buches; FFM 1992. Untertitel: Ein
Plädoyer für den Ausstieg aus unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur.
[79] Wäre dem so, dann hat man der Weisung D. Kampers zu
folgen: "Um also überhaupt noch einen Begriff von dem, was vorgeht und in
Zukunft kommt, gewinnen zu können, muß man weit
zurück, vor die Moderne, vor die Geschichte" (D. Kamper:
Zur Soziologie der Imagination, München/Wien 1986, p148).
[80] W. Benjamins Entscheidung, lieber das schlechte Neue
als das gute Alte zu versuchen, kann heute nicht mehr als Distinktion gewählt
werden. Es ließe sich nicht mehr ausmachen, aus welcher Ecke des
utopieamputierten Denkraumes etwas Neues entspränge, das nicht schon durch
seine Vergangenheit bis zur Unkenntlichkeit kontaminiert ist. D.h. nicht, daß es nicht schlechtes Neues auf dem Niveau des "In-der-Welt" gibt. Nur für die Welt ist dies vorbei,
da es vorbei ist, "die Welt" noch denken zu können. Klärend
vielleicht folgende Sätze Luhmanns (in: Ders.,
Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd.4, a.a.O.,
p53): "Die Inflationierung von Präfixen wie
post- oder neo- sind Anzeichen dafür, daß eine
Grenze erreicht ist, die wie im Rückstau alles in Postismen
und Neoismen verwandelt und geschäftliche wie
intellektuelle Werbung in Anspruch nehmen muß, um
sich davon überzeugen zu können, daß das Neue besser
sei als das Alte". Siehe auch den Aufsatz 'Die Behandlung von
Irritationen: Abweichung oder Neuheit?' im selben Band.
[81] N. Luhmann: Neuere Entwicklungen in der Systemtheorie,
in: Merkur, 4/1988, p292-300 [p298].
[82] Fernando Pessoa, Das Buch der Unruhe, (dt.), FFM 1987,
p262-63.
[83] Im Fernsehfilm '3 Tage im April' von Oliver Storz (1995)
fragt die schwerhörige Oma dauernd ihre Angehörigen, ob noch geschossen wird
(es ist Anfang 1945). Nach einer genervten Antwort erkärt
sie, warum sie immer fragt: Wer den Krieg nicht hört, hört auch nicht den Frieden.
Sie habe also Angst davor, sich noch so zu fühlen, als sei sie im Krieg,
wenngleich es schon Frieden sei. - Wir wissen, daß
die Diskriminante von Krieg und Frieden nicht mehr Schieß- und Bombenlärm ist,
verkaufen dies gar als Frieden, der nun allenfalls noch ein Frieden des
Krieges ist.