Einführung: Schatten konturieren im Dunkel

Bernd Ternes

Auszug des ersten Teilbandes Technogene Nähe (2007)

 

 

„Da wir von Wegen unabhängig wären, da alles ‚da’ wäre, würde es keine Distanzen geben: also wären wir raumlos. Da wir auf Tun, Machen oder Warten nicht angewiesen wären, da alles im ‚Nu’ geschähe, würde es keinen Verzug geben; also wären wir zeitlos

Günther Anders[1]

„Wie kann ein Lebewesen, das beinahe die gesamte Zeit seiner Entwicklungsgeschichte in kleinen überschaubaren Einheiten gelebt hat und maximal einige hundert Personen sozial wahrnehmen kann, in der Massengesellschaft von sechs Milliarden Menschen leben, ohne dabei Schaden zu nehmen?“

Gerd-Christian Weniger[2]

„Während der Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen durch die Erscheinungen der Außenwelt [...]“

Wilhelm Worringer[3]

 

 

Basislagersätze

Die folgenden Seiten versuchen darzulegen, daß Anders’ ‚da’ und ‚Nu’ nicht unausweichlich Raum- und Zeitlosigkeit des Menschen bedeuten müssen. Sie versuchen, bestimmte Vorstellungen von Raum- und Zeitlosigkeit – als Effekte einer Entzeitlichung, Enttotalisierung und Entnaturalisierung von Wirklichkeit (Hans Ulrich Gumbrecht) – zu verstehen und in ihnen neue Vorstellungen von bisher unvorgestellten Formen von Räumlichkeit und Zeitlichkeit zu skizzieren, die lebendige Abwesenheit möglich machen könnten. Sie versuchen auf Wenigers Frage eine Antwort zu finden, die über den Horizont reiner Schadensverhinderung hinausgehen soll; die also eine Alternative zur uns bekannten sozialen Wahrnehmung bedenkbar machen möchte. Und sie versuchen schließlich, Worringers starken Hiatus zwischen Einfühlung und Abstraktion dergestalt zu entkräften, daß eine Einfühlung in die beunruhigenden abstrakten Außenwelterscheinungen, daß also eine Art von „neuem Innen“ im „Außen“ historisch-anthropologisch denkbar wird – und dies ohne Rekurs auf das Wechselspiel von Inkorporationen und Exkorporationen, das als Spiel dem Abwesenden im Nahraum unseres Handelns eine Raum-Zeit-Stelle zuweist.[4] Denn die folgenden Ausführungen nehmen die Behauptung Anders’ auf und versuchen sie weiterzutreiben, daß Individuen heute auch da sein können und Adressen besitzen, wo sie räumlich nicht sind: „Während bis vor kurzem die Raumstelle das principium inviduationis des Menschen gewesen war und damit eine pragmatische Rolle gespielt hatte, das heißt: während man früher dort unwirksam war, wo man nicht war, und ‚Sein’ stets bedeutet hatte, ‚an einer bestimmten Stelle sein’, kann man jetzt eben an mehreren Stellen, virtuell überall zugleich sein.“[5] Diese bis jetzt weitgehend intime und private, durch Kommunikationsmedien der letzten 100 Jahre zunehmend den massenhaft vereinzelt Einzelnen ansprechende Fähigkeit gilt es ‚abzuklopfen’ ob ihres Vergesellschaftungspotentials mit Blick auf die Vorstellung, daß ein erweitertes Prinzip gesellschaftlicher Synthesis (nach dem der Arbeit) realisierbar ist, das sich als vom Interaktionswesen Mensch auf eine noch unbekannte Weise emanzipiert erweisen könnte.

Die folgenden Ausführungen näheren sich „der Technik“ nicht systematisch etwa im Sinne van der Pots[6], sondern sehr spezifisch sozialphilosophisch, technikanthropologisch – und wohl auch voluntaristisch. Sie wollen dazu einem Fragenkomplex nachgehen, nämlich:

Kann das im Zuge der Evolution des Vermögens zur Distanzierung nicht mitevoluierte Vermögen von Menschen, eine Nähe, eine Verbindung, eine Motivation zu großformatigen, abstrakten Gebilden herzustellen, nun, mit der rigider werdenden Technologisierung der Existenz, überhaupt zum ersten Mal angesprochen werden, so daß erst jetzt, mit Beginn und im Laufe des 21. Jahrhunderts, ein Sprung im prometheischen Gefälle passieren könnte und es möglich wird, daß Menschen mittels, in und durch Technologie zu ‚kommunizieren’ vermögen mit gesellschaftlichen Abstrakta, und zwar emotional, motivational, vielleicht sogar mantisch? Daß Menschen vielleicht zu kommunizieren vermögen mit Technologie?[7] Und, unwahrscheinlichster Fall: Daß Menschen zu kommunizieren vermögen mit Gesellschaft? In nuce: Daß sich etwas einstellen könnte, das man als technogene Nähe[8] auszeichnen kann, verstanden als eine evolutionär sehr spät sich realisierende Fähigkeit von sozialen Systemen, Raumnäheverhältnisse emotional und motivational zugänglich zu machen für Verhältnisse, die durch Raumferne, Näheferne, also durch Raumentfernungen und reelle Abstraktionen gekennzeichnet sind?; also so etwas wie eine technologisch induzierte Realisation der Möglichkeit eines noch zu erläuternden „kreaturalen“ Imperativs[9] (und nicht eines moralischen!), eines den von uns, den Menschen, kreierten inhärenten Regeln und Gesetzen des lebendigen künstlichen Entstehens verpflichteten Imperativs, der nicht mehr transzendental und kognitiv, sondern immanent und kommunikativ, vielleicht gar physis-generativ (Hans Peter Weber) gemodelt ist? – Es geht also, um das Spekulative der Fragen auf die Spitze und zu einem Ende zu treiben, darum, in einer technogenen Nähe die Daseinsfunktion des sensus communis, des common sense, des koiné aisthésis zu rekonstruieren; und dies so, daß nicht mehr ebendieser Gemeinsinn auf den Menschen rückbezogen wird als der Sinn, der den fünf menschlichen Sinnen grundlegend gemeinsam unterliegt, sondern als Sinn, der sich qua technologischer und technogener Vergesellschaftung nun dem sozialen Leben, also der Sozialität als solcher, zu unterlegen beginnt[10] – und vermutlich die theoretische wie reell empirische Spannung zwischen „Individuum“ und „Gesellschaft“ in eine andere Polarität umleitet, in die zwischen Kultur und Technik. Dieser hier angedeutete Sinnbegriff bedarf nun einer besonderen Erlebens- und Erkenntnisform, einer „koenästhetischen[11] resp. einer mantischen Form, die, so die These der Arbeit, mit den neuen elektronischen Techniken und den neuen Kulturtechniken der Kommunikation möglicherweise mitausgebildet werden könnte. Der gesellschaftliche Zustand, von dem Christina von Braun in den folgenden Sätzen auszugehen scheint, wird in den hier verfolgten Sichtweise als noch nicht eingetretener Zustand aufgefaßt, aber als Zustand, der mit und durch technogene(r) Nähe erreicht werden soll. Die Autorin schreibt: „Der moderne Gemeinschaftssinn ist das Produkt der Kommunikationsgesellschaft, ihrer Strukturen und Vernetzungen. Das Kommunikationssystem ist gleichsam an die Stelle der Wurzeln getreten, die Descartes mit der Metaphysik und Diderot mit dem sichtbaren Gott, der Philosophie und den Naturwissenschaften gleichsetzte. Aus einem Netz von Vorschriften, die vorher, im religiösen Kontext oder im absolutistischen Staat, über die Gefühle und das Denken bestimmten, ist ein technisches Netzwerk hervorgegangen, das den Gemeinschaftssinn bewirkt.“[12] Technogene Nähe wäre Effekt eines „technischen Netzwerks“, das den Gemeinschaftssinn nicht mehr nur bewirkte, sondern mitkonstituierte – und dies ohne Inkaufnahme einer permanent zu verarbeitenden „Schizotopie“ durch den Zwang zur räumlichen Doppelexistenz in realen und medialen Räumen.[13]

Mit diesen aufgespreizten Fragen und Behauptungen wird jetzt schon eine enorme Vakanz der Denkrichtung merkbar: Denn wie soll all dies möglich sein können ohne eklatante Veränderung der anthropologischen Verfaßtheit (nicht: der genetischen Verfaßtheit) des Menschen? Wie soll das technische Gestell eine Form des „Innen“ werden können, wenn der Mensch sich nicht auch in seiner Eigenschaft als Lebewesen, das, wie meist beschrieben, aus der Schöpfung gefallen ist, grundlegend zu ändern hat? Kurzum: Wie soll der – hier behauptete notwendige und elementare – ‚Sprung’ von einer anthropogenen Technik[14] zu einer technogenen Anthropologie vonstatten gehen bei gleichzeitiger völliger Unklarheit über die Dimension der Transformation des Humanums? Wie soll die moderne Technik gedacht werden, wenn sie nicht mehr in ihrer Funktion gedacht werden soll, die darin besteht, die Sichtbarwerdung des Absurden zu verhindern?[15]

Und, mehr noch: Wie soll eine durch technogene Nähe ermöglichte Pazifizierung der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen und Gesellschaft sich einstellen, ohne auf den zivilisationstypischen Weg der Erhöhung von Distanz bei gleichzeitiger Verminderung/ „Verlichtung“ von Nähe zu geraten, sondern vielmehr von diesem abzuweichen, um einen anderen Weg zu finden, dessen Richtung es ist, Näheformen zu favorisieren, die sich gleichsam durch die Fortsetzung der Arbeit an der Emanzipation-von-Natur einstellen könnten? Die Brisanz dieses Ansatzes wird deutlicher, wenn man Norbert Elias zu Wort kommen läßt:

„Auf der Ebene des menschlichen Zusammenlebens, auf der sozialen Ebene, bleibt das Maß der Distanzierung im Denken und Handeln weit hinter dem zurück, das wir auf der physikalischen und biologischen Ebene erreicht haben. Auf den sozialen Ebenen läuft die Kreisbewegung, in der eine relativ hohe Affektivität des Denkens und Handelns in Reaktion auf unkontrollierbare Gefahren, die von Menschengruppen ausgehen, erhalten bleibt und vice versa, weiterhin auf hohen Touren; ihr Niveau ist dem von vorwissenschaftlichen Beziehungen der Menschen zur nichtmenschlichen Natur in früheren Tagen vergleichbar.“[16] – Wie soll es nun vor sich gehen, nicht in der Erhöhung der Distanz, sondern in der Erhöhung von Nähe, die zugleich keine Affektivität mehr ist, eine „kontrollierte Lebenswelt“ für Menschen, d.h. eine weniger gewaltsame, für möglich zu halten, verbunden mit einer zentralen Technisierung des sozialen Lebens?

Diese schwerwiegenden und der Antwort harrenden Fragen basieren zudem auf einer grundlegenden Unterscheidung von Kultur- und Zivilisationstechnik, von kulturtechnischem fading (Hans Peter Weber, Hans Ulrich Reck) und zivilisatorischem forcing (Marshall McLuhan, Friedrich A. Kittler). Für die forcierende Seite einer technologischen Zivilisation haben Eggert Holling und Peter Kempin am Begriff des peripheren Individuums eine treffende Diagnose gestellt:

„Durch die Übernahme gesellschaftlicher Integrationsleistungen durch die Maschine werden die entsprechenden sozialen Fähigkeiten der Individuen ‚moralisch verschlissen’. Sie sind noch vorhanden, werden aber gesellschaftlich unwichtiger, müssen sich zunehmend im Privaten betätigen. Auch die gesellschaftlich definierte Identität des einzelnen umfaßt zunehmend weniger die gesamte Person. Identität muß ebenfalls immer mehr im Privaten gefunden werden.“[17]

Für die forcierende Seite, die auf solcherart Diagnose affirmativ im Sinne einer notwenigen Dekonstruktion des „Subjekts“ aufbaut, ist Kommunikation immer schon Kommunikationstechnologie, die in fortgeschrittener Entwicklung Erhebliches zur Konsequenz hat: „Grammophonie und Telephonie, Photographie und Radiophonie stehen dafür ein, daß ‚Menschenfassungen’ (Seitter) heute Programmierungen durch Medien sind.“[18]

Für die Seite einer technologischen Kultur käme es nun im Begriff der technogenen Nähe darauf an, die Entpersonalisierung, Privatisierung und Desozialisierung, also die ‚Antiquierung’ des menschlichen Individuums in der warenproduzierenden kapitalisierten Marktwirtschaftsgesellschaft als intermediäre Gestalten historisch spezifischer Gesellschaftsvermittlung zu denken; also als eine Vermittlungweise (in Anlehnung zur Produktionsweise), die, gegenwärtig im Zustand des Kippens, nicht klar erkennbar macht, ob und wieweit technologische Integration es mit menschlicher Sozialität als Organisation (im Sinne Maturanas) zu tun hat oder nicht; und nicht klar erkennbar macht, ob und wie das de facto- und das de jure-Individuum in Zukunft rekonstruiert werden kann – denn es ist unklar geworden, ob „das Individuum“ wirklich Gattungswesen werden kann, wie es die marxistische Philosophie insinuierte.

Einer Theorie technologischer Kultur, also des ‚cultural engineerings’, muß es um den Nachweis gehen, daß die Realisierung von Technik als soziale Beziehung funktioniert – und zwar so funktioniert, daß die maßgebenden Ordnungsleistungen in menschlichen Gesellschaften nicht mehr maßgebend aus der symbolischen/ sprachlichen und moralischen Ordnung abgezogen werden müssen (man könnte auch übertreibend sagen: Nach dem Gesetz; ein Zustand, den wir uns heute nur katastrophal denken können)[19]. Zudem muß sie Klarheit darüber zum Ausdruck bringen, ob sie als Gesellschaftstheorie entwerfbar ist oder nicht[20] – und zwar entwerfbar jenseits einer soziologisch verstandenen, d.h. eingeschränkt modernistisch verstandenen Gesellschaft; und sie muß nachvollziehbar machen, wie sie an die Programme sozialer und normativer Planung angeschlossen werden kann, ohne die Einsichten in die Begrenztheit, die Inversion und die Kontraproduktivität der Implementierung bestimmter Zweck-Mittel-Schemata sowie normativer Hypothesen zu ignorieren.[21] Die fast unlösbare Aufgabe besteht also darin, nicht nur, wie Hans Günter Holl sagt, „dem Abstrakten in seiner konkreten Erscheinungsweise [...] noch seine Abstraktheit anzusehen“[22], sondern auch darin, diese Abstraktheit als motivational und technisch-sozial anschließbare Realität zu denken, die eine neue, eine andere Konkretheit soziablen/ sozialen Daseins emergiert, die nicht mehr der ‚Ästhetik der Existenz’ subordiniert ist. – Bis dahin sind allerdings noch alle Fragen offen.

Sollten zudem die Fragen auch nur in Teilen zur Antwort haben, daß dem so sein könnte, daß also erst mit einer bestimmten „Dichte“ an Technologisierung der sozialen Beziehung (in Richtung: Emanzipation der psychosozialen Reproduktion der Menschen von menschlicher Anwesenheit) schlechthin ein zutiefst untechnologisches Vermögen, nämlich die motivationale Näheherstellung zu genuin abstrakten Gebilden und Gestalten, die Bühne der geschichtlichen Modelung von sozio-anthropologisch Evoluiertem betritt:

dann stellt sich eine zweite, etwas kompliziertere Frage, nämlich: Gehörte dieses eintretende Vermögen „ontisch“ zu einer technischen Existenz der Menschen, oder hörte es schon „kreatural“ einer ‚postmenschlichen Generativität’ von Physis an?[23] Wird eine neue Dimension des Sozialen integriert in den Anthropo-Kosmos (mit den bekannten ökologischen, psychischen und sozialen Kosten), oder wird der Anthropo-Kosmos in einer neuen Dimension integriert in den Kosmos der Physis?

Wäre ersteres der Fall, könnte an die kritische Vernunftkritik angeschlossen werden (etwa, in aller Diversität: Theodor W. Adorno, Gebrüder Böhme, Dietmar Kamper, Günther Anders, vor allem aber Otto Ullrich[24] und, mit einem anderen Anschnitt, Jürgen Habermas[25]); wäre zweiteres der Fall, dann stünde das „System“ der Kritik als die Totalität des Systems betreffende vor seiner Auflösung, zumindest jedoch vor seiner Regionalisierung. Wie eine Reformulierung „der Technik“ aussieht, die auf der Grenze zwischen dem ersten und dem zweiten Modell bleibt, hat Andrew Feenberg epigrammatisch demonstriert, dabei allerdings im Rahmen einer ambivalenzaversiven Aufklärung bleibend.[26] Der weiter unten im Text auszuführende Sachverhalt, Marxismus als Methode der Beschreibung einzusetzen, um der Technik theoretisch zu begegnen, versteht sich dementsprechend als Versuch, bestimmte Merkmale des Marxismus stark zu machen für einen (zukünftigen?) Kapitalismus, der, so die Vermutung, nicht mehr viel mit der Geschichte der Bürgerlichkeit und der Industrie zu tun haben wird – wohl aber mit der „verkehrten“ Verteilung von Gegenstands- und Gesellschaftskonstitution und damit von Geschichts- und Verkehrszeit.

Ob dieses Präparieren am Marxismus als Methode der Erkenntnis gelingt, bleibt abzuwarten, gerade eingedenk der überzeugenden Behauptung, daß der (Arbeiterbewegungs-)Marxismus gleichsam eine genuin bürgerliche Erscheinung und nur noch historistisch von Interesse ist.

Auszugehen ist im folgenden auch davon, daß die strukturell gewaltsamen und gewalttätigen Transformationen kapitalistisch-technischer Revolution zur Annahme berechtigen, daß der Biotop zu einem Technotop geworden ist[27]; daß es also möglich ist, „daß eine Technologie auf Grund einer falschen Theorie konstruiert wird und trotzdem funktioniert. [...] Es geht bei Technik, anders gesagt, [..] um kombinatorische Gewinne. Daß es funktioniert, wenn es funktioniert, ist auch hier der einzige Anhaltspunkt dafür, daß die Realität soetwas toleriert. Wir kehren, mit anderen Worten, die übliche Annahme um: Nicht die Technik wird isomorph zur Natur konstruiert, sondern die Natur in dem jeweils relevanten Kombinationsraum isomorph zu dem, was man technisch ausprobieren kann.“[28] Kurzum: Wenn Severin Müller mit Recht feststellt, daß bestimmte Teile der Technik unter Endlichkeitsbedingungen auf die Umorganisation des Endlichkeitsgefüges der Realität zielen[29] – Effekte des Entbergens dies –, so könnte man die mit etwas weniger Recht ausgestattete Grundthese verfolgen, daß Technik unter Entfernungsbedingungen auch auf die Umorganisation des Nähe/Ferne-Gefüges innerhalb des sozioanthropologischen Kosmos zielt – und dies verstanden als Effekte eines Einbergens.

Diese Einbergung, von der im Hauptteil die Rede sein wird, soll als sowohl zuspitzende wie auch als womöglich transgredierende Fortentwicklung der Einwohnung (Oikeiôsis) aufgefaßt werden: Steht der antike Begriff Einwohnung für die Wandlung des Menschen vom biologischen Lebewesen zum moralischen Vernunftwesen und also ein für einen langandauernden Prozeß des Sich-Einrichtens und Sich-Einräumens in dieses „neue“ Daseinsform, die von Seiten der Philosophie als das dem Menschen Eigenste gedeutet wurde, so stünde die hier versuchte Fassung einer Einbergung ein für den Wandlungsprozeß des Menschen hin zu einem kreaturalen Wesen, dessen Oikos nun der ZeitRaum[30] (nicht Ort!) technogener Nähe sein könnte. Pointiert: Der ZeitRaum, in dem sich Menschen einrichten in die Verkörperungen der Nachrichten.

Diese optimistischen Vorstellungen einer einbergenden Technik sollen in einer nicht-naiven Weise entfaltet werden, d.h.: sie wissen, so die weiterhin zutreffende Metapher, daß unsere bisherige Technik in der Natur steht wie eine Besatzungsarmee in Feindesland[31]. Sie, die optimistischen Vorstellungen, ruhen auf einer technikhistorischen Einschätzung, wie sie Wolfgang Kaempfer folgendermaßen pointiert zur Sprache bringt: „Eines der mörderischsten Jahrhunderte der Menschheitsgeschichte ist zu Ende gegangen. Erstmals hatte sich der Utopismus des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts auf eine technisch-technologische Basis stellen lassen, die die totale Mobilmachung aller menschlichen und materiellen Reserven garantieren konnte. Eine bis heute nicht abgerissene Folge von Exzessen war die Konsequenz“[32] – Günther Anders spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Stadium des postzivilisatorischen Kannibalismus alias „Industrielle Revolution“.[33]

Und sie ruhen, will man Technikkritik in kleinerer Münze formulieren, auf der Einschätzung Lothar Hacks’, wonach die normative Kraft des Faktischen sich nur dadurch brechen läßt, „wenn sich die Wissenschaft der Mühe unterzieht, konkret und detailliert nachzuweisen, in welchem Maße und in welcher Form sehr spezifische Interessen sich in den Mystifikationen technischer und technologischer Artefakte zu verbergen suchen.“[34] Dennoch: Unterstellt wird auf den folgenden Seiten, daß eine ‚andere“, nicht mehr ausschließlich wie bisher der Wertverwertung und den Kriegsphantasmen unterstellte Technik durchaus möglich ist, die in ihrer wohl weiterhin zerstörerischen Entbindungskraft und -macht soziomorphische Vermögen für neue Nähe- und Verantwortungsmodi freizusetzen vermag, die den Menschen zumindest weniger materielle, symbolische und physische Gewalt antun, als es zur Zeit der Fall ist![35]

 

Gesucht werden also Hinweise, die Technik ausweisen können als einbergende Kraft, die einen neuen Horizont innerhalb der sozioanthropologischen Verfaßtheit der Menschen anzeigen könnte: einen Horizont der Nähe, der kultivierbaren Ekstase (und nicht der Exzesse), der über die bisher gesellschaftsgeschichtlich maßgebenden Horizonte der Interaktion und der Gemeinschaft hinausgeht – und damit in etwas hinein, das seit bald 200 Jahren soziologisch mit dem Wort Gesellschaft benannt, aber gleichsam weiterhin nicht verstanden wurde und auch wird.[36] Etwas geo-philosophischer, geo-politischer und theoriegeschichtlicher gesagt:

Gesucht werden Bedingungen zur Ermöglichung des Fragens nach einer Technologisierung und Modernisierung bestimmter Einsichten des „Deutschen Idealismus“ (und nicht des Futurismus!), nachdem „Europas technologische Lücke“[37] sowohl geschlossen als auch zugedeckt wurde. Es geht, negativ formuliert, darum, die Unterscheidung von Freund und Feind als Bezeichnung des äußersten Intensitätsgrades einer Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation so weit wie möglich zu marginalisieren[38] – und trotzdem nicht abzulassen von der Notwendigkeit intensiver sozialer Beziehungen, die es nun technologisch-technogen, aber nicht mehr ideologisch zu formatieren gilt.

Technogene Nähe soll also nach diesen wenigen Hinweisen folgendes bedeuten: Eine spezifisch auszumachende Weise der Teilhabe und des Teilseins an und mit Gesellschaft, die einen bestimmbaren Anteil ihrer realisierten/ ermöglichten/ imaginierten Intensität sozialer Bezogenheit abzieht für die technisch hegemoniale Vermittlung selbst; und zwar so, daß keine einfache Attraktion resp. Affektion (Film, Fernsehen: intensive Visualisierung ersetzt die unmögliche Berührung/ Begegnung), sondern eine motivationale Detektion der psychosozialen Verfaßtheit zu passieren vermag. Technogene Nähe meint eine Form von Zugehörigkeit, die sich nicht auf die Beziehung zwischen Menschen bezieht, sondern auf die Form der Bezogenheit selbst – etwas, das bisher nur dem Freud’schen Unbewußten zugestanden wird. Sie ist damit keine neue Form von Nähe; vielmehr eine Weise des Beziehens, die elementare „anthropologische“ Merkmale resp. ‚Primär-Emotionen’[39] wie zum Beispiel Abwesenheitsschmerz, Sehnsucht, (repetitives und verführtes) Begehren, Verantwortungsabwesenheit durch Distanz aussetzt, modelt und aufhebt, und die gleichsam neue Bezüglichkeitsformen jetzt erst anzusprechen und zu bespielen vermag; so zumindest die Hoffnung.

Jetzt soll heißen: Eine Phase der Gesellschaftsentwicklung, in der die generalisierten Kommunikationsmedien wie auch die Formen der Vermittlung von Synthesis, Dynamis und Praxis in eine selektive Phase der Evolution eintreten. Technogene Nähe soll eine Inklusion anzeigen, die nicht mehr über den Umweg einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer Gesellschaft, eines generalisierten Anderen doch wieder nur eine bestimmte Person, bestimmte Personen, bestimmte Kulturen, bestimmte Rollen sozial adressiert, sondern die direkt die Organisationsweise und -form selbst anspricht. Technogene Nähe soll im Momente, in dem sich die „Diskrepanz der Kapazität unserer verschiedenen Vermögen“, so Anders[40], klafftertief öffnet, Ausschau halten nach Hinweisen des Entstehens eines Vermögens, das Menschen einsetzt in ein und befähigt zu einem Leben in Künstlichkeit und Ferne – etwas, das gegenwärtig zumeist noch mit Begrifflichkeiten wie Entfremdung, Verdinglichung, Anonymität, Einsamkeit, Vertrauensverlust beschrieben wird.

Für den Gedanken der technogenen Nähe ist entscheidend, nicht zurückzugreifen auf kompensatorische Strategien, die unterstellen, daß „der Mensch“ den hochabstrakten Gesellschaften nicht gewachsen ist und er folglich in der Familie, in der Gemeinschaft, in der Übersichtlichkeit erst zuhause sein kann. Indes: Erst eine jetzt in Ahnung mögliche Erweiterung dessen, was Technologie des Sozialen bedeuten könnte, läßt den Gedanken zu, daß sich Entfremdung, soziale Distanz und Anonymität bloß als erste Erscheinungsweisen orten lassen für ein Leben des Menschen in Abstraktion und Unpersönlichkeit. Auch hier, jetzt ganz konform der marxistischen Dialektik, könnte man die erste Sozialisationsphase namens Markt als Initiation in ein Leben der unpersönlichen Beziehungen beschreiben, die den „Boden bereitet“ hat für eine „zweite Aneignung“ der freigesetzten Realitäten, und die es nun „aufzuheben“ gilt.

 


1 Textinstrumentarium der ersten Runde

 

Das sind also die ersten, hier sehr erläuterungsbedürftig formulierten Fragen und Thesen der folgenden Einführungs- und Skizzensätze. In einer ersten Runde werden die Autoren Dieter Claessens, Martin Heidegger, Wolfgang Hogrebe, Alexander Kluge, Marshall McLuhan, Niklas Luhmann, Heiner Mühlmann, Peter Sloterdijk und Hans Peter Weber sowie der Sachverhalt „Marxismus als Methode“ (Christof Helberger) aufgesucht, um die gestellten Fragen aufzuklären.[41] Im darauffolgenden Kapitel sollen dann erste Kritik- und Fragezuschneidungen probiert werden.

An Claessens interessiert der von ihm aufgemachte missing link zwischen der Kulturtechnik Distanzierung und der Leerstelle ‚Näherung’ des Menschen; an Heidegger seine Visionen einer Technik als Gestell; an Hogrebe seine Erkundungen von Erkennensweisen im poetisch-philosophisch-literarischen Feld, die eher mantisch-sphärischer Art sind denn kognitiv und durch Zeichennutzung induziert; an Kluge seine Erkundungen der Macht der Gefühle jenseits ihrer je gegenwärtigen Adressabilität; an McLuhan das Ausbuchstabieren einer durch „magische Kanäle“ veränderten menschlichen Gesellschaft; an Luhmann sein Insistieren auf der Unmöglichkeit von Kommunikation zwischen ‚Individuum’ und Gesellschaft; an Mühlmann die Erkundung einer Natur der Kultur, die kulturell zu werden hat; an Sloterdijk die Erforschung von motivational-mantisch sich einstellenden Beziehungen zu/in Räumen bzw. Sphären und der Nachweis einer Unmöglichkeit ebensolcher Beziehungen in großformatigen „Containern“; und an Weber seine Ausarbeitung einer Theorie der Physis, die den Formen der Einbergung Kontur zu geben versucht; sowie am Sachverhalt „Marxismus als Methode“ die Frage nach der Möglichkeit einer marxistischen Beschreibung der politischen Ökonomie nach dem vermutlichen Ende negativer Dialektik.

Wie kann man dies alles zusammenbringen, ohne Haufen zu produzieren? Wie kann eine Art Gewebe entsteht, mit dessen Hilfe man erste Konturen einer anderen Dosierung des Verhältnisses von Evolution und Geschichte menschlicher Gesellschaften ausmachen könnte? – Diese Fragen sind noch offen.

 

Textinstrument Claessens

Versucht man, im Rahmen des Lebens nach dem Menschen zu fragen, besteht weiterhin die Möglichkeit, dem Moment nachzugehen, „wann und wo sich das Abstrakte abhebt und ab wann weiteres vermenschlichtes Tun nicht mehr möglich ist, ohne die Aufnahme einer Beziehung zu einer abstrakteren und insofern höheren Ebene als der direkten oder indirekt konkret-sinnlichen.“[42]

Das tat Claessens. Ginge man nicht vom Rahmen des Lebens aus, um nach „dem“ Menschen zu fragen, sondern vom Rahmen der Technologie, dann wäre es plausibel, die Unterscheidung abstrakt/ konkret nur noch für Differenzierung innerhalb des Abstrakten aufzumachen, nicht mehr aber für konkret-sinnliche Daseinsgestalten; man könnte oder müßte dann zwischen konkreter und abstrakter Virtualität unterscheiden[43]. – Wie kann man diese beiden Ausgangsweisen zusammenbringen?

Zuerst einmal wäre die Annahme sinnvoll, daß die gesellschaftshistorisch notwendig gewordene ‚Aufnahme einer Beziehung zu einer abstrakteren und insofern höheren Ebene als der direkten oder indirekt konkret-sinnlichen’ ineins Technik (ganz allgemein verstanden als wiederholbare Weise der Nichtunmittelbarkeit) mitdenkt, mehr noch: Wenn Claessens behauptet: „Es ist die These, daß neben der Hauptfähigkeit zur Distanzierung von der ‚alten Natur’ das Hauptdefizit des Menschen seine evolutionär bedingte Unfähigkeit ist, zum Organisieren großer Populationen und den sich dabei unvermeidlich ergebenden Komplikationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden“[44], dann sieht man eine keineswegs problematische Beziehung zwischen der Hauptfähigkeit des Menschen zur Distanzierung und der Technologie seiner Daseinsdimensionen, egal, ob die Fähigkeit als Effekt der Technologisierung oder die Technologisierung als Effekt des „Wesens“ dieser menschlichen Fähigkeit gedeutet wird.

Problematisch und im weiteren Fortgang von Interesse ist aber ein anderes Verhältnis, nämlich das Verhältnis zwischen der gegenwärtigen Technologisierung und dem Hauptdefizit des Menschen, zum Organisieren großer Populationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden. Ist es denkbar, daß Technik jetzt nicht mehr nur die Distanzfähigkeit bedient, erweitert, gestaltet, ausdrückt, sondern beginnt, Kapazität zu werden für die Bildung einer motivierenden Näherung und Nähehaltung der Menschen zu abstrakten Gebilden? Das ist die Frage an die Technik, und zwar bewußt an die Technik, nachdem zumindest vorläufig die Kandidaten namens Vernunft und Sprache als Kapazitäten für ebendiese Bildung einer motivierenden Annäherung diskreditiert worden sind/ sich diskreditiert haben. Durch was kann also rationale Motiviertheit ergänzt werden? Und wie?

 

Textinstrument Heidegger

Unter den Titeln Das Ding, Das Gestell, Die Gefahr und Die Kehre hielt Heidegger 1949 in Bremen Vorträge, die mehr oder weniger konzentriert sich der Frage nach der Technik widmeten.[45] Im Vortrag Das Ding erklärt Heidegger sehr kryptisch dies: „Die Dinge sind vergangen, weggegangen – wohin? Was an ihre Stelle – gestellt? Die Dinge sind als lange vergangene und gleichwohl sind sie noch nie als Dinge gewesen. Als Dinge – ihr Dingwesen ist noch niemals eigens ans Licht gelangt und verwahrt worden.“[46] – Heidegger macht also am Ding und am Begriff ‚Ding’ ein Defizit aus, das er historisch situiert. Es geht um das Dingwesen der Dinge, das sich noch nicht habe zeigen können in den Prozeduren der Lichtung.

Was er hier am Dingwesen beschreibt, beschreibt Heidegger auch am Technikwesen. Zwei der oben genannten Vorträge wurden in teilweise erweiterter Fassung unter dem Titel Die Technik und die Kehre 1962 veröffentlicht.[47] Darin wird eine sehr mächtige „Noch nicht“-Situation beschrieben, die die Technik mit den Menschen verbindet. Heidegger: „Wenn das Wesen der Technik, das Gestell als die Gefahr im Sein, das Sein selbst ist, dann läßt sich die Technik niemals durch ein bloß auf sich gestelltes menschliches Tun meistern, weder positiv noch negativ. Die Technik, deren Wesen das Sein selbst ist, läßt sich durch den Menschen niemals überwinden.“[48] Gleichsam ist das Menschenwesen nötig, um das Wesen der Technik zu stellen und (die Gefahr) zu entstellen. Heidegger: „Zur Verwindung des Wesens der Technik wird allerdings der Mensch gebraucht. Aber der Mensch wird hier in seinem dieser Verwindung entsprechenden Wesen gebraucht. Demgemäß muß das Wesen des Menschen erst dem Wesen der Technik sich öffnen, was ereignishaft etwas ganz anderes ist als der Vorgang, daß die Menschen die Technik und ihre Mittel bejahen und fördern.“[49]

Was in diesen Sätzen, die später ausführlicher erörtert werden, zum Ausdruck kommt, ist die Offenheit des Gedankens, daß dasjenige Menschenwesen, das nun endlich der Verwindung der Gefahr (als dem Wesen der Technik) entspricht, durchaus nichts mehr mit demjenigen Menschen zu tun haben muß, der Technik bejaht und fördert. Mehr noch: Daß das Sich-dem-Wesen-der-Technik-Öffnen soziologisch gesehen durchaus nichts mehr mit dem Menschen zu tun haben muß, sondern ein Vorgang, ein Ver-Hältnis (Heidegger) sein kann, das innerhalb des Gestells passiert. Und das heißt zumindest soviel wie: außerhalb des anthropologischen Humanums.[50]

Das also ist nun die Frage: Inwieweit eine (im Heidegger’schen Sinne) avancierte Technik es schaffen könnte, das „Wesen“ des Menschen tatsächlich von der Anthropologie zu entkoppeln, eben weil klar ist, daß es keinen Begriff, kein Wesen des Menschen gibt, das im Daseinsbereich des Anthropo-Kosmos ausfindig gemacht werden kann.

 

Textinstrument Hogrebe

Dieses Textinstrument betrifft sowohl das in Rede Stehende dieser Arbeit wie auch die Rede der Arbeit selbst; es betrifft sowohl die Frage nach dem „Gegenstand“ dieser Arbeit als auch das Fragen als „Gegenstand“; es betrifft also sowohl das „Erkenntnisinteresse“ wie auch die „Methode der Erkenntnis“. Deswegen muß etwas weiter ausgeholt werden.

Meinung und Wissen, oder auch Dogma und Skepsis (bzw. Erfahrung), Ahnung und Erkennt­nis, Diskursivität und Kritizismus, rational motivierte Intersubjektivität und ästhetisch stimmige Ex­pressivität: Man kann noch mehr solcher Paarunterscheidungen aufzählen, de­ren interne Asym­metrie den Sinn hat, sich für einen der Begriffe zu entscheiden, mit allen Folgerungen und Konse­quenzen, die daraus zu ziehen sind (und dies dann meist wieder mit an­deren Theorie- und Begriffswerk­zeugen, für die das gleiche gilt; bis man bei der Unter­scheidung techneepisteme angelangt ist). Die Frage hier ist, welcher Begriffe sich die Sozi­alwissenschaft tunlichst zu bedienen und welche sie ohne Rücksicht auszusortieren hat, will sie denn ihren Status als Wissenschaft – transparente Produktion exoterischen Wissens – auch in der Methode, in der Pro­grammatik der Diskursi­vität und in der Theorie praktizieren, und nicht nur ihren Status als Etikett für Fremdwahr­nehmung wahrneh­mbar halten. Es tut sich dementsprechend einiges innerhalb der Sozialwissenschaft, das sich vielleicht so in zwei Teile schneiden läßt:

a) Die eine Seite vertritt den Standpunkt, es ließe sich mit Gewißheit sagen, daß die von vier Sozial­wissenschaftler-Generationen ausprobierten und praktizierten Programme methodischer, metho­dologischer, evaluati­ons- und intersubjektivitätstheoretischer Art es weiterhin mit Er­fahrung der Wirklichkeiten und der Ge­sellschaften zu tun haben, und wie sonst keine anderen Programme des Kurzschließens von Worten und Dingen das Erleben organisieren und auch weiterhin organisieren sollten. Ver­änderungen, Einbrüche, grundlegende schleichende Wechsel verschiedenster Dosierungen sachlicher, sozialer und zeitlicher Aggregate finden auf der Objektseite statt, nicht auf der Beobachterseite. Die solches vertretende Seite kann sich nochmals absichern durch interne Reflexion folgen­der Fragen:

1. Mit welchen grundle­genden Annah­men über den Sachverhalt Gesellschaft trifft der wissenschaftliche Beobachter seine Vorentscheidun­gen?

2. Aus welchem Kriterien-Kontext und mit welchen Kriterien wird die be­griffliche Strukturierung des Sachverhalts vorgenommen?

3. Welche Methoden und warum diese?

4. Wel­che Interpretationen sind zulässig und welche nicht (Referenz: Wissenschaft)?

5. Inwie­weit ist der Einfluß wissenschaftsexterner Faktoren im Procedere der wissenschaftlichen Auseinander­setzung einseh- und benennbar?

 

b) Die andere Seite vertritt innerhalb der Wissenschaft etwa folgendes: Um als Wissenschaft weiterhin mit ge­sellschaftlichem Erleben zu tun zu haben und dies erkenntnisorien­tiert zu verarbeiten, sei es nicht mehr ausreichend, in­nerhalb der Struktur gewordenen Selektionen von Formen, Pro­grammen und Codes den Varia­tionsspielraum zu nutzen, sondern man müsse nun auch an die Variation der Selektionen anschließen. Man könne also nicht mehr davon ausgehen, daß es weiterhin stabile Formen gibt (Funktionssysteme wie Wissenschaft und Recht; Gattungsformen wie Comic oder Roman; Versorgungssysteme wie Rente und Erziehung; Codes wie Unterhaltung oder Informa­tion), die bloß abverlangen, daß man sich inner­halb dieser festen Gehäuse nur um Devianzen, Verschiebungen, Er­fahrungen und Erkenntnisse zu kümmern hat. Vielmehr müsse man intellektuell dieses ge­sellschaftsinfra­strukturelle Ensemble der Ordnung und Orientierung von Semantik und Handeln selbst als in ei­nem Pro­zeß der Änderung befindliches Gebilde ansehen.

Diese Einschätzung hat Folgen für die Art und Weise, wie weiterhin in­nerhalb der Sozialwissenschaft das Erleben und das Interpretieren von Zusam­menhängen zwischen Begriff und Wirklichkeit (Theorien und Din­gen; W.V.O. Quine) zu orga­nisieren sei. Geöffnet wird zumindest die Ordonnanz, in der sich die Begriffe Anschauung, Wahrnehmung, Imagination, Erfah­rung und Begriff zueinander verhalten haben (Hegels Rangfolge: 1. Erscheinungen des Wissens, 2. Erscheinun­gen des Bewußtseins und 3. Erfahrungen des Bewußtseins)[51]. Geöffnet werden die Modi der Organisation von Erleben, in der Hoffnung, in den noch weitgehend unbekannten Dimensionen dessen, was „Sinne“ heißt, Spuren zu legen, die den Menschen erlauben sollen, besser zu verstehen, was das ist: Mensch, Na­tur, Gesell­schaft, Wissen.

Getragen wird diese zweite Seite, um es zuzuspitzen, von der Annahme, daß die zur Verfügung ste­henden empirischen und intellektuellen Mitteln der Sozialwissenschaft nicht mehr, wie noch Adorno randständig vermutete, zu einer Kritik ihrer Grundlagen des Abstraktifizie­rens, Kategorisierens gelangen und dabei tatsächliches Erkennen prozessieren, son­dern mittlerweile Agenten­status bekommen haben; Agenten subjektloser geschichtlicher Strukturen mit der Auf­gabe, durch die Arbeit im Begriff so zu tun, als ob es um Erkenntnis ginge, wenn­gleich es nur darum geht, durch ebendiese Arbeit Erkenntnis immer unabhängiger zu ma­chen von Erfahrun­gen, die sich nicht der begrifflichen Rasterung beugen (Ziel: Auto­poiesis).[52] Um dem zu entgehen, sei es notwen­dig, metatheoretisch die Selbstorganisati­onstheorie nicht mehr als aus der Differenzierungstheorie ableitbar zu denken.

Wolfgang Hogrebes Ansatz läßt sich, wie abgemildert auch immer, in dieser zweiten Schnittmenge ausmachen. Ich möchte in dieser ersten Runde nur die für mich wichtigen Aussagen herausnehmen. Sein Buch Ahnung und Erkenntnis[53] macht sich auf die Suche nach Modi und Me­dien des Erken­nens, die bis dato in den hegemonialen Erkenntnistheorien des 20. Jahrhunderts nichts zu su­chen hatten. Seine skizzierte Erkenntnistheorie des natürlichen Wissens möchte zur Auf­klärung „unserer durchaus situationsab­hängigen epistemischen Verfassung“ beitragen, für die es „charakteristisch ist, daß sie in der Regel abhängig ist von normativen Valeurs, die sich aus unseren Befindlichkeiten und Absichten, unse­ren kooperativen Bedürfnissen ebenso wie aus unseren kompetitiven Obsessionen speisen“ (p8). Hogrebe sieht in der Ahnung, differenzierbar in Präsens-Ahnung, diagno­stische, explanatorische, kontextuelle und Ereignis-Ahnung, einen notwen­digen Schritt da­für, überhaupt an einem Sichtbaren etwas Unsichtbares angedeutet zu be­merken, also aus einem res ein signum werden zu lassen; er möchte Skizzen zu einer Theorie des natürlichen Erkennens an­bieten; so der Untertitel, der bereits in zweifa­cher Hinsicht aufmerksam macht.

Zum einen zeigt die Verwendung Erkennen anstatt Erkenntnis an, daß hier die Perfor­manz, das Tä­tige, das in der Zeit Stattfindende des Weltbezugs hervorgehoben wird anstelle des Kon­stativen und Propositionalen einer Erkenntnis, die sich nur noch auf den Informati­onswert der mitgeteilten Information, nicht mehr aber auf die Information des Mitteilens selbst bezieht. Hier gibt es An­dockstellen zu Maturanas Meditationen über die Verkörpe­rung der Wirklichkeit beim Erkennens­prozeß, etwa wenn Ma­turana unter der epistemologi­schen Etage namens Beob­achter eine tieferlie­gende ausmacht, in der das Verhalten eines Sy­stems und seine Phy­siologie zwei vollständig ge­trennte Phä­nomenbereiche sind, die eben nur durch einen Be­obachter zusammengebracht werden (sprich: Das Er­kennen selbst hat nichts Privilegiertes mit der Erkenntnis zu tun). Maturana geht soweit zu sagen, daß Erklärungen nur noch dann erklä­ren, wenn sie Aussagen über Vorgänge und Mecha­nismen treffen, aus denen die zu erklären­den Erfahrungen resultieren könnten.[54] Aber es gibt auch Andockstel­len oder Äquivalente zur systemtheore­tischen Fassung temporali­sierter Verfaßtheit einer System-Umwelt-Beziehung.

Zum zweiten aber ist das Adjektiv ‚natürlich’ problematisch und sehr mißverständlich. Gemeinsam ist beiden Richtungen ein striktes Ab­gehen vom Erklä­rungspfad der Objektivität, d.h. der Evakuierung von Aussagen über Ob­jekte aus dem Pro­zeß der Performanz und Ablagerung in die Sache selbst hinein. Auspro­biert wird dage­gen die Annahme, daß kognitive Weltbezüge nicht zu unterscheiden vermö­gen zwischen den Be­dingungen des Vorhandenseins der Erkennt­nisgegenstände und den Be­dingungen ihrer Er­kenntnis. – Welche Relevanz haben diese eher epistemischen Sätze aufs normale Pro­cedere innerhalb der Wissenschaft?

Hogrebe versucht trotz dieser Nähe zu Auffassungen, die besagen, daß nichts unabhängig von den Unterscheidungen eines Beobachters existiert, eine Promotion des Vorrangs eines bestimmten Objekts vor der subjektiven Form des Erkennens und Erklärens durchzuführen; und zwar über den Begriff der Ahnung.

Dabei wird das unter diesem Begriff Gefaßte überspannt mit den Polen „Objektivität der Geltung“ und „Objektivität des Seins“. Letztere steht in Kontrast zur Subjektivität des Seins, die all dasjenige faßt, was in den Produktions-, Konstruktions- und Handlungsbereich menschli­cher Vermögen fällt. Da es Hogrebe nicht bloß um Evidenz des Erkennens von Ah­nungen, sondern auch um die mögliche Objektivität der Geltung von Ahnungserkenntnissen geht, steht er vor der Aufgabe, die Analyse des Geltungssinns ahnender Erkenntnis soweit zu trei­ben, daß das Erkenntnissubjekt als in die Natur eingebettetes gedacht werden kann; dies nicht, um naturalistisch ebendiese Erkenntnis zu be­gründen, sondern „um das Subjekt als in einen flow of information hineingestellt zu denken, den es nicht selbst produ­ziert, sondern durch den es sich selbst in seinem Sein protosemantisch getönt erfährt. Registraturen dieser protosemantischen Tönung sind eben Anmutungen, Stim­mungen, Gefühle, alle Fa­cetten unserer Befindlichkeitsregistratur. Hier gab es schon, bevor es noch Worte gab, Winke. Und für diese benötigen wir einen Empirismus, der tiefer reicht und reicher ist als ein Empi­rismus der Beobachtungen oder der Sätze, was wir hier benötigen, ist ein mantischer Empiris­mus“ (p109f.). Und nicht nur wir: In Zukunft wohl auch die Maschine namens Computer, soll sie mehr leisten denn die bloße Verwaltung der Assoziationen von Menschen.[55]

Hogrebe folgt der Kritik Hölderlins an der Transzendentalphiloso­phie, die in ihrer Rekonstruktion und Rechtfertigung von Geltungs­ansprüchen alleine innerhalb des Universums propositionaler Sätze logisch ignorieren muß, daß wir in einer subsemantischen Tönung aufs Ganze gesehen durch die uns umgebende Natur gedeutet werden (p11).

Es geht also in Hogrebes Fassung von Ahnung und Erkenntnis um das, was nicht mehr als Nicht-Ich vom Ich gesetzt zu werden vermag, also um ein nichtsetzendes Objektverhält­nis, in das wir immer schon gesetzt sind (milde Variante des Geworfenseins), das auf eine nicht ab­schätzbare Weise in unserem Erkennen mitgeführt ist, und für das wir allenfalls hinweisende, aber keine begreifenden Worte besitzen. Mit dem Begriff der freien Objekt­wahl als notwendige Form, sich zu erkennen, weil uns Erkennen an sich oder durch uns selbst unmöglich ist (p119), sei eine Position erreicht, so Hogrebe, in der wir schon auf der Ebene der Sinne zu einer Einigung mit der Natur fähig sind, wie sie die transzen­dentale Reflexion nur auf der Ebene eines setzenden Ich begreiflich machen kann (p121). Oder kurz: Gewahrung geht Wahr­heit vorher (knowledge by acquaintance [Bekanntschaft] vor knowledge by description (Russell)). Oder auch: Anmutungen vor Vermutungen. Das Ent­scheidende geschieht schon im Gegenwärti­gen, soweit es nur reich genug erfahren wird. Diese reiche Erfahrung, dieses schwierig zu seman­tisierende Näher-am-Subjekt-Sein bezeichnet Ho­grebe nun als Ahnung.[56]

 

Kurzer Exkurs: Substitut Bewußtsein? (Wolfgang Kaempfer)

Nicht für den Bereich der Sozio-Akustik, der Intersubjektivität, der Sprache, und auch nicht für den Bereich kommunikativer Sphärenbildung, aber für den Bereich der neurobiologischen Verfaßtheit des Menschen scheinen mittlerweile Aussagen möglich, die auf bestimmte Formen der Mitteilung und des Mitgeteiltsein hinweisen, die nicht mehr in den gängigen „bewußtseinskulturellen“ Beschreibungen erfaßt werden können. Wolfgang Kaempfer kommt im Rahmen seiner historischen Rekonstruktion der partikulären Gewalt der ‚Bewußtseinskultur’ auf die Bedeutung der sogenannten „Spiegelneuronen“ zu sprechen, deren Funktion wohl in der neurophysiologischen Ermöglichung von Einfühlung besteht. Die Konsequenzen, die Kaempfer daraufhin andeutet, sind enorm. Der Güte wegen sei ein längeres Zitat erlaubt. Kaempfer:

 

Im Limbischen System, in der Amygdala (Mandelkern) und im Gyrus cinguli (einem gürtelförmigen Gebilde), so haben jüngste hirnanatomische Forschungen ergeben, finden sich Neuronen, die einer doppelten Spiegelfunktion fähig sind. Der Entdecker, Giacomo Rizzolatti, hat sie daher Spiegelneuronen (mirror neurons) genannt. Das sind Nervenzellen, die sich ‚dadurch auszeichnen, dass sie sowohl dann »feuern«, wenn das Subjekt selbst eine Wahrnehmung macht bzw. eine Tätigkeit vollzieht als auch dann, wenn das Subjekt beobachtet oder miterlebt, wie dieselbe Tätigkeit von einem anderen vollzogen wird.’ So reagierten sie völlig gleichartig, als einem – wach liegenden – Patienten ein Stich in die Fingerbeere versetzt wurde, dann sich der Untersucher selbst in die Fingerbeere stach. ‚Da der Gyrus cinguli aufgrund zahlreicher Untersuchungen als Sitz des Selbstgefühls und des emotionalen Schmerzes identifiziert wurde, dürfte (der Untersucher), Hutchison, Spiegelneuronen für (...) Mitgefühl und Empathie beschrieben haben’.

‚Mitgefühl’, ‚Empathie’, ‚Sympathie’, ‚Spiegelung’, ‚Echo’ – das sind offenbar ebenso viele Stichworte für jene andere Seite der menschlichen Beziehungen, die sich die ‚mondabgewandte Seite’ des Bewusstseins nennen lassen könnte, das ja – während vieler Generationen – in den Siècles de lumière herangewachsen (‚aufgewachsen’) war. Zu dieser ‚anderen Seite’ der Beziehungen würden bereits die Ähnlichkeitsbeziehungen gehören, die zahllosen strukturellen Parallelen zwischen den verschiedenen ‚Gegenstandsbereichen’, so zum Beispiel Schwingungen, die ‚Resonanzen’ auslösen, darunter keineswegs nur die akustischen [...].

Das Zentralorgan dieser Beziehungen ist zugleich das denkbar ‚allgemeinste’, es ist der menschliche Körper selbst. So ist etwa das Gedächtnis, schreibt Joachim Bauer, ‚eine grundlegende Eigenschaft des gesamten physischen Organismus (...), soweit er durch neuronale Strukturen koordiniert ist.’ Sogenannte »sensomotorische Schemata« scheinen sich bereits beim Säugling oder Embryo zu bilden, sie entstehen im peripheren Nervensystem und (noch) nicht in den ‚hochdifferenzierten neuronalen Zentren des assoziativen Cortex, des Hippocampus und der Amygdala’.

Ich habe den weiten Fächer dieser Beziehungsformen an anderer Stelle unter dem Stichwort Korrespondenz zusammengefasst. So sprechen etwa Melos, Rhythmus, Farben, Formen ‚unmittelbar genug die Organe, die ‚Rezeptoren’ unseres Körpers an. [...] Zwischen den Rhythmen eines Verses und den Rhythmen unseres Körpers, insbesondere dem Herz- und Atemrhythmus, besteht ein eindeutiger Zusammenhang [...]. Korrespondenz ist – zum Unterschied von der Kommunikation – vielleicht überhaupt die Weise, wie sich die ‚Formen’, die ‚Phänomene’, die ‚Prozesse’ der Natur zu antworten pflegen’. [...]

Auf Korrespondenzeffekten dürften auch alle Übertragungsbeziehungen, alle ‚hypnotischen’ Beziehungen usf. beruhen. Nach Bauer leisten sie vor allem eins: ‚am Bewusstsein vorbei’ zu operieren. Das würde die Frage nahelegen, ob die unermüdlichen Synthesetätigkeiten des Bewusstseins nicht ursprünglich eine Art Ersatzhandlung, eine Art ‚Symptombehandlung’ für Verletzungen gebildet haben könnten, die die primären Beziehungen der Menschen, die ‚emphatischen Beziehungen’, die Korrespondenz-Beziehungen, in den Hintergrund – besser: Untergrund – gedrängt, die sie partiell obsolet oder gar lächerlich gemacht hatten, sie zum ‚Spuk’, zu ‚Einbildungen’ erklärend. Erinnern wir uns hier vor allem der binnengesellschaftlichen Katastrophe (‚Explosion’), die die englische Gesellschaft ereilt hatte mit der Enteignung des Bauernstands und der Privatisierung von Titulareigentum im Verlauf des 16. - bis 18. Jahrhunderts. [...]

Bekanntlich können Schocks zu ausgedehnten Amnesien führen, weil der Schmerz, den ihre Wunden hinterließen, nicht mehr ertragen werden konnte. Es wäre sogar zu überlegen, ob zu den Folgen, die der ‚Schock der Modernisierung’ hinterlassen hatte, nicht auch die eigentümlichen Lektionen gehören, die wir diskutiert haben, die Einübung in die Schmerzunempfindlichkeit, die sich das moderne Forscher-Ich auferlegt hatte, die systematische Abtötung der Impulse, die von der natürlichen Empathie und Sympathie ausgelöst werden, die Forderung der Indifferenz, der Neutralität, der emotionalen Abstinenz des Forschers. [...]

Nichtsdestoweniger hat sich die einst selbstverständliche ‚andere Seite’ der menschlichen Beziehungen, die ‚mondabgewandte Seite des Bewusstseins’, natürlich niemals ganz unterdrücken, narkotisieren, ‚anästhetisieren’ lassen. Sie lebt in allen Menschen fort, sei es auch in verkümmerter Gestalt, und so brachte der sensationelle Nachweis, den dieses Vermögen mit der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizzolatti finden konnte, keine eigentliche Neuerung an den Tag, sondern bestätigte nur, was z.B. die psychoanalytische Schule seit langer Zeit wusste – und was schon im 18. Jahrhundert Sensation gemacht hatte durch den sog. Mesmerismus (des Mediziners Franz Mesmer), dessen Lehre vom ‚animalischen Magnetismus’, wie fragwürdig sie auch immer war, anders nicht das Faszinosum hätte bilden können, das ein ganzes Zeitalter entflammte.“[57]

 

Gewiß: Sollten diese neurophysiologisch-chemischen Einsichten stimmen, so sagen sie präziser als bisher etwas aus über die Mechanismen der Interaktion unter Anwesenden („die Chemie“, „die Stimmung“), vielleicht sogar etwas über den Grund des Affektions- und Attraktionspotentials von Bildern. Aber sie sagen nichts aus über die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Kommunikation oder besser Korrespondenz, die gleichsam „am Bewußtsein vorbei“[58] sich prozessiert: und zwar als technogene Nähe. Dennoch lassen die Überlegungen Kaempfers den Gedanken nicht ganz sinnlos erscheinen, daß eine subsemantische, eine mantische Weise der Mitteilung und des Mitgeteiltseins durch technogene Nähe nicht ganz unvorbereitet auf die vergesellschafteten Individuen trifft. Denn wenn es stimmen sollte, daß das Bewußtsein eine Ersatzlösung und zugleich kongenialer Kandidat ist für die hegemoniale Aufrechterhaltung einer rationalistischen, auf Trennung basierenden gesellschaftlichen Vermittlung, wie sie in Europa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts startete, dann wäre die Frage nach dem Ersatzcharakter bestimmter sozioanthropologischer Näheformen als Weisen überlasteter interaktionistischer Vermittlungen – diachronisch evolutionstheoretisch betrachtet – subsumierbar der Frage nach dem Ersatzcharakter einer kognitivistischen Vergesellschaftung (chronologisch genealogisch betrachtet müßte man natürlich umgekehrt vorgehen).

Was nun allerdings als eine gesellschaftliche Homologie oder gar als gesellschaftliches Äquivalent zu den neurophysiologischen Spiegelneuronen betrachtet werden könnte, ist weiterhin mehr als unklar. Daß es mehr denn compassion zu sein hätte, scheint allerdings geklärt zu sein.

Ende Exkurs

 

 

Die Fragen, die nun im Zusammenhang mit der technogenen Nähe interessieren, sind nun behauptenderweise diese: Wird eine neue Modelung technologisch ermöglichter Näherung auch das Erkennen und die Weisen der Erkenntnisproduktion verändern?[59] [– ganz zu schweigen von den erwartbaren Veränderungen der gesellschaftshistorisch sich durchgesetzten Modelle der Sinnesaufnahme, die als Modelle des Sehens (griechische Tradition), des Hörens (jüdisch-christliche Tradition) und des Essens (kapitalistisch-technologische Modernisierung) nun im Modell des Inhalierens eine weitere Etappe in der sukzessiven Abnahme von phäno-aisthesischen und der Zunahme von endo-kinetischen Austauschmodi erleben wird.] Und: Muß die Weise der Beschreibung ebensolcher Prospekte auch schon selbstimplikativ verfahren?

Weitere Fragen: Wie und wo könnte solcherart Fokussieren einer eher propositionsspröden Art des Erkennens innerhalb der Diskurse, Methoden und Geltungsbedingungen der Wissenschaft Platz greifen? Wie wäre es möglich, nicht nur metatheoretisch die Kapazität der Ahnung als Zeigendes und die Abhängigkeit der normalen epistemischen Erkenntnisproduktion von diesem nicht(s)sagenden Zeigenden auszusprechen, sondern sich des Zeigens der Ahnung zu bedienen fürs Sagen von Propositionen?

Spricht man für denjenigen Bereich von Wissenschaft, der empirisch-analytisch arbeitet, dann scheint die Frage nach dieser Möglichkeit nicht ganz absurd, da der dort auch vorhandene context of discovery recht viele Sonden zuläßt, soweit sie sich operationalisieren bzw. parametrisieren lassen. Für den Bereich von Sozialwissenschaft, der es eher mit dem context of validation oder description - redescription zu tun hat, ist bis jetzt nicht ganz einsehbar, wie sich Ahnung operational/ diskursiv im Prozeß der wissenschaftlichen Kommunikation einfinden könnte.

Wahrscheinlich wird ebendiese wissenschaftliche Kommunikation sich wandeln müssen (man kann nur hoffen: durch eigengenerierte Forschungsprogramme), und das heißt: wird die durch Systemcode und durch eigene Inklusions-/ Exklusionspraxen bewerkstelligte Selbstidentifikation der Wissenschaft als Wissenschaft[60] sich lockern, wenn nicht lösen müssen; und zwar als ihr eigenes großes Analyseobjekt.[61]

 

Textinstrument Kluge

Was auf der Seite des Erkenntnisinteresses die Ahnung sein könnte im oben angedeuteten Sinne – nämlich eine Weise, Spuren zu erkennen, die außerhalb der vorgegebenen Weltverarbeitungsformen liegen –, das könnten auf der Seite des Erkenntnisgegenstandes die Gefühle sein. Oder älter formuliert: Gehören die Weisen der Mantik in die Wirkwelt, dann die Gefühle in die Merkwelt (natürlich ist nicht zu bestreiten, daß diejenige Welt sehr groß ist, in der Gefühle als Wirkung behandelt werden).[62]

Alexander Kluge hat sich diesen Gefühlen genähert aus der Perspektive des Erkunders, der herausbekommen will, was an ihnen und mit ihnen noch nicht herausbekommen wurde. Sein Material – Narration, Fiktion, Tatsachen, Phantasien – ist so arrangiert, daß das Lebewesen Mensch in den Blick kommt, und nicht nur das vernünftige, das vergesellschaftete, das in einer bestimmten Weise historische Wesen.

Kluge: „Mich interessieren an den Gefühlen, was ist davon völlig gleichbleibend, stur, unbeeinflußbar, was ist da konstant und was ist metamorphosefähig, flexibel. Beide Arten des Gefühls gibt es. Und was ist davon unentdeckt? Mich interessieren sehr die Gefühle, die man nicht sofort als Gefühle erkennt, die also eingebaut sind in den Institutionen, die überhaupt erst in Erscheinung treten im Ernstfall durch Selbstvergessenheit, also im Einsatz, wie man so sagt.“[63] Kluge grundiert dabei sein Interesse an Gefühlen in einer Fassung des Verhältnisses von ‚Naturgeschichte’ und ‚Geschichte’, die noch weit über die hier im Text versuchte Fassung hinausgeht, in der das anthropologische missing link der Nahung ja verbunden werden soll mit den avanciertesten Technologien.[64] Während für die letztgenannte Fassung Inhärenz für eine Zeitspanne von 12000 bis 30000 Jahren anzunehmen ist (behauptender Weise), so bemerkt Kluge zu Beginn seines zweiten Chronikbandes:

„Gegenwart nennen wir bekanntlich, wenn es hochkommt, 90 Jahre. Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von 20 Milliarden Jahren.“[65] Mit etwas geringerer historischer Spannweite versuchte Kluge zusammen mit Oskar Negt 1992[66] den Gefühlen auf die Spur zu kommen, versteht man sie denn als „Rohstoff des Politischen“. Gesucht wird nach manifesten Formen des Latenten der Gesellschaftsgeschichte, wobei die Latenz selbst noch zu finden ist. Denn sie kann nur da ‚wesen’, wo „die Eigenlogik der vergessenen, historisch abgesunkenen Prozesse des vorangegangenen Tuns“, und wo „die Eigenlogik des Apparats im Verhältnis zu dem, was durch einen politischen Eingriff steuerbar ist und was in Motiven, Absichten oder Verantwortungen verankert sein könnte, dergestalt angewachsen“ ist, „daß man von einem dominierenden ‚gesellschaftlichen Unbewußten’ sprechen könnte.“[67] Und daß die kapitalistischen Gesellschaften von diesem Unbewußten dominiert werden, ist für Kluge und Negt evident.

Aber gleichsam ist ihnen evident, daß der Rohstoff des Politischen (Interesse, Gefühle, Proteste) nicht vollständig gemodelt wurde zu traumatischem oder aggressivem Treibstoff der Angstvermeidung, sondern seine eigene Wirklichkeit, seine eigene Form besitzt. Denn: „Die Formen und die Maßverhältnisse (objektiven Möglichkeiten) werden vermutlich diesem Rohstoff innewohnend mitproduziert, selten jedoch sind sie in dieser Struktur bereits zu fassen. Wo sich die Formen und Maßverhältnisse nicht als besondere Gefäße des Ausdrucks dieses Rohstoffs erkennbar machen, treten regelmäßig gewalttätige Explosionen auf. [...] Der Rohstoff, von dem der gesellschaftliche Aufbruch des Nationalsozialismus zehrte, ist von den Rohstoffen für andere gesellschaftliche Prozesse, die sich zur Emanzipation öffnen, nicht grundlegend verschieden. Nicht einmal die Intensitätsgrade unterscheiden sich. Die Formen und Maßverhältnisse, die diese Rohstoffe zu einer Öffentlichkeit machen, unterscheiden sich dagegen grundlegend. Auf der Ebene des Rohstoffs gibt es selber noch kein faßbares Maßverhältnis. Es gilt dort eine tödliche Maßlosigkeit, abwechselnd mit dem Rückfall in (von Balanceenergie aufrechterhaltener) Passivität. Wenn wir von dem Politischen im materiellen Sinne sprechen, gehen wir von diesem Rohstoffcharakter und von der Unvollständigkeit des Politischen aus.“[68] Damit ist vorerst genügend Abgrenzung zu einem anderen Rohstoffbegriff gegeben, der davon ausgeht, daß die Wandlung des Menschen selbst zu Rohstoff, also die Verwandlung in einen „homo materia“, eine der zentralen Umwälzungen der modernen Revolutionen/ Massaker darstellt.[69]

 

Die hier interessierenden Fragen sind nun, ob das, was bisher unbeholfen als Nahung, als motivational-emotionales Näheverhältnis zu gesellschaftlichen Abstraktionen, als missing link bezeichnet wurde, in Verbindung gebracht werden kann mit dem Begriffskonzept des „politischen Rohstoffs“; und ob das, was bisher unbeholfen als technogene Nähe bezeichnet wurde, in Verbindung gebracht werden kann mit den von Negt und Kluge beschriebenen Formen und Maßverhältnissen, die diesen Rohstoff zu einer Öffentlichkeit machen können.

Wenn ja – wobei auf die Grade des In-Verbindung-Bringens zu achten ist –, dann wäre es nicht unplausibel, in der technogenen Nähe eine Schnittstelle zu sehen, die tatsächlich passend den Anthropokosmos mit dem Soziokosmos verbände, und zwar so, daß ein neuer oder zumindest anderer Kosmos entstehen könnte; vielleicht der des Curture/ Nurture als Synthese einer neuen Daseinsdimension (neben den Dimensionen des Lebendigen, des Sozialen und des Psychischen), die sich dadurch auszeichnet, daß in ihr die Infrapsychostruktur invarianter Gefühle sich verbindet mit der Infrasoziostruktur Elektrizität, verstanden als dasjenige, das „zu allen Systemen der Bewegung in Raum und Zeit invariant bleibt“.[70] Während sich nun dieser Erkenntnisteil auf die Invarianz der Gefühle und die Invarianz der Elektrizität zur Umwelt bezieht, könnte eine weitere Dimension von Schnittstelle an den varianten Gefühlen und an der technogenen Nähe ausgemacht werden, und zwar in der Dimension telematischer Medien: Diese könnten es schaffen, in die Anthropologie des Impulses, in die Anthropologie der sogenannten angeborenen sozialen Reaktionen, also kurz: in den prä-reflexiven Bereich des ‚emotionalen Apparates’ einzugreifen und dadurch bewirken, daß die Art emotional-motivationalen Eingebundenseins abhängt von der Art des Mediums.

Es so zu sehen widerspricht einer Sichtweise, die auf die Frage, was uns an den Medien bewegt (im Kontrast zur ‚wirklichen Wirklichkeit’), auf den Sachverhalt autonomer neuronaler und autonomer anthropologischer Vorgänge stößt, in Sinne von: Medien aktivieren nur tieferliegende Muster des Empfindens und des Fühlens, das Medium, mit und in dem dies passiert, sei demgegenüber sekundär. So schreibt Katja Mellmann:

„Alles weist also darauf hin, daß das Zustandekommen einer sinnlichen Vorstellung in Form einer neuronalen Repräsentation ein relativ autonomer Vorgang ist, zu dem das Wissen über das Medium der sinnlichen Repräsentation und sonstige Anschlußüberlegungen nur weitere Zusatzinformationen darstellen.“[71]

Während also in dieser Überlegung das Affekt- und Attraktionspotential der Medien marginalisiert wird und das Entstehen von Gefühlen in der Medienaussetzung aus den Tiefen der Naturgeschichte des Menschen hergeleitet wird, könnte die Überlegung zur technogenen Nähe in der Schnittstelle zwischen varianten Gefühlen und varianten telematischen Medien (der Elektrizität) dazu führen, daß schon die Präreflexivität menschlicher Gefühle (und nicht erst die reflexive Sinnlichkeit der Menschen) nun medial gemodelt werden könnte. Damit sind wir in der Nähe von McLuhan gekommen.

 

Textinstrument Marshall McLuhan

McLuhan, der 1963, also ein Jahr vor der Veröffentlichung seines Buches Understanding Media, in Toronto das „Institut for Culture and Technology“ gründete, weist in seiner Interpretation der Technologie eine Menge Ähnlichkeiten mit dem hier versuchten Interpretationsansatz auf. Wenn er der Technologie eine geschichtsepochenbildende Kraft zuschreibt – die orale Stammeskultur, die literale Manuskript-Kultur und die Gutenberggalaxis münden schließlich ein ins elektronische Zeitalter; wenn er Elektrizität als Leitmedium inauguriert – und damit das Erkennen, Erkenntnisse und selbst das Denken als Formen des Leitmediums Buch vollständig entwertet[72], um eine neue Form des Denkens, der Erkenntnisse, des Erkennens als dringlich einzuklagen; wenn er die Wirkung elektrischer und elektronischer Medien vollständig aus der Sphäre der symbolischen Ordnung heraushält – denn die Wirkungen der Technik zeigen sich nicht in Meinungen, Vorstellungen, also im Symbolischen, sondern in Gänze im Pragmatischen, Praktischen, in unserer Arbeit der Sinne und der Wahrnehmung; und wenn er schließlich im Computernetz die Evolution des Gehirns zu sich kommen sieht – denn das „elektrische Netz“ sei ein naturgetreues Modell des Zentralnervensystems und schließe damit kulturtechnologisch eine bestimmte Evolution ab, die als natürlich-biologische ihren Anfang nahm:

dann scheint es nicht unplausibel zu sein, in den „Magischen Kanälen“ McLuhans Ausschau zu halten nach Weisen technogener Nähe. Zumal der Term global village alleine schon auf der Anschauungsebene Nähe suggeriert, also zu vermitteln versucht, daß mittels magischer Kanäle die ‚globale Welt’ endlich auf Augenhöhe erfahren und wahrgenommen werden kann, vorausgesetzt, die sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung läßt sich durch die neue Technologie ausreichend modeln.[73] Zudem könnte in Anlehnung an das In-Verbingung-Bringen technogener Nähe mit dem Begriff des politischen Rohstoffs von Kluge/ Negt versucht werden, McLuhans Begriff des Rohstoffs auf technogene Nähe anzuwenden, so wie er ihn auf „technische Medien“ anwendet.

Allein: Was in den Prospekten McLuhans den noch unpräzisen Vorstellungen einer technogenen Nähe nahe kommt, entfernt sich sehr rasch in den Herleitungen, die McLuhan anstellt. Denn McLuhan geht vom Begriff des Mangels des biologischen Menschen aus, von der Ausweitung des menschlichen Körpers durch Technik, von Organersatz, Organentlastung, Organverstärkung durch Technik, während die technogene Nähe nicht in der Logik der Körperausweitung oder in der Logik der Behebung körperlicher Mängel gedacht werden soll, sondern als genuine „Spitzenleistung des Sozialen“ (Niklas Luhmann). Das wiederum bedeutet Verzicht auf die Annahme, daß mit dem und in dem Prozeß der Prothetisierung resp. der Immaterialisierung der Welt durch Technik mit dem Körper selbst auch die Materie des technischen Körpers verschwindet, wie es Marie-Ann Berr vermutet und sehr plausibel zu entfalten weiß.[74] D.h.: Das „Modell“ der Ontopoiese von Leistungen des Sozialen kann nicht strukturell abgelöst, also abstrahiert werden von dem evolutions- und sozialgeschichtlich enormen Erfahrungsgehalt der menschlichen Körper. Kurzum: Der Beziehungsmodus „technogene Nähe“ hält Nähe zur Sterblichkeit bzw. Endlichkeit oder Überwindungsdrang.

Die Perspektive ist also ein vollständig andere. Fahrlässig pointiert: McLuhan denkt technologische Medien als das Medium für (erweiterte) Menschen[75]; mit der technogenen Nähe soll jedoch „der Mensch als Medium der Gesellschaft“ (Peter Fuchs) gedacht werden, und zwar so, daß ersichtlich wird, wie abstrakte Sozialität als Einsatz einer kreaturalen Generativität benutzt wird, damit Kreaturalität nun auch direkt im Sozialen adressierbar wird und nicht mehr nur indirekt über die Irritation resp. Vernichtung von Menschen, Kulturen, Traditionen rekonstruiert werden muß. Es geht also nicht um die Vorstellung, daß das Soziale sich irgendwelchen Natürlichkeiten anzupassen hat, um „Natur“ nun auch im Sozialen durchzusetzen, sondern um die Herausbildung der spezifisch sozialgesellschaftlichen kreaturalen Generativität, die Kontakt hält mit den Regelkomplexen einer Generativität der Physis. Attraktor und ineins schwächstes Glied dieser Durchsetzung, die als eine technologische und als eine kulturelle zu fassen sein wird, ist dabei der Mensch.[76] Darauf zu bestehen ist absolutes Muß, will man nicht in organizistische oder gar sozialdarwinistische Auffassungen münden, in denen die freilich verunglückte Moralität der Menschen eliminiert ist. Wie technogene Nähe als moralaufhebendes und zugleich moralfortsetzendes Mittel auf der Höhe abstrakter Vergesellschaftung durchgesetzt werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar. Klar scheint nur zu sein, daß Moral nur für den Interaktionsbereich, nicht für den Gesellschaftsbereich ein adäquates Sozialwerkzeug darstellt. – Damit sind wir bei Luhmann angekommen.

 

Textinstrument Luhmann

Im Anschluß an die Beschäftigung mit McLuhans Theoremen und dem aufgemachten Schied zwischen seiner und der hier am Begriff „technogene Nähe“ versuchten Dosierung von Technologie, Gesellschaft und Bewußtsein scheint es mehr als plausibel, die Schriften Luhmanns aufzusuchen, um mehr Anhaltspunkte zu gewinnen für die Vorstellung, daß es die Kommunikation, das Soziale, daß es soziale Systeme sind, die sich des Menschen (der Bewußtseine) bedienen, um die „Evolution des Sozialen“[77] mittels Technologie so zu modeln und zu evoluieren, daß als „Nebeneffekt“ eine möglicherweise neue Art der Kommunikation zwischen Menschen und Systemen (nämlich eine der technogenen Nähe) entsteht, die einer anderen Daseinsdimension entspringt und sie zugleich schafft (die kreaturale Dimension).

Luhmanns Werk ist nicht nur theoriebautechnisch eingestellt auf die Referenz des Sozialen (im Gegensatz etwa zu den Referenzen Bewußtsein oder ‚Leben’); die Entscheidung, vom Sozialen aus „Welt“ in den Blick der Beobachtung zu nehmen, ist genauso theorieimmanent nachzuvollziehen. Luhmann schreibt grundlegend auf der äußersten Grenze des Fassungsvermögens von Menschen mit Bewußtsein, oft auch über die Grenze hinausgehend, wenn es darum geht, den Sinn der Evolution von menschlicher Gesellschaft sowie ihrer Wandlung zu verstehen. Sein Schreiben ist angetrieben von der Vorstellung, daß das Soziale sozialer Systeme schon viel weiter von den Menschen entfernt ist, als es eine Lebenswelt- oder Intersubjektivitätsphilosophie wahrhaben will. Die Spitzenleistungen des Sozialen, die er im Blick hat, sind nicht mehr zu verstehen als Erscheinungen derjenigen Systembildungsprozesse, die auf dem Acker der menschlichen Interaktion gediehen sind: Luhmann sieht Systembildungsprozesse des Sozialen vielmehr abzuleiten aus der Dimension der Systembildung schlechthin. Für die Beschreibbarmachung dieser Dimension kann man die Erfindung der Kybernetik als ersten Versuch werten, nicht mehr vom Leben, nicht mehr von Psychischen, nicht mehr vom Sozialen allein auszugehen, sondern von einer umfassenderen Dimension oder Sphäre.

Damit sind erste Übersetzungen organonistischer, autopoietischer und kosmologischer Ansätze der Weltbeschreibung auf den Weg gebracht worden, deren Potential auch nach fast 50 Jahren Produktions- und Rezeptionsgeschichte noch lange nicht ausgereizt ist.

Am Textinstrument Luhmann interessiert hier also, wie weit er zu gehen vermochte im Aufweis vollkommener Haltlosigkeit der Größe namens Mensch, so man sich weiterhin ans Subjekt, ans Bewußtsein hält, um „Welt“ zu beschreiben und auch zu verstehen. Luhmanns kongenialer Schüler Peter Fuchs beschreibt mit lakonischer Trefflichkeit, wie sich die Haltlosigkeit systemtheoretisch ausdrückt:

Jede Operation der Kommunikation ist das, was sie ist, „sie geschieht ja nur einfach, mono-logisch. Sie macht einen Unterschied, aber unterscheidet sich nicht selbst“; das ist dann die Aufgabe von Pro­zessoren, die die notwendigen Unterscheidungsseiten applizieren. Für soziale Systeme stehen als solche Prozessoren Bewußtseine zur Verfü­gung.[78] Aus der Perspektive der Kommunikation (die von der Systemtheorie gewählt wird) beteili­gen sich dann Menschen via ‚konkreter Arbeit’ an der von allem ab­sehenden abstrakten Reproduktion eines Monologs. Im gleichen Atemzug weist Fuchs aber auch darauf hin, daß es genauso haltlos ist, sich ans Sozialsystem zu halten, denn: „Es ist evident, daß das Sozialsystem selbst keine Sprache versteht. Es hat nicht einmal Ohren. Seine Autopoiesis ist abhängig davon, daß irgendwer spricht und das Gesprochene zu deuten weiß. Für Kommunikation ist der Lärm, den die Bewußtseine exponieren, zum Beispiel Sprache, so sinnfrei oder sinnlos wie für mich das Anhören einer Tonbandaufnahme von Skat spielenden Chinesen.“[79]

Genauso ergeht es natürlich auch dem Luhmann’schen Lärm: er wird von der Kommunikation nicht verstanden. Luh­mann liefert sozialen Maschinen mit seiner Theorie das Zertifikat nach, daß sie die eigent­liche Avant­garde aller Nichttoten, daß sie die eigentliche Formobjek­tivation dessen sind, was Le­bendigkeit für sich bean­sprucht. Aber lei­der, so ist zynisch anzumerken, wird er nur von Menschen gelesen, die lesen, daß er sie nicht meint.[80]

Die Erkundungen technogener Nähe könnten von Luhmanns extremer Dehnung der Beziehungslosigkeit zwischen Sozial- resp. Kommunikationssystem und Mensch (resp. Bewußtsein) lernen, daß es erheblich darauf ankommt, zwischen Technik und Sozialsystem zu unterscheiden, so man die Kommunikabilität technogener Nähe nicht als eine weitere Variante monologischer Kommunikation ausweisen möchte. Technogene Nähe wäre im hiesigen Prospekt gerade die „Sprache“, die das Sozialsystem versteht, d.h.: Es hat etwas zu verstehen, was nicht es selbst ist. Aber was könnte das sein, wenn doch jetzt schon klar ist, daß es der Mensch, so wie er heute neurologisch, psychologisch, biologisch, soziologisch zusammengesetzt ist, nicht sein kann?

 

Textinstrument Mühlmann

Daß es der heutige Mensch nicht sein kann, mit dem man Kommunikation zwischen Menschen, zwischen Mensch und Gesellschaft, und zwischen Gesellschaft und Umwelt so generalisierte, daß Leid, Krieg und Ungerechtigkeit die Ausnahme und Verantwortung die Regel wären, scheint evident. Das Scheitern eines ersten Versuchs in diese Richtung liegt noch als warme Leiche vor unseren Augen: Der „real existent“ gewesene Sozialismus/ Kommunismus. Die Einschätzung der Unbrauchbarkeit der gegenwärtigen Sozialverfaßtheit von Menschen für Einbergung (technogene Nähe) geht mittlerweile so weit, daß man den sprechenden, denkenden, sozialen Menschen mit ihrem Vermögen, qua Information und Kommunikation als Alternative zur ‚schlichten’ Evolution auf Welt einzuwirken, meint abschreiben zu können. Heiner Mühlmann kommt, bezogen auf die anhaltende Unfähigkeit, Sozialsysteme ökologisch zu resystematisieren, zu dieser Einschätzung:

„Die größte neue Bedrohung ist die globale ökologische Katastrophe. Die Wahrnehmung der einzelnen Ereignisse, die Teile dieser desaströsen Gesamtentwicklung sind, lösen bedauerlicherweise keinen Maximal-Streß aus. Sie werden jederzeit von dem Jahrtausende alten Schema des Feindstresses übertroffen. [...] [Es] bieten sich nur zwei mögliche Strategien, um Kultur für die neuen Gefahren einzustellen: Man müßte die neuen Bedrohungen in die Sprache der alten Stressoren übersetzen, das heißt, man müßte die Kultur überlisten, oder man müßte die Menschen molekulargenetisch verändern.“[81] Mühlmann geht es um den Prospekt, daß in Zukunft möglicherweise mittels Genmanipulation auf die kulturelle Evolution gezielt werden wird, weil sich herausgestellt haben könnte, daß das kulturelle Instinktverhalten namens Maximal-Streß-Cooperation nicht mehr taugt für eine kulturelle Verarbeitung von Krisen und Problemen der abstrakten Weltgesellschaft. „Die Kultur in all ihren bekannten Formen ist heute auf den falschen Stressor fixiert“[82], sagt Mühlmann. Also scheint es, als müsse die Kultur verändert werden, diesmal mit Hilfe der Biologie, Abteilung Molekulargenetik. Das Vorherrschen des kulturell einbetonierten und durch genetische Fixierung hegemonial gewordenen Feindstresses müsse abgelöst werden durch die Vorherrschaft der Maximal-Streß-Cooperation; nur diese erlaube also, der „Ökokatastrophe“ (Mühlmann) begegnen zu können, ja, sie überhaupt erst wahrnehmen zu können; und damit die Aufregung zu erzeugen, die nötig ist, um endlich angemessen ökologisch Zivilisation zu betreiben. Mühlmann: „Es wäre wünschenswert, Kulturen zu züchten, in denen die höchste Stufe der emotionalen Besorgtheit auf Wahrnehmungsobjekte der Natur und der Ökologie gerichtet wäre. Die stärksten Gefühle wären dann Gefühle einer Sorge und Fürsorge weiblicher Prägung“.[83] Mühlmann entscheidet sich abschließend jedoch nicht für die Form der Genmanipulation als Kulturzuchtverfahren, sondern favorisiert die kulturelle Perturbation von Kultur: „Die Methode einer zivilisierenden Beeinflussung der MSC-Reaktion [Maximal-Streß-Cooperations-Reaktion; B.T.] kann demnach nicht eine mögliche Genmanipulation sein. Die einzige Erfolg versprechende Strategie scheint die Manipulation der kulturgenetischen Übertragungsstrukturen zu sein. Das heißt: Angriffspunkt für die Zähmung des ‚wilden Tiers Kultur’ kann nicht die angeborene Streßphysiologie sein sondern allein das Element ‚Kooperation’ in der MSC-Reaktion. Hier geht es um die Überwindung des kulturellen Narzismus. Es geht um die Abschaffung der ‚selfish culture’“.[84]

Die Frage im hier interessierenden Zusammenhang der technogenen Nähe wird sein, ob die technologisch induzierte Annäherung von Menschen und Abstraktionen der Kultur, der Gesellschaft und der Umwelt (Werte, Anerkennung, Unsichtbarkeit von Schäden) zu einer Manipulation der kulturgenetischen Übertragungsstrukturen beitragen kann, so daß eine technogen-motivational sich ergebende Ein-Bindung der Einzelnen in die verschiedenen Regelkreise von Kooperation gleichsam zur Abschaffung der ‚egoistischen Kultur’ führen könnte. Es geht, vielleicht etwas komplizierend gesagt, also darum, inwieweit mittels technogener Nähe die Phylogenese der Beziehungsbalance Welt/ Erde (Michel Serres) präsent und adressiert werden kann innerhalb einer Ontogenese von Kultur, und nicht mehr innerhalb einer Ontogenese des Lebewesens Mensch.[85]

 

Textinstrument Sloterdijk

Von der Unmöglichkeit einer Ontogenetisierung der Kultur scheint Peter Sloterdijk überzeugt, also überzeugt davon, daß sich Kultur und Soziales nicht (wieder?) einbergen lassen in eine umfassendere Beziehungsbalance zwischen Mensch, Welt und Umwelt. Und dies nicht, weil er in den großformatigen Gefäßen namens globale Technik, Telekommunikation und Gesellschaft eine Hyperautonomisierung zum hermetischen System ausmacht, das sich vom Menschen emanzipiert. Vielmehr sieht Sloterdijk in den abstrakten Containern der artifiziellen Zivilisation unselbständige und gleichsam hilflose Erscheinungen des Versuchs, Raumteilungsformen des Mitseins (Blasen) im Großformat (Globen) imitieren und nachahmen zu wollen, was „nur“ zu Oberflächentiefen führen kann (Schäume). Demgemäß verzichtet Sloterdijk auch recht eigentlich auf einen Begriff der Gesellschaft, auch wenn dieser Begriff noch sein Dasein fristen darf in Anführungszeichen: „In Wahrheit sind ‚Gesellschaften’ nur als unruhige und asymmetrische Assoziationen aus Räume-Vielheiten und Prozeßvielheiten verstehbar, deren Zellen weder wirklich vereint noch wirklich getrennt sein können.“[86]

Alle Abstraktionen technischer, sozialer und kommunikativer Art zielen darauf ab, die Sphäreneinbergungskapazität genuin interaktionistischer Raumgeteiltheit zu simulieren: allerdings ohne Erfolg.[87] Das Resultat ist eine weltweite Schwächung der Immunisierungskapazität ‚metaphysischer’ und sphärensimulierender soziokultureller Artefakte, gerade auch dann, wenn Sloterdijk Thomas Jeffersons Maxime teilt, nach der im modernen gesellschaftlichen Feld nicht das sympathetische, sondern das Konkurrenz-, Mißtrauens- und das Eifersuchtsprinzip Basis für die Motivierung von Verhalten und Handeln sei.[88] Sloterdijk folgert daraus dies (und es sei in seiner Länge gerne zitiert):

„In diesem Kontext enthüllt der epochale Trend zu individualistischen Lebensformen seinen revolutionären immunologischen Sinn: Es sind heute in den avancierten Gesellschaften, vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte hominider und humaner Lebensformen, die Individuen, die als Träger von Immuneigenschaften sich von ihren (bis dahin vorrangig schützenden) Gesellschaftskörpern loslösen und massenhaft ihr Glück und Unglück abkoppeln wollen vom In-Form-Sein der politischen Kommune“. [...] Das Axiom der individualistischen Immunordnung greift in den Massen selbstzentrierter Einzelner wie eine neue vitale Evidenz um sich: daß letztlich niemand für sie tun wird, was sie nicht für sich selber leisten. Die neuen Immunitätstechniken empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei denen der Lange Marsch in die Flexibilisierung, die Schwächung der ‚Objektbeziehungen’ und die generelle Lizenzierung von untreuen und reversiblen Verhältnissen zwischen Menschen zum Ziel geführt hat – zur Grundlinie des von Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur“.[89]

Sloterdijk ist überzeugt, daß die individuelle Übernahme der Immunisierung durch die Immunisierungsbedürftigen selbst nicht der letzte Stand der Geschichte sein wird. Er ist gleichsam überzeugt davon, daß die Erscheinungsweisen moderner Verfaßtheit unbrauchbar geworden sind für diese eine Aufgabe, Menschen mit Schutz, Immunität, sprich: bergender Nähe zu versorgen. Die hier versuchten Vorstellungen einer technogenen Nähe wären seiner Theorie der Ko-Isolation gemäß daher auch nur einer Art kurzsichtigen Verblendung geschuldet, die eben nicht zu sehen erlaubt, daß überall da, wo rege Kommunikation zwischen und ein Geöffnetsein für Menschen und Gruppen konstatiert wird, es sich doch recht nur um gemeinsame Nachahmungswellen und analoge Medien-Ausstattungen handelt.[90]

An Sloterdijks Überlegungen interessiert im hier verfolgten Zusammenhang daher zweierlei: Zum einen die mehr implizite Grundüberlegung, daß Menschen genuin auf Immunisierung und damit auf eine Unterbrechung ihres Ausgesetztseins in der Welt, also in vermittelter Weise auf Nähe angewiesen sind, und damit bei aller Ausgesetztheit, die die Zivilisationszucht (an ihrer Spitze: die kapitalistische) vergesellschaftet hat, überindividueller Formen des Eingesetztseins und -werdens bedürfen; und zum anderen die sehr starke Behauptung, daß die Formate Gesellschaft, Technologie und Kultur als Kandidaten für eine Rekonstitution immunisierender Beziehungen innerhalb von Abstraktion ausgeschieden sind.

Damit formuliert er eine sehr starke Position gegen die hier versuchte, die ja mit dem Begriff der technogenen Nähe genau das zu erkunden sucht: motivational erfahrbare Eingesetztheit der Menschen im Ausgesetztsein. Sloterdijks Position zwingt also dazu, für technogene Nähe eine nachvollziehbare neue Vermittlung und Vergesellschaftung plausibel zu machen. Denn es besteht der Anspruch, mit der technogenen Nähe einen Begriff zu entfalten, der mehr beinhaltet denn das, was Sloterdijk Tele-Sentimentalität[91] nennt. Und der, dies sei immer wieder betont, am Konzept und an der wie auch immer interpretierbaren Fassung von „Gesellschaft“ festhalten möchte. Es geht also nicht um die Erkundung einer weiteren Form anthropogener Inseln[92], sondern um die Erkundung einer technogenen Vergesellschaftung.

 

Textinstrument Weber

Eine im Kern dezidierte andere Auffassung über den Stellenwert von Kultur und Technik vertritt Hans Peter Weber, dessen Texte als positive Spannungsbögen für die Entfaltung des Begriffs „technogene Nähe“ herangezogen werden sollen. Die Konzeption einer chaosmischen Anthropologie Webers[93] läßt sich vom Gedanken leiten, daß die gegenwärtige Zeit der Geschichte beinahe eine des Übersprungs von Variation zur Selektion „ist“: Die sozioanthropo-kommunikative Evolution menschlicher Gesellschaft, selbst eingebettet in weit ausholendere Evolutionen des Lebens und der Physis, trete nun in eine Phase ein, in der die entwickelten, erfundenen und sich ergeben habenden Variationen (Sprache/ Kommunikation, Arbeit, Kultur und Technik) selektiert werden; und dies mit dem Effekt, daß der „Anthropokosmos“ auf erhöhter Stufenleiter Anschluß findet an/ restabilisiert wird in generativere Schübe des Evoluierens schlechthin.[94] Und wie es aussieht, werden von den geschichtlich realisierten Variationen wohl nur „Kultur“ und „Technik“ neosynthetisiert als Selektionskandidaten übrigbleiben; die ihrerseits, als „Kultur2“, mit „Natur“ neue Variationen realisieren werden – „Nurture“, „Curture“.

Das Textinstrument Weber bietet der Präzisierung technogener Nähe eine umfassende kulturanthropologische Einbettungsmöglichkeit; aber nur dann, wenn sich plausibel machen läßt, daß sich technogene Nähe als eine Weise der Einbergung des Menschen weiterhin im Stratum von Gesellschaftlichkeit und Gesellschaft abspielt, und nicht nur im Stratum der Kultürlichkeit und der Kultur.

Die Frage wird sein, inwieweit der Plastizitätsform-Container namens Gesellschaft über seine moderne Geschichtsetappe hinaus brauchbar oder unbrauchbar sein wird für eine radikale Umstellung der Zivilisationszucht von der Entbergung hin zur Einbergung. Wenn also Weber konstatiert: „[E]s gilt, den Zeitgenossen zu zeigen, sie vorzubereiten darauf, welche Übergänge zivilisatorisch/ kulturell kontrapunktisch anstehen, auf was sie/ wir hinwachsen können: Curture/ curture-people, erneut: KULTURMENSCHEN (antarchaisch preziöser, raffinierter nun...), austere Elementarteilchen, streng eudaimonistisch, rigorose Archétecturen[95] – dann gilt hier in gleicher Dringlichkeit zu zeigen, ob „Gesellschaft“ selbst übergangsfähig sein wird oder nicht.

Die Beschäftigung mit Weber wird in der folgenden Arbeit einen großen Raum einnehmen müssen, da Weber nach meinem Überblick der einzige Autor ist, der eine ausgearbeitete posthistorische Theorie der „KulturTechnik“ vorlegt.

 

Textinstrument „Marxismus als Methode“

Beinahe eine Vorwegnahme der Frage, ob Menschen weiterhin in Gesellschaften sich generieren, produzieren, sich reproduzieren (und nicht bloß in kulturethnologisch grenzmarkierten Gemeinschaften), scheint vom Textinstrument „Marxismus als Methode“ auszugehen, ist doch über/ von Marxismus nur schwer zu reden, wenn man keine Gesellschaft und also keine Klassenstruktur mehr annimmt! Marxens Kritik war eine an der bürgerlichen Gesellschaft, an der bürgerlichen Wissenschaft und an der bürgerlichen Ökonomie, und zwar vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus.[96] Mithin gehört seine Kritik eindeutig in die bürgerliche Formation der Moderne.

Die Frage wird also sein, wo der Marxismus welche Fermente aufweisen kann, die über seine genetische Konstitution in der und durch die Moderne hinausweisen, so daß er auch weiterhin für die Analyse und Kritik nachmoderner Gesellschaft wichtig und brauchbar sein wird. Es genügt sicherlich nicht mehr wie vor knapp 30 Jahren, den Marxismus im Paradigmakern aufzuspalten, um ihn auf die Höhe der erkenntnistheoretischen Einsichten zu bringen, etwa dieserart: „Der Marxismus kritisiert faktisch die Angemessenheit der ‚bürgerlich’-wissenschaftlichen Analyse des Kapitalismus und moralisch-politisch den Kapitalismus selbst“.[97] Gefordert ist vielmehr, den Marxismus danach zu befragen, inwieweit sein Instrumentarium des Aufweisens falscher Logik und seine Ausrichtung auf die Beseitigung unnötigen Leids auch nach der historischen Entwertung von Dialektik und praktischer doppelter Negation umgemodelt werden kann auf Verhältnisse, die durch fehlende technogene Nähe (gegenwart) und durch Leid ob vorhandener technogener Nähe (Zukunft) gekennzeichnet sind. Denn daß sich auch im Stand der gesellschaftlichen Technogenität die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft zu Gestalt bringen, und daß weiterhin die ökonomischen Verhältnisse und Zwänge Ableitungsquellen für die Gestaltung anderer Vergesellschaftungen (der Kultur, der Psyche, der Kommunikation, der Arbeit, und nicht zuletzt der Technikforschung selbst) sein werden, scheint mehr als evident.[98]

Kurz: Die Frage wird sein, ob für technogene Nähe das gilt, was bisher für fast alle Phänomene der Technik (paradoxe Ausnahme: Liebestechniken!) galt, nämlich: ihre Grundierung im Phänomen der a-diskursiven Herrschaftsentfaltung.

 

Zusammenfassung

Das Aufspüren von Hinweisen – und es sind definitiv nicht mehr als Hinweise – zur Klärung und Beschreibung dessen, was in dieser Arbeit technogene Nähe genannt wird, hat einen notwendigen ersten Umweg zurückgelegt; notwendig, da für eine ‚direkte’ Ansteuerung technogener Nähe noch zuwenig Schnittmengensachverhalt ebendieser Nähe vorliegt. Der Umweg versucht, eine Schnittmenge zu erzeugen. Der Umweg besteht darin, nicht unmittelbar phänomenologisch, materialistisch und kulturanthropologisch sich ans Thema der Arbeit zu machen – dies wird zu einem späteren Zeitpunkt passieren –, sondern Textinstrumente aufzusuchen, die sich dadurch auszeichnen, daß mit ihnen jeweils spezielle Anschnitte des noch dunklen Phänomens technogener Nähe möglich sein, zumindest aber erleichtert werden könnten.

Die spezielle Behandlung Claessens’ soll dazu dienen, technogene Nähe daraufhin befragbar zu machen, ob es sich mit ihr um einen Sachverhalt handelt, der in der Dimension der Evolution grundlegender anthropologischer „Tatbestände“ seinen Platz hat, zumindest in diese Dimension hineinragt.

Die spezielle Behandlung Heideggers soll dazu dienen, das Technische resp. Technologische der technogenen Nähe daraufhin befragbar zu machen, ob es sich als das „Wesen“ der Technik erweisen könnte, die ja nach Heidegger zutiefst untechnisch ist. Es geht also um die Frage, ob die Technik der technogenen Nähe das „Sein“ der Menschen wieder einzuholen vermag, nach einer fast 300 jährigen Geschichte der Seinsvergessenheit und Seinsvernichtung durch Technik in der und durch die Moderne.

Die spezielle Behandlung Hogrebes soll zweierlei befragbar machen: Kann sich die ‚wissenschaftlich-spekulative’ Beschäftigung mit technogener Nähe einordnen in die gängigen Vorschriften wissenschaftlicher, logischer und erkenntnistheoretischer Problematisierung und Analyse?; und: Erfordert der behauptete Sachverhalt technogener Nähe implizit eine Grundierung erkenntnistheoretischer Vorschriften, die mit einem mantischen Empirismus (Hogrebe) zu tun haben könnten? Es geht also um die Frage, ob technogene Nähe einer noch recht ungeklärten Erkennens- und Erkenntnisweise bedarf, um überhaupt als Erkenntnisgegenstand ausgemacht werden zu können.[99]

Am Textinstrument Kluge soll sich die Frage ableiten lassen, ob in seiner Konzeption der Gefühle in ebendiesen Gefühlen eine Konfiguration ausgemacht werden kann, die seit Millionen von Jahren schon vorhanden ist, aber erst jetzt, in Formen technogener Nähe, zum ersten Mal richtiggehend angesprochen werden kann. Besitzt also technogene Nähe in bestimmten Gefühlskonfigurationen der Menschen schon bespielbare Agenturen, die damit zum ersten Mal aus ihrer ahistorischen Verfaßtheit herausgespült werden und in einer ‚posthistorischen Produktivität’ (Kreaturkreativität) aufzugehen vermögen?

An McLuhans Versuchs, Welt und Gesellschaft neu zu denken als ‚Untermenge’ der Elektrizität, soll die Frage abgeleitet werden, ob die hier verfolgte technogene Nähe realistischerweise anschließbar sein wird an seine Vorstellungen einer Neuformatierung von menschlichen und gesellschaftlichen Beziehungen durch Technik. Sind Formen technogener Nähe Weiterungen magischer Kanäle? Oder ist vielmehr eine völlig neue technologische Infrastrukturierung menschlicher Gesellschaften notwendig?

Die Behandlung Luhmanns soll die Frage ermöglichen, ob es berechtigt ist, in der technogenen Nähe so etwas wie Ohren und Augen der Gesellschaft selbst zu sehen, nachdem die Herausbildung der abstrakten, artifiziellen und technotopen Gesellschaft über Jahrhunderte hinweg das Hören und Sehen hat vergehen lassen (Hegel).[100] Gehört technogene Nähe zu den „Spitzenleistungen der Gesellschaft“ (Luhmann)?

Als Prüfung dieser Frage-These dient die Behandlung der Autoren Mühlmann und Sloterdijk. Beide bieten einen recht überzeugenden Skeptizismus an, der dazu zwingt, die Überlegungen zur technogenen Nähe genauer und vorsichtiger zu entfalten. Mühlmann soll die Frage stellbar machen, ob es nicht sinnvoller ist, am biologischen Lebewesen Mensch (statt am Techniker Mensch) manipulativ anzusetzen, um den Erfordernissen zukünftiger Etappen der gesellschaftlichen Evolution (Ökologisierung sozialer Systeme) besser begegnen zu können. Sloterdijks Vorbehalt gegenüber großräumigen, großzeitlichen und spätmodernen Daseinsfürsorge- und Daseinsfunktionsdimensionen soll die Frage präzisieren, ob technogene Nähe tatsächlich in den Bereich der großformatigen Gesellschaft gehört oder nicht doch eher in die Organisationsform namens Gemeinschaft.

Die spezielle Behandlung der Weber’schen chaosmischen Anthropologie und seines „cultural engineering“-Ansatzes soll zu einer Fragestellung führen, die technogene Nähe anschließbar oder nicht anschließbar machen könnte an eine kosmologisch-generative Physis, und die zur Bestimmung führen könnte, ob technogene Nähe schon zur kulturanthropologischen Einbergungspraxis gehört oder doch der Zivilisationszucht der Entbergung zuzurechnen ist.

Mit der Erörterung „des“ Marxismus als Methode der politökonomischen Analyse und Kritik einer kapitalistischen Gesellschaft nach der bürgerlichen Verfaßtheit soll schließlich der Frage nachgegangen werden, ob und wie Formen der Durchsetzung technogener Nähe gesellschaftliches Leid produzieren, und ob technogene Nähe als solche, also als eine evoluierte neue Fassung des „Stoffwechsels“ zwischen Menschen und zwischen Menschen und Gesellschaft, die Verachtung des „Menschengeschlechts“ fortsetzt oder hinter sich lassen kann.

Kurzum: Kann für technogene Nähe eine Schnittmenge kreiert werden, in der die Veränderungen durch technogene Nähe, verstanden als ein neuer Beziehungstyp des In-, Mit- und Daseins, in den anthropologischen, sozialen, evolutiven, kommunikativen und generativen Dimensionen der Menschen nachvollziehbar werden?

 

Nach diesen ersten begrifflichen Schatten, die im Dunkel hoffentlich etwas Kontur gewinnen konnten, geht es im anschließenden Kapitel darum, dem Dunkel Konturen abzugewinnen. Das Dunkel heißt: Technogene Nähe.[101] Weniger dunkel, geradezu blendend sind hingegen die Probleme, die durch den Begriff und den Sachverhalt entstehen, so man ebendiesen an bestehende Theorien, bestehende soziale Tatsachen und weiterhin gültige Methodologien zumindest anzeigehalber anschließen möchte. Da diese Probleme im Laufe des Textes immer wieder ersichtlich werden, soll jetzt schon eine kleine, nur Aufzählung leisten sollende Liste angeführt werden, auch wenn der Zeitpunkt dafür nicht der günstigste ist.

 

Kurze Liste der Probleme des Anschließens technogener Nähe

Nochmals: Es mag sonderlich erscheinen, jetzt schon in einer kurzen Zusammenfassung auf diese Probleme der Verhältnisse (der Theorie) technogener Nähe zu anderen Theorien und Sachverhalten hinzuweisen, wenn noch nicht einmal geklärt ist, wie der theoretische Radius des Erklär- und Beschreibbaren technogener Nähe beschaffen ist. Die Weitläufigkeit der Probleme, die auch dann nicht verschwunden sein wird, gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt schon eine klarumrissene Parametrisierung der Nähe, macht es jedoch nicht ganz sinnlos, kurz zu erwähnen, wie sich das hier verfolgte Unternehmen verbinden oder eben nicht verbinden läßt mit Begriffen bzw. Sachverhalten wie

Moral, Gesellschaftstheorie, Politischen Ökonomie, Anthropologie, Geld, Weltgesellschaft, Körper und Interaktion.

 

Moral

Das Verhältnis einer prospektierten technogenen Nähe zum moralischen oder gar ethischen Diskurs ist äußerst gespannt. Einerseits ist es nicht Absicht, hinter die Betrachtungen Luhmanns zur Moral und zur Ethik in spätmodernen Gesellschaften zurückzufallen.[102] Auf der anderen Seite soll die zutiefst humanexpressive Spannung der Bestimmungen zwischen Sein und Geltung, also Sein und Sollen, nicht einer kybernetisch aufgefaßten Oszillation bestimmter systemischer Regelkreise überantwortet werden. Gleichsam soll die Achtung für die sozialisierte Konstitution und das sozialisierende Potential technologischer Kultur ohne institutionelle Präskription auskommen können, das heißt: sich im Gebrauch, in der Handlung, also in der Performanz selbst zur Geltung bringen.

Das scheint, wie bereits zu Beginn kurz erwähnt, ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, da technologische Ausdifferenzierung bis dato eher treffender beschreibbar ist als eine Reduktion und „Deformation“ moralischer, emphatischer und reflexiver Vermögen des Menschen; und technologische Ausdifferenzierung zudem die Intensität sozialer Beziehung zumeist einer intensiven technischen Beziehung opfert. Das Verhältnis Moral/ technogene Nähe scheint erst dann ein anschließbares Problemniveau erreicht zu haben, wenn eine Art Technologievertrag formulierbar ist, der in sich den Gesellschaftsvertrag (Rousseau) und den Naturvertrag (Serres) aufzuheben vermag, also nach der Ankopplung der Moral an Theologie (bis zum Ende des 16. Jahrhundert), an Manieren und Gefühl/ common sense (bis Ende des 17. Jahrhunderts), an die soziale Ordnung und die Rationalität (bis Ende des 18. Jahrhunderts), an die Transzendentalität und die Geschichte (bis Ende des 19. Jahrhunderts), an die Sprache resp. das Sprechen und die Ökologie (bis Ende des 20. Jahrhunderts), nun die Moral in und durch gesellschaftsvermittelnde(r) und gesellschaftsvermittelte(r) Technologie verständlich machen müßte. Eine mögliche Konsequenz daraus wäre die Etablierung von „Sozialschutzräumen“ (in Anlehnung an Naturschutzgebieten) und kulturellen Kyto-Protokollen, denen die Aufgabe zukäme, aus den Kulturtechniken Techniken der Kultur zu performieren. Die Bemühungen zur Erstellung einer universellen Konversationsmoral für die internetvermittelte Kommunikation wie auch erste Formen eines WLAN-Sozialismus[103] könnten hier erste, embryonale Hinweise geben.

 

Gesellschaftstheorie

Das Verhältnis zwischen der Begrifflichkeit „technogene Nähe“ und der Begrifflichkeit „Gesellschaftstheorie“ ist besonders klärungsbedürftig, da einer der Problemfoci technogener Nähe in der Frage nach der berechtigten Aufrechterhaltung des Begriffs „Gesellschaft“ zu sich kommt. Damit ist nicht eine gesellschaftstheorieaversive Einstellung wie etwa die Friedrich H. Tenbrucks gemeint, der „Vergesellschaftung“ als höchste oder letzte Abstraktion soziologischer Analyse präferiert.[104] Viel mehr stünde auf dem Spiel denn Gesellschaft: nämlich die gesellschaftliche Vermittlung selbst. Dies ist zumindest eine Option, die zu denken sein wird, auch im Bestreben, am Begriff und am Sachverhalt Gesellschaft mit der technogenen Nähe festzuhalten. Eine in der Konsequenz katastrophale Zersplitterung der Gesellschaft in Ligen (Hans Peter Weber) theoretisch etwas entgegenzusetzen, wie es mit der technogenen Nähe-Untersuchung versucht wird, bedeutet also auch, eine schlüssige gesellschaftstheoretische Konzeption erstellen zu müssen, die anzugeben vermag, wie gesellschaftliche Synthesis, Dynamis und Praxis für eine und in einer Gesellschaft zu denken sind, die reell nicht mehr sinnbasiert, also der Kapitalisierung vollständig reell subsumiert ist und dabei gleichzeitig – dies mehr Hoffnung denn Wissen – nicht mehr auf anthropologische, ethnologische, religiöse und biologische (rassistische) Differenzaufrechterhaltungsideologeme zurückgreifen kann.

Es wird also darum gehen müssen, trotz unausweichlicher Historisierung des Begriffs Gesellschaft alle Möglichkeiten ins Auge zu fassen, die einer kommenden Gemeinschaft im Sinne Agambens („Denn die kommende Politik ist [..] die unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation“)[105] „Paroli“ bieten können, ohne dabei in zivilklinischen Sozialsystemisierungen im Sinne Luhmanns Halt zu suchen.

 

Politische Ökonomie

Da die hier versuchte Konzeption nur äußert problemhaft auf eine wie auch immer modifizierte dialektische Methode zurückgreifen kann, wird die Frage, wie aus der Logik der Kapitalverwertung und der Praxis der Warenproduktion so etwas wie technogene Nähe entspringen können soll, zu einer schier unbezwingbaren Aufgabe. Die Konstitution der Kommunikation durch/ mit technogene(n) Formen ist nicht aus dem Muster der Produktion ableitbar; und damit auch nicht aus dem weiterhin zentralen Stoffwechselmodus der Arbeit. Somit entfällt für technogene Nähe die Möglichkeit, im Begriff der Arbeit die bekannte Differenz zwischen abstrakter und konkreter Arbeit einzubauen. Und damit entfällt natürlich die Aussicht auf eine inhärente Inversion der kapitalistischen Produktionsweise. Das hätte man vor 20 Jahren bestimmt anders zu deuten gehabt, als die Lebensweltkonzeptvorstellungen von Habermas diskutiert, Bereiche jenseits der Produktionslogik ausgemacht und mit eigenen Rationalitätskriterien ausgestattet wurden („reflexive Dienstleitungsarbeit“), um ein zumindest nicht-instrumentelles Verhältnis zur Arbeit und damit neue Akteure und neue Rationalitäten für möglich zu halten.[106]

Heute scheint es kaum mehr chancenreich zu sein, eine Aufhebung der bisherigen Form und Materialität der Arbeit als entfremdete Lohnarbeit als durch innere Friktionen der politischen Ökonomie bedingt zu denken. Arbeit hat zwar ihre Eindeutigkeit verloren; die gewonnene Ambivalenz scheint allerdings eher in Ligenbildung denn in „universelles Produzieren“ (Karl Marx) einzumünden. Die Erkundungen nach Möglichkeiten technogener Nähe müssen also eine Antwort darauf geben, welcher Arbeitsbegriff und welche Formatierung der Arbeit vorausgesetzt zu sein hat, damit technogene Nähe eine neue Weise der organischen Solidarität jenseits der mächtigen Strukturen der Arbeitsteilung[107] zumindest anzudeuten vermag – denn technogene Nähe und kapitalistische Produktionsweise gehen nicht zusammen. Kommunikationsökonomisch formuliert: Technogene Nähe kann nicht Bestandteil der Unterhaltungsindustrie werden; damit gehört sie zu den möglichen formenden und entformenden Mächten, deren Prägekraft nicht ausreicht, um mit der Kraft der Unterhaltung in Wettbewerb treten zu können.[108]

Der nun in die forcierende Phase eintretende „Umbau“ der Arbeitsgesellschaft, also die makrosoziologische Entkopplung von Arbeit und Wohlfahrt, läßt für dieses Problem ineins enormen interpretativen Spielraum wie auch enorme Unlösbarkeiten erwarten.

 

Anthropologie

Das Verhältnis der hier verfolgten Theorie zur Anthropologie gestaltet sich auf eine extrem zwiespältige Weise. Denn einerseits wird der Versuch unternommen, technogene Nähe ohne anthropologische Unterfütterung zu beschreiben, zumindest ohne eine solche, die die Funktion erfüllt, bei noch so abstrakter Dekonstruktion und Dekomposition des Menschen einen Begriff vom Menschen aufrechtzuerhalten. Andererseits wird die stark zu machende Behauptung, daß sich innerhalb der sozialen Evolution nun ein bestimmtes anthropologisches Vermögen ausbilden könnte – das Vermögen zur motivationalen Beziehung mit sozial unwahrnehmbaren Abstrakta – nicht umhin können, auf eine Vorstellung von Anthropologie, und sei es auch nur eine zutiefst soziologische oder kybernetische Anthropologie, zurückzugreifen.

Entscheidend wird demnach sein müssen, das Theorem einer nun möglichen Ontogenese der Kultur qua Technologie so auszuarbeiten, daß einsichtig werden kann, warum das Konzept der Genealogie[109] nicht mehr greift, um die Ontopoiesis der Kultur als von der Ontopoiesis des Menschen herkommende zu erfassen. – Mit dem kultur- und kosmologietheoretischen Begriff der Kreaturalität Hans Peter Webers ist zumindest ein Kandidat vorhanden, um den uns bekannten Menschen mit dem zukünftigen Menschen in seiner psychischen-sozialen-kreaturalen Befindlichkeit auf neue Weise zu bedenken.

 

Geld

Was die Frage nach dem Verhältnis technogene Nähe/Geld betrifft, überschlagen sich die möglichen Problemperspektiven. Nicht nur, daß die Behandlung des Themas Geld verzichten muß auf die Nachahmung der sehr eleganten Lösung Simmels, seine Philosophie des Geldes fern jeder nationalökonomischen Konnotation entworfen zu haben[110]; sie hat zudem davon auszugehen, daß über 100 Jahre nach Simmels Großessay die ökonomischen Wertungen und Bewegungen nun selbst zu tieferliegenden Strömungen geworden sind, der individuelle und gesellschaftliche Geist also nun mehr denn je Ausdruck geworden und nicht mehr Ausdrückendes ist.[111] D.h., in einem nichtsystemtheoretischen Sinne verstanden:

Geld übernimmt als dezidiert fürs Wirtschaftssystem geeignetes Kommunikationsmedium in vermehrter Weise auch die Kommunikation in anderen Systemen, wenngleich dort nicht in den Werten des Zahlens und Nichtzahlens, sondern eher in denen der Distanzierung und des Engagements.[112] Die Generalisierung der praktisch unendlichen Tauschmöglichkeit durch Geld als maßgebender „Treibstoff“ für die gesellschaftliche Synthesis seit der Neuzeit und die Invasion dieser sich prozessierenden abstrakten Gesellschaftlichkeit in die Bereiche der Kultur, der Semantik, der Information, der Mentation lassen es auf den ersten Blick nicht zu, technogene Nähe als nichtmonetäres, als nichtmonetarisierbares gesellschaftliches Verhältnis zu denken. Gleichwohl, so die These, wäre dies von Nöten, also das Nicht-Ware-Werden technogen grundierter sozialer Bezüglichkeit, damit die nötige soziale Intensität der Beziehung Anschluß finden kann an eine motivationale Rezeptivität.

 

Weltgesellschaft

Begreift man das unter dem Etikett Weltgesellschaft Gemeinte als werdender Prozeß der Abschwächung des Verhältnisses zwischen marktvermittelter und staatsvermittelter Gesellschaft zu Gunsten der ersteren, als Prozeß der Schwächung von Bindungen zwischen politischem und rechtlichem System, als Prozeß der Stärkung des Instituts Vertrag als Rechtsquelle, sowie als Prozeß der zunehmenden ideologisch-rassistischen Ethnifizierung als Moment der künstlichen Distinktions- und also Zugehörigkeitspolitiken („kulturelle Vielfalt“ versus kulturelle Abschottung), dann scheint eine verstärkte, technologisch induzierte Kommunikation, die verstärkt medial, also mehr technisch standardisiert denn sozial normiert abläuft und ebenso verstärkt eigenwertige Sozialität generiert, als Kandidat der Ordnungsbildung für globalisierte Vermittlungsformen genau passend zu sein.

McLuhans Rede vom Weltdorf war zu rhetorisch gemeint, als daß man darauf ernstlich verweisen könnte. Dennoch erlauben die Mittel der elektronischen Kommunikation in ihrer gegenwärtigen Phase der Interaktivisierung den Gedanken, daß nach den ersten Zeichen einer zivilen Weltgesellschaft (gewiß: weiterhin als Anhängsel der genuin asozialen Weltwirtschaft) die Bildung von Weltbürgern jenseits der Literatur, der Kunst und der Musik, also jenseits eines bereits schon reellen ästhetischen Ethos, auf den Weg gebracht werden könnte.

Zu bedenken (aber: wie zu lösen?) bleibt allerdings, daß „diese“ Weltgesellschaft de facto nur in einer verschwindend geringen Größe diese Bildungsmöglichkeiten bereitstellen könnte: Die überwiegende Zahl der Menschen auf diesem Planeten erfährt mit der Globalisierung der Ausdifferenzierung von Wirtschaft nur zusätzliche Einschränkung (der Produktion), Deformation (der Reproduktion) und Freiheitsentzug (der Mentation).[113]

 

Körper und Interaktion

Wie weit und wie stark muß sich der menschliche Körper telematisieren lassen, damit die behauptete mögliche intensive soziale Beziehung durch und in technogener Nähe keine terroristische Angelegenheit wird (im Sinne Lyotards: Denken ohne Körper ist terroristisch)?[114] Wie weit sind die Funktionen sozioakustischer und sensorischer Rezeptivität den körperlichen Sinnen inhärent und müssen also als besondere und eben nicht spezifische Organisationen von (räumlicher) Beziehung in raumtranszendierende elektronische Räume mitpräsent und mitpräsentiert werden (und eben nicht nur: repräsentiert)? Oder ist es denkbar, daß mit dem erneuten Schub der gegenwärtigen machtvollen Marginalisierung körperlicher Wahrnehmung nicht einfach nur die Geschichte der Körpernihilierung fortgesetzt wird, sondern vielmehr eine erste großangelegte Entkopplung der „Körperschaftlichkeiten“ vom Körper stattfindet? Daß etwa die Facialität sich nunmehr nicht nur auf das menschliche Gesicht (und auf das Angeblicktwerden) bezieht, sondern als „Form Facialität“ überspringen kann auf andere Sachverhalte, Gegenstände, Prozeduren? Daß etwa die intime Nähe durch Affektion und Attraktion sinnlicher Sensationen sich entkoppelt von den gleichzeitig im selben Raum sich aufeinander beziehenden Körpern und als „Form Nähe“ überspringen kann auf technologisch hochgradig vermittelte Beziehungen? Daß etwa Haut auch als Benutzeroberfläche erfahrbar werden kann?[115] Oder daß schließlich Verführung nicht mehr durch Abstand und Umweg zur Nähe und zur Notwendigkeit gelangt, sondern sich ereignet, ohne einen speziellen Kontext und eine Exklusivität vorauszusetzen?

Giorgio Agamben hat im Zusammenhang der Kommerzialisierung des menschlichen Körpers darauf hingewiesen, daß ebendieser zwar von seinem „theologischen Vorbild“ befreit würde, seine Ähnlichkeit als beliebiger Körper mit anderen beliebigen Körpern jedoch bewahrt bliebe. Agamben: „Das Beliebige ist eine Ähnlichkeit ohne Archetyp, d.h. eine Idee. Denn obgleich die vollkommen austauschbare Schönheit des technisierten Körpers mit der Erscheinung jenes unicum, das, in Gestalt Helenas, die betagten Herrscher Trojas am Skaianischen Tor verwirrte, rein gar nichts zu tun hat, beide durchzittert so etwas wie Ähnlichkeit [...]. Gleichwohl war der Prozeß der Technisierung, statt die Materialität des Körpers zu betreffen, auf die Errichtung einer separaten Sphäre gerichtet, die mit diesem praktisch keinen Berührungspunkt hatte: Was technisiert wurde, war nicht der Körper, sondern sein Bild.“[116]

Soll technogene Nähe in der Dimension der Beziehung zwischen Menschen, die Körper sind und haben, gelingen, und das heißt: Krasis, Austausch und Tonos ermöglichen, dann muß aus der Idee (dem Bild) des Körpers ein Körperteil des Körpers werden, den man zu entmaterialisieren sucht. Die Hervorbringung eines zweiten, organlosen Körpers im Bild hätte also zu gewährleisten, selbst so hinfällig zu sein wie der Körper selbst (und die Beziehungen zu ihm). Diese Hinfälligkeit oder Sterblichkeit besteht zur Zeit, wenn ich es recht sehe, noch in der Praxis des schnellen Wechselns, des schnellen Austauschens, der Geschwindigkeit, also in der Praxis der Zerstreuung[117]; eine Praxis, die technogene Nähe aufheben müßte, um der Gefahr zu entgehen, im Hegelschen Universum der Selbstbefriedigung des Geistes (aufgerüstet mit Medientechnologie) zu verenden. Kurzum:

Es ginge also im Verhältnis technogener Nähe versus Körper und Interaktion darum, etwas darüber zu erfahren, ob der menschliche Körper als eine besondere oder als eine spezifische Form der Organisation von Empfindung, Resonanz, Rezeptivität des Mitgeteiltseins zu denken sein wird. –Auch diese Fragen zeigen wie alle anderen an, welch’ Menge unerledigten Denkens noch vorliegt.

 

Soviel also in erwähnender Weise zu den Anschließungsproblemen des zu entfaltenden Terms technogene Nähe, die, wie abzusehen ist, leider nicht an Größe verlieren werden in dem Maße, wie der Term sich entfalten läßt.

 

 

2 Technogene Nähe

 

Der Terminus ist mir bisher nur an drei Orten begegnet, wobei nicht ersichtlich ist, wer der Gebrauchenden ihn eingeführt und wer ihn übernommen hat.[118] Meine Übernahme des Terms beschränkt sich auf dessen reichhaltige Konnotation und auf einige grundlegende Einschätzungen der ihn Verwendenden; die jeweiligen Forschungskontexte von Stefan Beck und Manfred Faßler/ Stefan Weber bleiben außer Acht.

In ihrer Beschreibung des sogenannten „Human Performance Engineering“-Modells stellen Faßler/ Weber dessen Kern heraus und kommen zu dieser Einschätzung: „Interaktion wird als techno-mediales Artefakt bestimmt: faktisch als Interaktivität. Die technologisch entworfene Interaktion wird als ein mächtiges und sehr leistungsfähiges Modell technogener Nähe konzipiert. Das Modell beschreibt den Modus, mit dem die abstrakteste Form sozial und global koordinierter Information und Kommunikation möglich ist. Zugleich aber wird dieser Modus als der einzige bestimmt, um an dieser globalen Struktur teilnehmen zu können. Die technogene Nähe ist als ein Integrations- und Partizipationsszenario zu verstehen“.[119]

In ähnlicher Weise auf die möglicherweise revolutionäre Formatierung des Beziehungsmodus „Interaktion“ durch Vernetzung ist Beck aus. Er schreibt: „Das Ziel, ‚technogener Nähe’ nachzugehen, bedeutete [..] vor allem, Kommunikation und ihr Ergebnis – etwa emotionale Nähe und Vertrautheit – zusammen mit Künstlichkeit zu denken. [...] Im Zentrum des Interesses stand die Frage, wie im Alltag (nach-)moderner Gesellschaften Präsenz produziert wird, wobei Präsenz durchaus in einem doppelten Sinne verstanden wurde: Als telematische Anwesenheit oder Erreichbarkeit ebenso wie als Geistesgegenwart [..]“.[120]

Beide Einschätzungen technogener Nähe werden viel zu tun haben mit der hier zu entfaltenden Fassung technogener Nähe. Indes liegt ein Unterschied vor, der einen Unterschied macht: Beck und Faßler/ Weber versuchen, innerhalb einer Medienanthropologie bzw. Medienethnologie neue Formen der technisch vermittelten und ermöglichten Nähestellung zu erkunden. Dabei haben sie gewiß die Folgen für die Weisen ‚makrogesellschaftlicher Reproduktion“ im Blick (Veränderungen der Inklusion/ Exklusion, der funktionalen Differenzierung, der Norm- und Rechtgenerierung, der Sozialisation, der Pathologisierung von Biographien etc.). Der Horizont, in dem sie ihr Erkenntnisinteresse placieren, bleibt jedoch strikt gekoppelt an den Erkenntnisgegenstand technologisch generalisierter Kommunikation[121], die durch die neuen Medien passiert. Man könnte ihre Ansätze verstehen als feinanalytische Fortsetzungen des Original-Buchtitels von McLuhans Die magischen Kanäle: „Understanding Media“, ein Titel, der durchaus als Imperativ verstanden werden kann. Der in dieser Arbeit verfolgte Anschnitt technogener Nähe hingegen fragt in einen Horizont hinein, der zumindest auf der Grenze zwischen historischer und chaosmischer Anthropologie zu erblicken ist; und damit weit weniger gegenwartsdiagnostisch und zugleich zukunftsspekulativer angelegt ist, als es die erwähnten Anschnitte sind.

Denn der hier versuchte Anschnitt möchte nicht nur neue oder im entstehen begriffene technologische Kommunikationssysteme daraufhin befragen, wie weit mit und in ihnen Nähe und Partizipation möglich sind; vielmehr sollen diese technologischen Systeme als Exempel und Auslöser für eine dezidiert kulturalistische Technologie bedacht werden, die nun selbst nicht mehr mit, sondern durch ebendiese technologischen Systeme „aktiviert“ wird. D.h.: Kultur selbst wird als Technologie gedacht werden müssen, und nicht mehr als etwas, in das hinein sich Technologie einsenkt und entweder zur In- oder zur Ausdifferenzierung „menschlicher“ Vielfalt führt.

 

Technogene Nähe mit Religionssoziologie?

Sollte sich erweisen, daß technogene Nähe eine Gestalt[122] eines nun erst evoluierbaren historischen Vermögens von sozialer Gesellschaft ist, kulturgenetisch dasjenige Realität werden zu lassen, was bisher nur ontogenetisch evoluierte und dann in der Ausführung auch nur interaktionistisch hergestellt werden konnte, nämlich Nähe, dann stellt sich sofort die Frage, warum der technogenen Nähe nicht religionssoziologisch und -philosophisch auf die Spur zu kommen versucht wird. Man könnte dann die hier in der Arbeit zentrale Thematik einer motivational durchdrängten Nähe zu abstrakten Entitäten und Gebilden vermittelt anschließen an die religiösen Praxen, Institutionen und die psychohistorisch gesicherten Überlieferungen, deren Ziel und Funktion es unter anderem war, dem einzelnen Menschen eine ergriffene Beziehung zum abstrakten, weil unsichtbaren Gott, eine Art Du-Präsenz zum abwesenden Wesen zu ermöglichen und zu suggerieren (Emmanuel Lévinas) – selbstverständlich in subordinierender Haltung.[123]

Man könnte, sähe es man so, kurzgefaßt technogene Nähe als eine Art zweiten Versuch der Generalisierung einer nun nüchtern gewordenen ‚Menschenliebe’ betrachten, nachdem der erste Versuch des Christentums scheiterte, die Selektivität und Anti-Sozialität der Liebe sowie die Asozialität des Glücks[124] durch Proklamation des generalisierten (Kommunikations-)Mediums namens „Menschenliebe“ zu neutralisieren.

Solch eine Sichtweise wäre weit unterhalb der Diskussion um Schuld, Gnosis, Eschatologie, Theodizee, Säkularisierung und Geschichte anzusiedeln, also weit unterhalb der Einschätzung, die Hans Blumenberg für den Spannungsbogen Sakralität – Säkularität – Profanität anschneidet: „Geschichte wäre so etwas wie ‚indirekte Theologie’, die vom Menschen und immer wieder vom Menschen spricht, um das Gottesbild nicht zu trüben – wie jemand von einem bestimmten Thema konstant ablenkt, weil er weiß, daß jedes Wort einen Hinweis geben könnte, den er nicht zu geben wünscht. Nicht die Theologie ist die Transformationsstufe der Anthropologie, sondern umgekehrt: die philosophische Rede von der Geschichte und vom Menschen ist die vollendete Spätphase der Theologie in ihrer menschlich ‚vornehmsten’ Form als Theodizee.“[125]

Es ginge also, wählte man sie, mit und in einer religionssoziologischen Betrachtung technogener Nähe darum, für die Bereiche kultureller Praxen und interaktionaler Intimitätsformen nun nachzuweisen, daß die durch technogene Nähe möglicherweise einsetzende Kapazität von Menschen, motivationale Bindung zu Abstraktionen zu erstellen und auch wahrzunehmen, schlicht die profane technologische Version dessen darstellt, was in den Praxen und Zeremonien religiösen Glaubens eine Jahrtausende alte und größtenteils verunglückte Geschichte zeitigte. – Würde man diese Betrachtung versuchen, dann betriebe man technologische Theologie, für die die Abwesenheit (Gottes) nun endlich sich aufgelöst hätte ins Anwesen all der Welttatbestände, die auf das Abwesensein zielten; die Bestände des Entbergens wären endlich angekommen in der Operationalisierung des erfahrbaren Verborgenen selbst. Die Kopfgeburt käme endlich zur Welt, könnte man salopp sagen. Technogene Nähe wäre dann demgemäß auch nur eine Glaubenssache, eine Glaubensangelegenheit, wie es Otto Ullrich zu bedenken gab.

 

Es ginge mit einem religionssoziologischen Blick auf technogene Nähe jedoch eher darum, Anhaltspunkte zu finden, die helfen könnten, die Nähe der technogenen Nähe als eine im ersten Schritt metaphysische Nähe der Anthropozität, und in einem zweiten Schritt als eine metaphysische Nähe der Kreativität[126] auszuweisen; also als eine, die tatsächlich auf ein „Substrat“ des Bedürfnisses, der Praxis, der Kommunikation, der Ferne-Nihilierung verweist, und die dieses Substrat dann nicht mit, sondern durch Medien[127] technologischer Art ansprechen und bespielen kann. Nicht würde sich ein religiöses In-Verbindung-Stehen ausweiten in die Bereiche avancierter Technologien des Verbindens; vielmehr hätten die avancierten Technologien Anschluß gefunden an eine beinahe religionsanthropologisch aufzuschließende Realität, die sich darin ausdrückt, daß Menschen notwendigerweise Raum- und Zeitentfernungen transzendieren müssen.

Technogene Nähe wäre dann lesbar als eine Situation, in der das notwendige Transzendieren von Zeit- und Raumentfernungen und das Sich-Einrichten in die Immanenz deterritorialisierter Raumzeiten abgelöst werden könnte, eben weil sich das Bedürfnis nach Ferne-Entfernung hat stillstellen lassen durch Möglichkeiten, nun im Abstrakten und Fernen zu verweilen[128], ohne einen elementaren Mangel erleiden zu müssen.

Kurzum: Für technogene Nähe würde nicht mehr gelten, was Thomas Luckmann ein religiöses Phänomen nennt: die Transzendenz der biologischen Natur.[129] Es würde deswegen nicht mehr gelten, da nun, so die These, die anthropologische und die gesellschaftliche Kultur einem großangelegten Transzendieren überantwortet wird. Nicht mehr ginge es um eine philosophische und anthropologische Rekonstruktion des nicht mehr stillstehenden Unfaßbaren, das sich ob des sozioanthropomorphen Großereignisses namens „Organismus wird zur Person“ explosionsartig in die neu entstandenen Sinn-, Deutungs- und Symbolsysteme ergoß, deren grundlegendstes System – dasjenige, das Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu verbinden vermag – zudem entscheidend auf der Durchsetzung von Distanz zum Strom der eigenen Erfahrung beruht.[130]

Vielmehr ginge es jetzt um die Beschreibung des Unfaßbaren ob des Großereignisses „Subjekt wird zum Projekt“ (Flusser) bzw. „Gesellschaft wird zur Person“; wobei die grundlegende Voraussetzung dieses Prozesses nun nicht mehr auf soziopsychologischer Ebene die Distanzfähigkeit wäre (um an Sinn- und Deutungssystemen zu partizipieren), sondern die Fähigkeit, subsymbolisch und nichtsemantisch Nähe herzustellen (was ja im Interaktionsstratum unter Anwesenden beinahe der Normalfall ist).

Damit, dies sei hier in aller Kürze angedeutet und wird später erörtert, besteht nun keine Möglichkeit mehr, an eine wie auch immer modifizierte prinzipielle Verantwortung von Menschen zu appellieren, wie sie Hans Jonas für die technologische Zivilisation subtil zu beschreiben wußte. Denn diese transpersonale und zugleich höchst subjektive Verantwortung, die Naturbeherrschung in den Griff zu bekommen[131], müßte sich kategorial, semantisch und vor allem rechtlich vermitteln lassen. Gewiß ist hierbei an internationale Gerichtsbarkeit (etwa der WTO), Protokolle (etwa das Kyotos) und Institutionen zu denken (etwa die UN). Aber: Ist mit diesen auch weiterzudenken?

 

Technogene Nähe: Ein naives Konzept?

Das hört sich, dies sei zugegeben, sehr optimistisch, wenn nicht gar blauäugig an. Dreht man zudem die religionssoziologische Einrahmung von technogener Nähe etwas weiter auf und kommt auf eine ‚theologietheoretische’ Einrahmung von Technik (und Wissenschaft) im allgemeinen zu sprechen, so wie es Stefan Breuer tat, dann scheint der Verdacht vollends evident, daß es sich hier wohl nur um intellektuelle Naivität handelt. Breuers Ansatz[132], das „Heilige“ mitnichten aus der modernen Welt verschwunden zu sehen, sondern vielmehr als etwas, das in die „Kernstruktur der Gesellschaft eingewandert“ ist und „in Technik und Wissenschaft eine neue Daseinsform gefunden“ hat[133], verleiht allen Derivaten, Effekten, Apparaturen und Horizonten von Wissenschaft und Technik einen Stellenwert, der sie ausweist als Verwirklichungsgestalten eines Einbruchs des Heiligen[134] in die moderne Welt. Und daß dieser Einbruch nichts zu tun hat mit möglichen Einbergungsprozeduren, wie sie hier versuchsweise in und mit der technogenen Nähe in Verbindung gebracht werden, macht Breuer sehr deutlich:

Seiner Ansicht nach „sind wir auf dem Weg in eine Hochgefahrenzivilisation, in der uns das Heilige wieder seine elementare Erscheinungsform zukehrt: in einer gefährlichen, undurchschaubaren, kaum zu steuernden Energie von außerordentlicher Wirkungskraft [...]. Der Schatten der Gefahren, die von Gen-, Kern- und Chemotechnologien erzeugt werden, fällt auf das Alltagsleben und erzeugt eine Atmosphäre der Furcht und des Verdachts, wie sie nach der Durchsetzung der Aufklärung nicht mehr denkbar erschien“.[135] – Wenn dem so ist, also dieser „Schatten der Gefahren“ alle anderen möglichen Schattenkonturen ‚überschattet’: Ist es dann nicht naiv, noch Ausschau zu halten nach einer ‚versöhnlichen’, einbergungspotenten Gestaltung von Technik, der sogar unterstellt wird, Menschen nun endlich richtig auf ‚Augenhöhe’ anzusteuern?

 

Man könnte, um den Verdacht auf intellektuelle Naivität auszubauen und gleichsam exemplarisch festzumachen, an Pierre Lévys Visionen einer technoimaginären Versöhnung denken, die seine Anthropologie des Cyberspace grundiert.[136] Wird hier nicht auch ein neues Tableau wirklichen Daseins versprochen, in dem endlich Verbindungen und Synthesen möglich sind, auf die die menschlichen Gesellschaften schon längst angewiesen sind, so sie nicht endgültig untergehen wollen? Deckt sich die hier versuchte Exploration technogener Nähe nicht doch mit Lévys Ansatz, der die digitale Revolution nicht als technologisch und wirtschaftlich determiniert auffaßt, sondern vielmehr davon ausgeht, daß „die Frage der Neugestaltung von Kommunikation, von Regulierung und Kooperation, die Entstehung bislang unbekannter intellektueller Ausdrucksformen und Techniken, die Veränderung der Beziehung zu Raum und Zeit“, kurz: daß „Form und Inhalt des Cyberspace [...] noch nicht endgültig festgelegt“ sind?[137] Ist sein Entwurf der Reorganisation von Nähe und Distanz in bestimmten Räumen, ist seine Erkundung „neuer Systeme der Nähe“[138] im Raum des Wissens nicht das, worum es den hiesigen ‚Technogene Nähe’-Erkundungen auch geht?

 

Aber es geht in der technogenen Nähe gerade nicht um eine kognitions- und wissensfundamentierte Neuausschreibung des Verbindens intellektueller und rationaler Vermögen von Menschen[139], auch nicht um eine rational motivierte, sondern um eine motivationale Bindung mit den abstrakten Formen ihres Ingesellschaftseins; eine motivationale Bindung, die wohl, soviel kann man jetzt schon sagen, eher subsemantisch denn semantisch kommuniziert werden wird. Lévys Realität der Nähe ist die Realität der Nähe in Bedeutungsräumen; alle Technologie (einschließlich des Cyberspace) haben nur die Funktion, überhaupt oder dichter denn sonst Nähe menschlicher Beziehungen zu erzeugen, wo sie nicht wesend, nicht präsent sein kann.

Die wirklichen Techno-Räume sind demnach bloß Vorzimmer der eigentlichen Räume: der inneren. Lévys Konzept der vier anthropologischen Räume (Erde, Territorium, Waren, Wissen) weist ebendiese aus als „Bedeutungswelten“[140], nicht als reale physische Welten. Es sind – trotz seiner weitausholenden gegenteiligen Behauptungen – kategoriale Phänomene, die er beschreibt, keine kreaturalen.

 

Richtet man sein Augenmerk nicht auf eine etwaige Blauäugigkeit, sondern auf überzeugende Kritik, könnte man im Zusammenhang mit der Entfaltung des Konzepts technogener Nähe an Siegfried Giedions stupende Darlegung der Herrschaft der Mechanisierung durch Technik denken[141], die zu entkräften unmöglich erscheint, will man nicht in ideologische Grobschlächtigkeit verfallen. Aber es geht in der technogenen Nähe gerade nicht um die Leugnung der strukturell zumeist brutalen Formatierung und Exklusion von Menschen und deren Beziehungen durch Technik im Alltag[142], sondern um den Versuch, Giedions Prospekt eines Zuendegehens mechanistischer Auffassungen auszuprobieren, in der Hoffnung, mit der technogenen Nähe etwas gefunden zu haben, das die Forderung Giedions unterstützt, die er so formuliert: „Der Typ des Menschen den unsere Zeit braucht, ist ein Mensch, der das verlorene Gleichgewicht zwischen innerer und äußerer Realität wiederfinden kann.“[143]

 

Oder man könnte schließlich an Günther Anders’ philosophische Anthropologie der Technokratie denken, die mit Wucht und Überzeugungskraft ein solch „endgültiges Portrait“ des heutigen, morgigen und übermorgigen Menschen anfertigt, daß nicht abzusehen ist, wie aus der bestehenden technokratischen Gesellschaftssituation noch eine Nichtendgültigkeit und eine Revokabilität zu destillieren wäre.[144] Berücksichtigt man Anders’ Bestimmung der Technik als paradoxes Unternehmen, qua technischer Vermittlung zu versuchen, „die Vermittlung überflüssig zu machen“; und berücksichtigt man seine Einordnung dieses Unternehmens in „unseren Kampf gegen Raum und Zeit[145] – Raum und Zeit werden die Formen der Behinderung eines technologisierten Daseins und ineins der weiterhin notwendige ‚Gebrauchswert’ für die Produktion eines Tauschwertes, der sich in technologisch gemodelten Raum- und Zeiterfahrungen zeigt –, dann steht die Bestimmung technogener Nähe vor einer weiteren schwierigen Aufgabe.

Denn es müßte nachvollziehbar gemacht werden, daß Formen und Funktionen technogener Nähe zwar durch und durch technologisch gelöst werden und teilhaben an der mit Macht durchgesetzten Totalisierung gesellschaftlicher Vermittlung (und damit Teilhaben an der von Adorno formulierten, gesellschaftlich notwendigen Täuschung durch den spätkapitalistischen ‚Gesamtprozeß’)[146]; daß sie aber gleichsam nicht mehr als Waffen im Kampf gegen Raum und Zeit betrachtet werden können, sondern nun vielmehr neue Bedingungen der Möglichkeit neuer Formen von Raum- und Zeitgenossenschaft abgeben: von einer Raum- und Zeitgenossenschaft, die allerdings in ihrer derzeitigen Vermitteltheit weiterhin überzeugend als Gestalt schlechter Abstraktion, durchgreifender Verdinglichung und verdrängter Zerstörung beschrieben werden muß (Otto Ullrich)[147] – mehr noch: die als gegenwärtige Vermitteltheit ohne Mühe unterstellen kann, daß mit einer Konzeption wie der hier vorgeschlagenen strukturell auf eine fürs erste abgeschlossene psychologische Expropriation angeschlossen werden könnte, die nun im technologischen Gewande daherkommt. Der Satz Adornos und Horkheimers: „Die Subjekte der Triebökonomie werden psychologisch expropriiert und diese rationeller von der Gesellschaft selbst betrieben“[148] ließe sich damit fortsetzen unter Auswechslung der Expropriationsweise, aber nicht der Expropriation selbst. Es ist wie gesagt schwer, solcher Sichtweise eine Konzeption entgegenzusetzen, die auf Differenzen (der Expropriation) aufbaut, deren Gewichtigkeit noch völlig im Unklaren ist.

Folgte man den Sichtweisen, die Giedion und Anders – die hier in der Einführung stellvertretend für weitere gewichtige Technik- und Technologiekritiken erwähnt wurden – entfalten, dann fiele die Überführung des Konzeptes technogener Nähe als naives Konzept nicht schwer. Schwer hingegen wird fallen, technogene Nähe als komplexes, nichttriviales Konzept darzulegen, das zwar nicht die Transzendenz zu einer neuen Zivilisation begründen könnte, wie Marcuse[149] es einer „anderen Technik“ meinte zutrauen zu können, das aber zumindest die Bedingungen einer anderen Kulturisation mit sich führt; und dies eingedenk der bereits erwähnten und im Folgenden weiter auszuführenden Kritik. Oder, anders gesagt: Zu behaupten, „daß der Mensch als Einheit aller Zurechnungen seitens einer klassisch-kategorischen Human- und/oder Subjektwissenschaft immer schon DAS Phantom war“[150], bedeutet nicht, alle humanistisch grundierte Kritik zu verwerfen. Aber es bedeutet auch nicht, jede humanzentristische Kritik mitzunehmen, nur weil sie unserem gegenwärtigen Stand des Empfindens, des Beurteilens und Bewertens entspricht und zur Zeit von Gegnern angegriffen wird, mit denen man nichts zu tun haben möchte.[151]

Kurzum: Johann Gottfried Herders „Unsre Humanität ist nur Vorübung, die Knospe zu einer zukünftigen Blume [...] Der jetzige Zustand der Menschen ist wahrscheinlich das verbindende Mittelglied zweier Welten“[152] müßte man wahrscheinlich dahingehend ändern, daß man den Zustand der Menschen als verbundenes Mittelglied zweier resp. vieler Welten zu denken hat. Der entbundene Mensch, so die hier im Text implizierte Auffassung, wird keinen Geschichtsverband mehr anlegen können; und auch ist kein Engel der Geschichte auszumachen, der zurückschaut.

 

Grundsätzlichere Kritik: Ausgeschlossenheit versus Nähe

Man muß nicht beim Begriff der Naivität stehenblieben, um dem Konzept Technogene Nähe indirekt Kritik wiederfahren zu lassen. Man muß auch nicht bei dezidiert technikphilosophischen und technikhistorischen Kritiken stehen bleiben, um die Kritik direkt vorzubringen. Es geht auch grundsätzlicher. In der historisch anthropologischen Linie ‚menschliche Identität – anthropologische Differenz – exzentrische Paradoxie’ lassen sich gleichsam Fragen stellen an das hier verfolgte Konzept, die grundsätzlich Gehalt und Tragfähigkeit technogener Nähe zu beurteilen erlauben. Focus dieser Linie ist eine fundamentale Ausgeschlossenheit des Menschen, verstanden als Kontrast zu der hier behaupteten Möglichkeit, via (Kultur-) Technologie eine Eingeschlossenheit, eine Einbergung gesellschaftlich zu vermitteln. Skizzierend könnte man diese Linie so fassen:

Die Genese der mächtigen wissenschaftlichen und politischen Gewohnheit, vom Menschen auszugehen als etwas, das eine Identität hat und damit tautologisch ist („Der Mensch ist ein Mensch“), kann man vergleichen mit der Genese des Begriffs Gestalt: Dieser tauchte in dem Moment auf, als das Wissen über den Elektromagnetismus feststellen konnte, daß nun menschheitsgeschichtlich erstmals etwas wahrhaft Gestaltloses reproduzierbar war. Foucaults Analysen zeigen deutlich, wie in der sich ausdifferenzierenden wissenschaftlichen Organisation des ‚Tatsachen’-, Deutungs- und Experimentalwissens der Begriff des Menschen als Identitätshalt für eine schon statthabende Wirklichkeitsfragmentierung herhalten mußte. Die beinahe vollständige Konzentration des Menschseins auf Bewußtsein und Geist (im deutschen Idealismus) versuchten diese anthropologische Sonderstellung des Menschen kulturphilosophisch zu sichern: Der Mensch verhält sich gegenüber der Welt (Transzendenz), ist aber nicht in der Welt (Immanenz), solange diese nicht vollständig durch den Geist (Subjekt) rekonstruiert und konstruiert worden ist. Menschliche Identität als Focus einer Episteme war nichts anderes als die konsequente Ignoranz gegenüber anthropologischer Fremdreferenz.

Das Denken der anthropologischen Differenz konnte sich demgegenüber teilweise von metaphysischen, ontologischen und transzendentalen Menschfassungen lösen und den Menschen historisieren/ immanent machen durch die Hervorhebung der Differenz des Menschen gegenüber: Natur, Gott, Tier, Gesellschaft, Sprache, Maschine. Die Fremdreferenz nahm an Gewicht zu; die Metaeinheit, zum Teil schon Paraeinheit gewordene Einheit hatte nun zunehmend verbürgt zu sein über das (im Ziel universell) gleiche Procedere der fremdreferentiellen Bestimmung (davon lebt gegenwärtig der performative Ansatz in den Kulturwissenschaften). Der Gattungsbegriff Mensch verlor zunehmend seine inhärente Binde- und Einheitskraft.

Die Reaktionen darauf waren zum einen eine Flucht nach vorne in forciertere Differenzwahrnehmung (Kultur als das Tableau des Vergleichs), zum zweiten eine konsequente Ignoranz gegenüber menschlicher Identität in der Differenz (Rassismus), zum dritten jedoch das Aufgeben eines Begriffs vom Menschen und der Identität-Differenz-Bestimmung innerhalb humanistisch resp. humanzentristischer Fassungen (Kybernetik). Diese letzte, die kybernetische Fassung von Differenz, nun beinahe ein halbes Jahrhundert aktiv, reaktivierte den Identitätsbegriff, allerdings nicht mehr spezifisch für den Menschen, sondern für alle nichttrivialen, operational geschlossenen Systeme und Maschinen, die sich in irgend einer Form verhalten. Mensch ist nun ein Name für ein Objekt unter vielen Objekten, Sprache, Arbeit, Vergesellschaftung usw. Arten des Verhaltens unter vielen Arten des Verhaltens.

Die gesellschaftshistorische Polwanderung von menschlicher Identität (Schicksal) zu anthropologischer Differenz (Zufall) ist, so die noch näher zu erläuternde These, heute in einem Umschwung begriffen: Selbst- und fremdreferentielle Menschbestimmungen haben ihr Verhältnis zueinander binarisiert. Und daß heißt: Das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das sonst immer ein Drittes ausschloß, wird nun selbst das Dritte, zum ausgeschlossenen Verhältnis. Aber von was ausgeschlossen? – Genau an dieser Stelle setzt die exzentrische Paradoxie an.[153] An dieser Stelle setzte aber auch technogene Nähe an. Während jedoch erstere nach dem „Ausgeschlossensein von und durch was?“ fragt, stellt sich mit technogener Nähe die Frage nach dem „Eingeschlossen in und durch was?“.

Während exzentrische Paradoxie dafür einstehen würde, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich anwesend abwesend und abwesend abwesend sind – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen außen und im Außen außen sind[154] – das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sozialen; in dem sie schließlich im Essentiellen nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten zu tun haben – und das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns[155],

stünde technogene Nähe dafür ein, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, der ihnen erlaubt, in/mittels der Ferne Nähe herzustellen mit dem gesellschaftlich Unsichtbaren und Abstrakten.

Die Last der Plausibilisierung liegt, wie man spürt, eindeutig auf der Einbergungsthese. Entlastung hätte statt, wenn – um es so groß wie möglich zu sagen – Weltentzauberung sich darlegen ließe als Teil des Weltenzaubers.

 

Eine weitere, grundsätzliche Frage an das Konzept der technogenen Nähe könnte auf den Sachverhalt der Ausgeschlossenheit zu sprechen kommen, indem sie ebendiese Ausgeschlossenheit als Voraussetzung für eine gesellschaftlich „richtig“ positionierte Nähe annimmt. Dieser Fragestellung gemäß wäre es demnach überhaupt nicht wünschenswert, daß sich auf dem Tableau abstrakter Vergesellschaftung eine wie auch immer geartete Nähe einstellt.[156] Diese Fragestellung würde also die Beweislast bziehungsweise die Plausibilisierungsanstrengungen des hier ins Auge Gefaßten ins Maßlose erhöhen. Sie würde davon ausgehen können, daß es gerade die abstrakten Beziehungsverhältnisse in der Gesellschaft moderner Prägung sind, die es ermöglichen, daß Nähe von, zwischen und durch Menschen sich dort einstellt, wo sie konzentriert sein sollte.

Der Literaturwissenschaftler und Filmtheoretiker Herbert Neidhöfer gibt einen Eindruck dieser Fragstellung wieder: „Was aber ist mit der Nähe (der Sloterdijkfragenkomplex)? – Wenn man grob von der Abfolge: physisch notwendige Nähe (Urhorde), kulturell notwendige Nähe (Gemeinschaft) und rituell motivierte Nähe (Königreiche, Nationalstaaten) ausgehen würde, wobei letztere Nähe bereits permanent reproduziert werden muß und nicht ab ovo gesucht wird und eher den Wunsch nach Emanzipation und Auflösung nach sich gezogen hat[157] – könnte man dann nicht sagen, daß die gesellschaftlichen Abstrakta ihr Aufkommen überhaupt nur der Unnahbarkeit verdanken, daß sie die Überwindung der notwendigen Nähe bedeuten, und daß das Konzept Nähe über die interaktive Nähe (Liebe, Freundschaft, Respekt)) hinaus eine Reminiszenz an vormoderne tribale soziale Einheiten darstellt bzw. eine Hochrechnung aus diesen Formationen heraus und auf die Abstrakta angewandt diese auflösen würde? Ist gegenüber der Gesellschaft Nähe überhaupt erstrebenswert und kann das notwendig neu zu definierende Verhältnis zu der Weltgesellschaft nicht ein anderes als das der Nähe sein? – Anders als Sloterdijk würde ich die Abwesenheit von Totalnähe nicht als Verlustgeschichte beschreiben, sondern als die Bedingung für die Möglichkeit, die Nähe auf den Bereich zu konzentrieren, in den sie gehört. Dies geht aber wahrscheinlich nicht ohne ein Ungleichgewicht zwischen innerer und äußerer Realität ab [...].“[158]

Beide Kritikansätze, die hier wieder nur stellvertretend für weitere Formen grundsätzlicher Kritik des Vorhabens namens „technogene Nähe“ stehen, evozieren mit hohen Dringlichkeit eine sehr genaue Einbettung des Konzepts in die historisch-anthropologischen und zivilisationstheoretischen Beschreibungen, die mehr oder weniger modifiziert auf die eben erwähnten Ausgeschlossenheitsbedeutungen zurückgreifen.

Die Beschreibung technogener Nähe muß nachvollziehbar machen, warum und wie historisch-anthropologisch die quantitativ ausdifferenzierte Realität der Entbergung nun in eine Qualität der Einbergung münden kann, und wie damit die Ausgeschlossenheit in der einen Realität (der technotopen Realität) beschreibbar wird als eine Einbergung in einer anderen Realität (der „technogenen Nähe“-Realität).

Und sie muß nachvollziehbar machen, warum das Formenrepertoire der Nähe nicht in der Dimension der Interaktion (Intimität) ihre kongeniale Realitätsebene gefunden hat – also in den Straten, die durch die Evolution der Sinne quasi eine ultrastabile Priorität des Realisiertseins und des Realisierens besitzen –, sondern durchaus „evolutionsfähig“ und damit auch in die Ebenen komplexer soziale Systeme, wie es menschliche Gesellschaften sind, gehören kann – komplexe soziale Systeme, die sich gegenwärtig qua Technologievergesellschaftung gleichsam in einer evolutionsselektiven Phase befinden, so nochmals die diesen Sätzen unterlegte These.

 

Sie muß schließlich die Frage stellbar machen, ob eine der grundlegenden Unterscheidungen menschlichen Daseins, nämlich die in Nähe und Ferne (resp. Engagement und Distanz, öffentlich/polis und privat/oikos, erkannt und unerkannt), eine für die Zukunft sich vollständig gemodelt habende und weiterhin tragende Unterscheidung sein wird, um zu erklären, wie die millionenfache Reproduktion von Psychen und Sozialität funktionieren könnte mittels Arbeit, Sprache, Staat und Gesellschaftlichkeit, die nicht mehr wie bisher anthropologisch unterfüttert sein werden.

Kants Satz: „Es ist merkwürdig, daß wir uns für ein vernünftiges Wesen keine andere schickliche Gestalt, als die eines Menschen denken können“[159] könnte damit an die Grenze der Selbstverständlichkeit gekommen sein; ineins mit dem Auftauchen eines neuen Horizonts, der uns auf die Suche gehen läßt nach Kandidaten, die den „vernünftigen Menschen“ aufgehoben haben werden. Das Riesenproblem hier liegt nicht so sehr in der Suche selbst als vielmehr darin, daß dieses kantianische „wir“ und dieses „uns“, die wir suchen, beinahe vollständige Fiktionen geworden sind, die nicht mehr den Weg suchen in die Gesellschaft als etwas jenseits von Wille und Vorstellung – auch wenn diese Gesellschaft eine imaginäre Institution ist (Cornelius Castoriadis) –, sondern die nur noch den Eingang zu finden suchen in die medientechnisch aufgerüstete Imagination als ‚gesellschaftliche Institution’.

 

D.h.: Profunde Unterschiede zwischen der Analytik und der Ökologie von „Geist“ und „Körper“ (Materie) lassen sich immer schwieriger finden. Und damit auch immer schwieriger ein Wissen darum, was sozial verbunden werden muß, damit eine soziale Verbundenheit Realität werden kann jenseits der Vorstellung – aber inmitten der Herstellung, der Operation, des Ereignisses, die, Anders bleibt hier weiterhin gültig, gleichsam nicht mehr vorstellbar sind. Also: Gesellschaft nach dem Ende der Vorstellung (Jochen Hörisch), Gesellschaft in der Herstellung. Doch nicht als oder im Gestell.

Hans Günter Holl fand im Zusammenhang mit Whiteheads Kosmologie für genau diesen unmöglichen Denkzustand folgende optimistische Sicht: „Die grundlegende und konstitutive Freiheit der konkreten, den wirklichen Prozeß vorantreibenden Ereignisse verbietet ihre Gleichsetzung mit den starren Strukturen der abstrakten Realität. Wer die Realität beschreibt, trifft nicht die Wirklichkeit. Noch die ehernsten Institutionen, Weltbilder und Systeme sterben eines Tages ab und fallen in sich zusammen, wenn der wirkliche Prozeß sie überwindet, einfach hinter sich zurückläßt und zur Bedeutungslosigkeit verdammt.“[160]

Schwierigkeiten und in eins Hoffnungen macht in diesen Sätzen natürlich das, was Holl den „wirklichen Prozeß“ nennt (als Nachfolgebezeichnung für das „Sein“ resp. für das „Werden“). Die neusten, noch sehr uneinordbaren Versuche, diesen wirklichen Prozeß bestimmbar zu machen, können in den Forschungen Hans Peter Webers gefunden werden, unter den Programmtiteln „KreaturDenken“ und „Chaosmische Anthropologie“. Allein: An ihnen ist mit einer schmerzlichen Klarheit der tiefe Sinn eines „Schattenkonturierens im Dunkel“ merkbar; und damit ein Gefühl vergleichbar dem, mit einem Schlauchboot den Ozean zu durchqueren. Vor allem bemerkbar wird dabei die riesige Unkenntnis über „naturwissenschaftliche Sachverhaltsbeschreibungen“ und damit die strukturelle Borniertheit einer Denkweise, die wenig tatsächliche Interdisziplinarität ihr eigen nennt.

Auch um diese grundlegenderen Schwierigkeiten wird es auf den folgenden Seiten zu tun sein: Kann eine technogene Nähe als Modus der sozialen Mit-Geteiltheit Anteil finden an diesem wirklichen Prozeß, wenn vom Raum auf den Horizont umgestellt wird?

 



[1] Siehe: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde, hier: Bd.2, München 1992 (1980), p335.

[2] Siehe: Projekt Menschwerdung. Streifzüge durch die Entwicklungsgeschichte des Menschen, Herne 2000, p167.

[3] Siehe: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 91919, p19.

[4] Siehe: Zeitschrift Paragrana, Heft 1/2004, Praktiken des Performativen, hg. von Erika Fischer-Lichte & Christoph Wulf, p133f.

[5] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p223. Diese Aussage bedarf einiger Einschränkungen.

[6] Siehe Johan Hendrik Jacob van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts. Eine systematische Übersicht der Theorien, 2 Bde, Assen (Niederlande) 1985, vor allem Bd. 1, p158-277.

[7] Dieses „mit Technologie“ ist das, was vor nicht langer Zeit noch aus der Perspektive einer postmodernen Entfremdungskritik beschrieben wurde, z.B.: „Mit den Codier- und Decodiersystemen erfahren wir, daß es Realitäten gibt, die auf neue Weise ungreifbar sind. Die gute alte Materie erreicht uns am Ende als etwas, das in komplizierte Formeln aufgelöst und wiederzusammengesetzt worden ist. Die Wirklichkeit besteht aus Elementen, die von Strukturgesetzen (Matrizes) in nicht mehr menschlichen Raum- und Zeitmaßstäben organisiert wird“; Jean-François Lyotard u.a., Immaterialität und Postmoderne, dt., Berlin 1985, p11.

[8] Die Differenzen des Terms zu anderen Termen, etwa zu ‚Technologische Formation’, ‚Technische Zivilisation’, ‚Technik als Sozialbeziehung’, ‚Technisches Zeitalter’ und dergleichen mehr werden später behandelt. Entscheidend wird sein, technogene Nähe als kulturelles fading und nicht als weitere Erscheinung zivilisatorischer Zucht (forcing) zu plausibilisieren. Von daher verbietet sich jede Rede von ‚kulturellen Sektoren’.

[9] Gemeint ist damit eine Soziologisierung dessen, was bei Whitehead das „kosmologische Ideal“ genannt wird. Siehe hier schon, bezogen auf die subsemantische resp. mantische Kommunikationsoperationalisierung technogener Nähe, weiterführend Reiner Wiehl, Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie, in: Friedrich Rapp & Reiner Wiehl (Hg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Internationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg/ München 1986, p141-167. – Dieser anvisierte kreaturale Imperativ geht konzeptionell weit über das hinaus, was Manfred Faßler mit „intensive Anonymitäten“ zu fassen sucht. Dazu später mehr.

[10] Dieser Satz ist sehr erläuterungsbedürftig. Vorerst nur dies: Behauptet wird nicht eine Art Autopoiesis des (Gemein-)Sinns, sondern eine Art Emergenz soziablen Daseins aufgrund von Technologie-Vergesellschaftung. Technologie heißt hier: Dinge, die gesellschaftliche Wünsche, Bedürfnisse, Begehrnisse und Problemlösungen in hochverdichteter Weise manifestieren, ohne tentativ auf eine weitere symbolische Vermittlung angewiesen zu sein.

[11] Ein Ausdruck von Bin Kimura. Die „Koenästhesie bezeichnete Empfindung meint also im Unterschied zur konkreten Körpersensation auf der realen Ebene einen Sinn für das praktische aktuale Verhalten gegenüber der Welt und den Anderen“ (derselbe, Leben und Tod in der anthropologischen Medizin, in: Rainer-M.E. Jacobi/ Peter C. Claußen/ Peter Wolf (Hg.): Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie. Festschrift für Dieter Janz, Würzburg 2001, p293-303, hier: p295).

[12] Christina von Braun, Altes Wissen in neuem Gerät, in: Zeitschrift Paragrana, Heft 2/2001, Thema: Horizontverschiebung. Umzug ins Offene? (hg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf), p62-80, hier: p67.

[13] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p85f.

[14] Olaf Breidbach, Neue Natürlichkeit?, in: derselbe und Werner Lippert (Hg.): Die Natur der Dinge. Neue Natürlichkeit, Wien, 2000, p6-26, hier: p8. Breidbach versteht (in Frage) anthropogene Technik als Möglichkeit, „die vom Menschen geformte Welt unseres Planeten zumindest in Teilbereichen [..] wieder zurückzukorrigieren“ (ebenda).

[15] Siehe dazu David Kaldeway, Technik als Durchgriff auf die Realität?; Manuskript des Vortrages am 18.05.05 in Berlin (menschen formen AG), p13; Druckfassung mit dem Titel „Die Paradoxie der Realität und ihre Entfaltungen“ aufgelegt in: plateau. Zeitschrift für experimentelle Kulturanthropologie, Heft 2/ 2005, Thema: Technik als soziales Medium, p16-28.

[16] Derselbe, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, dt., FFM 1983, p120.

[17] Eggert Holling, Peter Kempin, Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg zur technologischen Zivilisation, Reinbek 1989, p15.

[18] Friedrich A. Kittler und Georg Christoph Tholen, Vorwort der Herausgeber, in: dieselben (Hg.), Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989, p7-11, hier: p9. Ähnlich, wenngleich in den Konsequenzen ambivalenter, spricht auch Paul Virilio „von einer Technologie, die sich von sozio-ökonomischen und kulturellen Bezügen gelöst hat und es nunmehr darauf anlegt, zur Metapher der Welt zu werden und sich als Revolution des Bewußtseins aufzuspielen. Im Grunde soll damit nur der Pseudo-Zustand rationalen Wachseins durch den künstlichen Zustand paradoxen Wachseins ersetzt werden; man bietet den Menschen eine Unterstützung, die inzwischen subliminal geworden ist, d.h. unterhalb der Bewußtseinsschwelle funktioniert“ (ders., Ästhetik des Verschwindens, dt., Berlin 1980, p47).

[19] Siehe dazu aus literarischer Perspektive Solvej Balle, Nach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen, dt., Berlin 1996.

[20] Analog zum Vorhaben von Habermas, „[d]ie Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie“ zu entfalten; siehe: Derselbe, Erkenntnis und Interesse, FFM 41977, p59-87. Denn es reicht sicher nicht aus, mit der Technologie „technogene Nähe“ eine Neuauflage der Marx’schen Konzeption eines automatischen Emanzipationsprozesses der Menschengattung durch und in der verwissenschaftlichen Produktion (von Sozialität) zu kreieren. Habermas: „Auch in den Grundrissen findet sich schon die offizielle Auffassung, daß die Transformation von Wissenschaft in Maschinerie keineswegs eo ipso die Freisetzung eines selbstbewußten, den Produktionsprozeß beherrschenden Gesamtsubjekts zur Folge hat. Dieser anderen Version zufolge vollzieht sich die Selbstkonstituierung der Gattung nicht nur im Zusammenhang des instrumentellen Handelns von Menschen gegenüber Natur, sondern zugleich in der Dimension von Gewaltverhältnissen, die die Interaktionen der Menschen untereinander festlegen“ (p69).

[21] Siehe dazu weiterhin aussagekräftig Friedrich H. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg/München 1972, z.B. p150ff.

[22] Hans Günter Holl, Stufen der Abstraktion. Affirmative und kritische Elemente in der Kosmologie A.N. Whiteheads, www.drhgholl.de.vu/ (03/2004), o.S.

[23] Diese Frage wurde von mir nur oberflächlich behandelt im Buch Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, Marburg 2003, Kapitel: Technische Existenz/ Generative Exzellenz.

[24] Sein Buch Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion (FFM 1977, besonders p384ff.) wäre als materialistische Vorschrift zu verstehen, mit Technikutopien ob einer erneuten sozio-technischen, „anthropologischen“ Revolution sehr vorsichtig zu sein.

[25] Siehe sein Buch Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (FFM 1969, besonders p48ff.).

[26] Andrew Feenberg, Heidegger und Marcuse: Zerfall und Rettung der Aufklärung, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 14/2002, p39-55. Siehe auch, den Unterschied zwischen produktivem und praktischem Handeln stark machend, Karl-Heinz Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, hg. von Paolo Becchi und Hansgeorg Hoppe, FFM 1994; darin: Technik und Praxis bei Heidegger und Marx, p326-336.

[27] Günter Ropohl, Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung einer allgemeinen Technologie, München/Wien 1979, p12. – Siehe zu weiteren Topoi-Emergenzen (Chiro-, Phono-, Utero-, Thermo-, Eroto-, Ergo-, Aletho-, Thanato- und Nomotop) Peter Sloterdijk, Schäume, Bd.III der Sphärologie, FFM 2004, p364-490.

[28] Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.

[29] Severin Müller, Dimension und Mehrdeutigkeit der Technik. Die Erörterung des Technischen bei Martin Heidegger und in der gegenwärtigen Reflexion, in: Philosophisches Jahrbuch, 2/1983, p277-298, hier: p297. – Zur grundlegenden Umorganisation des Endlich-/Unendlichkeitsgefüges in der abendländischen Denkentwicklung siehe weiterhin Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, dt., FFM 1980 [orig. 1957].

[30] Zum Verhältnis von Raum, technogener Nähe und Sphäre wird es im Hauptteil noch erhebliche Probleme der Passung geben. Genannt seien jetzt nur die Autoren Max Jammer, Peter Sloterdijk (zum Teil kontrainduktiv) und Michael Hauskeller, mit deren impliziter Hilfe die Verhältnisprobleme erörtert werden sollen.

[31] Ernst Blochs Formulierung, siehe: derselbe, Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde, FFM 1959, p814.

[32] Wolfgang Kaempfer, Der stehende Sturm. Zur Dynamik gesellschaftlicher Selbstauflösung (1600-2000), Berlin 2005, p21f.

[33] Derselbe, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p26.

[34] Lothar Hacks, Vor Vollendung der Tatsachen. Die Rolle der Wissenschaft und Technologie in der dritten Phase der Industriellen Revolution, FFM 1988, p237.

[35] Die meines Erachtens überzeugende Vorstellung einer anderen Technik von Otto Ullrich (ders., Technik und Herrschaft, a.a.O., p384-465) bleibt hier in den Bereichen der Soziologie (nicht der Philosophie) Hauptreferenz.

[36] An dieser Eigenschaft des Gesellschaftsbegriffs, ‚strukturell’ offen zu sein, um seinem ‚Gegenstand’ zu genügen, halte ich fest.

[37] So der Titel eines Aufsatzes von Peter Menke-Glückert (in: Merkur, Heft 1+2/ 1968, p126-140) zu einer Zeit, als die kapitalistische Globalisierung wohl zum ersten Mal nachhaltig dazu führte, daß sich „Europa“ auf allen Ebenen nur noch als defizitär betrachten konnte („Bildungskatastrophe“, Demokratiedefizit etc.).

[38] Siehe zu dieser Unterscheidung Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, p27.

[39] Konventionell als Wut, Angst, Trauer und Freude zusammengefaßt (Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur. Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen, Opladen 1991, p32ff.).

[40] Derselbe, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p14.

[41] Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, FFM 1980; Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962; Wolfgang Hogrebe, Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996; Alexander Kluge, Die Chronik der Gefühle, 2 Bde, FFM 2000; Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, dt., Düsseldorf/ Wien 1968 (orig. 1964); Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, FFM 1997; Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/New York 1996; Peter Sloterdijk, Sphären, Bd.1: Blasen; Bd.2: Globen, Bd.3: Schäume, FFM 1998ff.; Hans Peter Weber, KreaturDenken, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2001 (fortlaufend); Christof Helberger, Marxismus als Methode. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Methode der marxistischen politischen Ökonomie, FFM 1974.

[42] Dieter Claessens, Das Abstrakte und das Konkrete. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, FFM 1993 (1980), p159.

[43] Verf., Soziologische Marginalien 3, Marburg 2000, p181-188.

[44] Dieter Claessens, Das Abstrakte und das Konkrete, a.a.O., p17. Siehe auch Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Derselbe, Werkausgabe in 2 Bänden, hg. v. Anna Freud u. Ilse Grubich-Simitis, FFM 1978, Bd.2, p367-424 (siehe auch: GW, Bd.9, FFM 1974, p197-270), wenn er von der „Unzulänglichkeit der Einrichtungen“ spricht, „welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln“ (p383).

[45] Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, Bd.79 der GA, hg. von P. Jaeger, FFM 1994.

[46] Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., Vortrag: Das Ding, p5-23, hier: p22f.

[47] Verlag Günther Neske, Pfullingen. Im weiteren die Zitierquelle.

[48] Heidegger, Die Technik und die Kehre, a.a.O., p38.

[49] Ebenda, p39.

[50] Eine vollständige Gegenposition sei hier schon skizzenhaft erwähnt, nämlich die von Humberto Maturana: „Ich bin der Meinung, daß die Aufgaben des täglichen Lebens die grundlegenden Aktivitäten unserer menschlichen Existenz sind, weil alle technischen Aktivitäten, wie verfeinert sie auch immer erscheinen mögen, nur Ausdehnungen der Aufgaben des täglichen Lebens sind und faktisch als alltägliche Aufgaben gelebt werden. So ist z.B. die Biologie eine Ausdehnung des sich um die Tiere und Pflanzen des Haushalts Kümmerns, Chemie ist eine Ausdehnung des Kochens, Physik eine Ausdehnung des Hausbaus, und Philosophie eine Ausdehnung der Aufgabe, die Fragen von Kindern zu beantworten [...]“; Humberto R. Maturana, Biologie der Realität, dt., FFM 1998, p10f. Eine ähnliche Mikro/ Makro-Struktur entwickelt Peter Sloterdijk mit seiner „allgemeinen Theorie der autogenen Gefäße“; Sloterdijk startet seine Sphärologie (Blasen; Globen; Schäume, FFM 1998ff.) von einer grundlegenden Überzeugung aus: daß nämlich alle Großprojekte wie die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt und die Mediasphäre auf die Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit zielen; mithin also keine unabgeleitete Begriffs- und Sachverhaltsdignität besitzen.

[51] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Bd.3 der WA, FFM 1970, p82-107.

[52] Diese Art wissenschaftsinterner Kritik hat eine lange Tradition. Einer der vielleicht wichtigsten Vertreter dieser Tradition ist Francis Bacon; siehe etwa sein Buch „Neues Organ der Wissenschaften“, dt., (orig. 1620), übersetzt und herausgegeben von Anton Theobald Brück (1830), Darmstadt 1990 (unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1830), p22: „Es bleibt nur noch Ein Weg zur Rückkehr offen: nämlich die ganze Arbeit des Geistes von vorn wieder anzufangen, denselben von Anfang an durchaus nicht sich selbst zu überlassen, sondern ihn stets zu leiten und die Sache wie durch Maschinen zu bewerkstelligen.“

[53] Untertitel: Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996. Seitenzahlen folgender Zitate werden im Text genannt.

[54] Humberto R. Maturana, Was ist Erkennen?, dt., München 1994, p41.

[55] „Im Turingschen Sinne müßte es darum gehen, daß unsere Reaktionen auf den Computer nutzbar gemacht werden, daß er mit uns einen Turing-Test durchführen darf, um unsere Intelligenz festzustellen. [...] Das wäre dann nicht mehr die auf sich selbst zurückgeworfene Interaktivität, sondern es wäre eine sich fortsetzende Interreaktivität“; so Mathias Mertens, Die Maschine, die es gut mit Ihnen meint, in: Freitag, 03/2004 (Internetausgabe, Abruf: 01.01.04).

[56] Denken kann man hier auch an Vilém Flussers Begriff der Gestimmtheit (derselbe, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/ Bensheim 1991, p7-21).

[57] Wolfgang Kaempfer, Der stehende Sturm. Zur Dynamik gesellschaftlicher Selbstauflösung (1600-2000), a.a.O., (Abschnitt „Korrespondenz“, p234f.).

[58] Auf die Riskantheit dieses „Am Bewußtsein vorbei“ hat mich dankenswerter Weise Otto Ullrich hingewiesen; und darauf, exakt dafür eine neue Kritikform jenseits der Psychoanalyse miterarbeiten zu müssen. Bis dahin steht das Konzept der technogenen Nähe weiterhin unter Verdacht, quasi-paternalistisch die fieberhafte Unruhe der Einzelwesen (Empedokles) tilgen zu wollen, unter dem Deckmantel einer soziologisch gerahmten Pazifizierungsanstrengung.

[59] Siehe zur ähnlichen Fragestellung, bezogen auf das Verhältnis von diskursiv und ästhetisch orientierter Erlebensverarbeitung: Verf., Thesen zur möglichen Inkommensurabilität von diskursiver Rationalität und performativ-ästhetisch grundierter Auseinandersetzung mit gedanklichen Abstraktionen, in: derselbe, Soziologische Marginalien 2, Marburg 2000, p116-123.

[60] Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990; Wolfgang Krohn & Günter Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, FFM 1989.

[61] Damit wird nicht „für den Ausstieg aus unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur“ plädiert, wie es 1992 Godela Unseld mit ihrem Buch Maschinenintelligenz oder Menschenphantasie? (FFM) sehr treffend tat. Vielmehr soll versucht werden, Wissenschaft und Technik danach zu befragen, inwieweit sie nun endlich Kultur werden können, und zwar Kultur, die Resonanzen entwickeln kann für die Generativität der Physis und für die Gerechtigkeit des Nomos. Kritisch dazu jedoch Otto Ullrich: „Was ist hier mit Wissenschaft und Technik gemeint? Warum wird nicht unterschieden (beschreibende Wissenschaft, manipulierende Wissenschaft, mathematisch-experimentelle Wissenschaft, verwissenschaftlichte Technik, handwerkliche Technik...)? Vermutlich ist die herrschende mathematisch-experimentelle Naturwissenschaft gemeint und die verwissenschaftlichte Technik. Warum sollten sie zur Kultur werden, wo sie doch beide schon im Ansatz eine Fehlentwicklung sind, die kein annehmbares Entfaltungspotential haben? [..] Wäre es überhaupt sinnvoll, daß Wissenschaft und Technik zu Kultur werden, auch wenn sie mitweltverträgliche wären? Würde dadurch nicht verschüttet werden, daß Technik und Wissenschaft Mittel und Verfahren sind? Die zweckvergessene und mittelzentrierte kapitalistische Industrie-Kultur würde so zum kulturellen Naturzustand. [...]“; schriftliche Notiz, 2003.

[62] Siehe zur Unterscheidung Wirk- und Merkwelt Jürgen von Stenglin, Denken der Wirklichkeit. Eine sprachlich und kognitiv fundierte Theorie der Erkenntnis, Würzburg 1990, p67ff.

[63] Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, p43.

[64] Hierzu Hans Peter Weber: „Um einigermaßen griffige Daseinsanalyse in pragmatischer Absicht, d.h. unter Herausforderung von Daseinskultivierung zu schaffen, muß man ‚von sehr weit herkommen’, –  von > vor Homer <. Darin folgen wir Mallarmé, der konstatierte, ‚dass die Poesie, seit der »großen Abirrung Homers« den Weg verloren habe. Als man ihn fragte, was vor Homer war, antwortete er: Orpheus’ [Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, Hamburg 1968, 2., erw. Aufl., S. 139 (zit. nach: H. Mondor, Vie de Mallarmé, Paris 1951, S. 638)]. Und: man muß zudem auf etwas Zukunfts-beschlossenes – und somit schwach Attraktivierendes zugehen, auf die ‚komplex’/ perplex wiederkehrende Kultur, auf den posthistorischen, auf den Zweiten Kulturzustand auf Erden“; Hans Peter Weber, Pixel; unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2005, o.S.

[65] Kluge, Chronik der Gefühle, Bd.II: Lebensläufe, FFM 2000, p7. Ausführliches dazu auch in: derselbe, Verdeckte Ermittlung, a.a.O., p44f.

[66] Dieselben, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge für das Unterscheidungsvermögen, FFM 1992.

[67] Negt/ Kluge, Maßverhältnisse des..., a.a.O., p22f.

[68] Negt/ Kluge, Maßverhältnisse des..., a.a.O., p46f. Siehe zu Ähnlichkeiten mit der Alfred Sohn-Rethelschen Positionierung der Taylorschen Zeitökonomie als Formprinzip, das im gleichen Maße für den Sozialismus wie für den Faschismus vorbereiten kann: derselbe, Technische Intelligenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in: Richard Vahrenkamp (Hg.), Technologie und Kapital, FFM 1973, p26; zitiert nach: Otto Ullrich, Technik und Herrschaft, a.a.O., p425.

[69]Die Verwandlung des Menschen in Rohstoff hat wohl [...] in Auschwitz begonnen. [...] denn nicht Menschen wurden getötet, sondern Leichname hergestellt [...]“ (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p22).

[70] Wolfgang Hagen, Zur medialen Genealogie der Elektrizität, in: Rudolf Maresch & Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, FFM 1999, p133-173, hier: p148.

[71] Dieselbe, E-Motion – Was bewegt uns an den Medien? Über fiktive Welten, virtuelle Kontakte und die Realität der Gefühle, veröffentlicht auf: Parapluie (I-Zeitschrift; www.parapluie.de/archiv/cyberkultur/emotion); 15.10.02.

[72] Fritz J. Raddatz sah übrigens diese behauptete Denkentwertung durch McLuhans Buch selbst ausgeführt; siehe seine frühe, vernichtende Rezension in: Merkur, Heft 4/1967, p386-391 (Vom Elfenbeinturm zum Kontrollturm. Zu den Theorien Marshall McLuhans).

[73] Es geht bei dieser Modelung, so Virilio kritisch (Ästhetik des Verschwindens, a.a.O., p48f.), um das Erlebnis von Dauer ohne Ereignisse, um die Erzielung einer massenhaften sensorischen Wirkung, um das Zusammenschließen der verschiedenen Sinneswahrnehmungen, um die Transparentmachung des Bewußtseins, schließlich um die Adressierung von abstrakten Vorstellungen von abstrakten Einheiten menschlicher Organisation.

[74] Dieselbe, Technik und Körper, Berlin 1990, p6f.: „Und mit dem Verschwinden der Materie, selbst der des technischen Körpers, aus der Bestimmung und Funktionslogik der Maschine – dem Computer – kann auch der Körper aus dem Selbstverständnis des Menschen verschwinden.“

[75] Exemplarisch dieser Satz: „Im gegenwärtigen Zeitalter der Elektrizität erleben wir, wie wir immer mehr in die Form der Information verwandelt werden und einer technischen Erweiterung des Bewußtseins entgegengehen“ (McLuhan, Die magischen Kanäle, a.a.O., p68).

[76] Das ist der Grund, warum McLuhans Vorstellungen ergänzt werden müssen durch die Beschäftigung mit Vilém Flussers Buch Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998.

[77] Richtig müßte es heißen: R*Evolution, eine Schreibweise Hans Peter Webers, die das spezifische Moment der sprunghaften Umbrechung von Entwicklung für die menschlichen Gesellschaften stärker betont.

[78] Peter Fuchs, Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien, FFM 1995, p26f.

[79] Fuchs, Die Umschrift, a.a.O., p27.

[80] Siehe ausführlicher dazu Verf., Invasive Introspektion. Fragen an Niklas Luhmanns Systemtheorie, München 1999, p147-154.

[81] Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/ New York 1996, p144f.

[82] Ebenda, p144. Mühlmann geht allerdings nicht soweit, den Wettbewerb – verstanden als Grundlage des zu zivilisierenden Stressors – als Quelle des Falschen auszumachen.

[83] Ebenda, p146.

[84] Ebenda.

[85] „Die Geschichte als Geschichte soziokultureller Lebensformen beginnt in der Ontogenese“, sagte Günter Dux (Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, FFM 1982, p66). – Jetzt, so die These, könnten oder müßten die soziokulturellen Lebensformen selber eine ontogenetische Evoluierung einschlagen, nämlich u.a. mittels technogener Nähe.

[86] Derselbe, Sphären, Bd. III: Schäume, FFM 2004, p57. Siehe vor allem p261ff.

[87] Man könnte auch von einem Mißlingen der „Kreation einer neuen Mater“ sprechen, vom Scheitern des Versuchs, „Mater-ie“ zu bilden, die Ich ist. Siehe Astrid Meyer-Schuberts Beschäftigung mit der Schellingschen Frühphilosophie (Mutterschoßsehnsucht und Geburtsverweigerung. Zu Schellings früher Philosophie und dem frühromantischen Salondenken, Wien 1992, p83).

[88] Sloterdijk, Schäume, a.a.O., p411.

[89] Peter Sloterdijk, Sphären, Bd. II: Globen, FFM 1999, p1003f.

[90] Sloterdijk, Sphären, Bd. III: Schäume, a.a.O., p60. In den drauffolgenden Sätzen wird deutlich, daß Sloterdijk systematisch operative Geschlossenheit mit systemischer Abgeschlossenheit verwechselt, um seinen neo-monadologischen Ansatz mit Plausibilität zu versorgen.

[91] „Selbst der heruntergekommene Ausdruck Solidarität, an den die elanlose Linke unserer Tage ihre Seele hängt (und der aktuell so etwas wie Tele-Sentimentalität bedeutet), kann nur noch [...]“; Peter Sloterdijk, Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. III: Schäume, FFM 2004, p14.

[92] Ebenda, p357-500.

[93] Eine Auswahl wesentlicher Texte Webers: KreaturDenken, unveröffentlicht, Berlin 2001ff. (fortlaufende Arbeit); Wie spät ist es? [plus Appendix und Glossar], in: menschen formen (Hg.), menschen formen, Marburg 2000, p10-59; Survival Research. Abschreibsysteme um 1980/2000, in: Bernd Ternes u.a. (Hg.), Einfache Lösungen, Marburg 2000, p258-286; Media ana Riten. Maske und Modell, Marburg 2002; Plateau LOS:T || Caramusie der FARGOnauten. Vom Glück der Grazie, in: Bernd Ternes & RG-Verein (Hg.), Das rigorose Glück, Marburg 2002, p429-443; Nach Kunst die Synth-Flut, in: menschen formen (Hg.), Ver-Schiede der Kultur, Marburg 2002, p228-269.

[94] Diese modernisierte romantische Perspektive auf das Verhältnis Welt, Natur und Mensch hat den Sinn, das forcing der Zivilisation, man könnte auch sagen: den Vorgang, daß der Natur das Vorrecht des Schöpfertums entrissen worden ist (so Oswald Spengler in seinem unsäglichen ‚Mensch-ist-Raubtier’-Buch „Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, p35), wieder rückzubinden an „Natur“ in der höchst vermittelten Gestalt: der programmatischen/ chromatischen Gestalt.

[95] Hans Peter Weber, Lektion – Lecon, unveröffentlichtes Papier, Berlin 2002.

[96] Die nach meinem Dafürhalten kongenialen Fortsetzer dieser Form „Marxismus als Kritik“ (ohne Arbeiterbewegungs-Standpunkt) sind Robert Kurz (Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991) und Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, dt., Berlin 1996).

[97] Christof Helberger, Marxismus als Methode. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Methode der marxistischen politischen Ökonomie, FFM 1974, p26.

[98] Ob man noch auf die Methode der allmählich abnehmenden Abstraktion für dieserart Analyse zurückgreifen kann, scheint zweifelhaft (siehe Helberger, Marxismus..., a.a.O., p185ff.).

[99] Die Frage der Darstellung von Erkenntnis, hier also: die Benutzung der alphabetischen Schrift, öffnet gleichsam Vakanzen (vielleicht kommt man technogener Nähe nur mit Musik, mit Film etc. auf die Spur?), die jedoch ignoriert werden.

[100] „Die Welt ist so groß, so undurchsichtig und so unübersehbar geworden, daß sie Modelle nötig macht, daß ihre Bilder den Primat vor ihr selbst haben: denn die Sinnlichkeit unserer Augen ist der Welt nicht mehr gewachsen“, so Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p251.

[101] Wenn hier vom Dunkel, von Schatten und Konturen die Rede ist, dann deswegen, um zum Ausdruck zu bringen, daß selbst die unterste Erkenntnis in Gestalt sichtbarer Schatten in Platons Höhlengleichnis (aufsteigend zur Sicht der Dinge und der Ideen) als nicht mehr erreichbar angesehen wird.

[102] „Ohnehin ist die Gesellschaft kein möglicher Gegenstand moralischer Betrachtungen [...], denn die Gesellschaft als das umfassende System aller Kommunikation ist weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, daß etwas so bezeichnet werden kann.“ Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 (Laudatio von Robert Spaemann), FFM 1990, p7-48, hier: p39. Zudem gilt aber auch: „Man kann nicht eine soziologische Gesellschaftstheorie an die Stelle setzen, die eine Ethik einzunehmen hätte“ (p37).

[103] „Profite machen mit WLAN-Sozialismus“, Spiegel online, www.spiegel.de/ netzwelt/netzkultur/0,1518,434591,00.html (Abruf: 03.09.2006).

[104] Siehe etwa: Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, p187-211 („Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie“). – Siehe gleichsam die eher gesellschaftsbegriffsaversiven Vorstellungen der Soziologen Simmel, Tönnies und Weber.

[105] Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, dt., Berlin 2003, p79 (dort kursiv gesetzt). Ähnliche Überlegungen auch bei Verf., Exzentrische Paradoxie, a.a.O.

[106] Claus Offe, Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie), in: Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21- Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, FFM/New York 1983, p38-65.

[107] Klassisch: Emile Durkheim, The Division of Labor in Society, engl. Übers., New York 1960 (orig. 1893).

[108] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p137.

[109] Sigrid Weigel, Genealogie. Zu Ikonographie und Rhetorik einer epistemologischen Figur in der Geschichte von Kultur- und Naturwissenschaft, in: Helmar Schramm u.a. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, p226-267.

[110] Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Bd.6 der GA, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, FFM 1989 (1900; Ausgabe bezieht sich auf die 2., vermehrte Aufl. 1907), p11.

[111] „Die Behauptung des historischen Materialismus, der alle Formen und Inhalte der Kultur aus den Verhältnissen der Wirtschaft aufwachsen läßt, ergänze ich durch den Nachweis, daß die ökonomischen Wertungen und Bewegungen ihrerseits der Ausdruck tiefergelegener Strömungen des individuellen und des gesellschaftlichen Geistes sind“, so Simmel in der Selbstanzeige seines Buches 1901 (Simmel, a.a.O., p719).

[112] Siehe aus einer wissenssoziologischen Perspektive, die nicht den Kapitalismus im Blick hat, Norbert Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, dt., hg. u. übers. v. Michael Schröter, FFM 1983, p7-71 (Aufsatz gleichen Titels).

[113] Gewiß ist diese Sicht eine etwas antiquierte, so man davon ausgeht, daß gegenwärtig Menschen/ Länder mehr darunter leiden, nicht ausgebeutet zu werden, als ausgebeutet zu werden.

[114] Jean-François Lyotard, Ob man ohne Körper denken kann, dt., in: Hans Ulrich Gumbrecht & K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, FFM 1988, p813-829. Siehe hierzu auch die profunde Studie von Marie-Anne Berr, Technik und Körper, a.a.O.

[115] Siehe etwa bezogen auf das Organ Haut Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek 1999, p265-279 („Teletaktilität“).

[116] Agamben, Die kommende Gemeinschaft, dt., Berlin 2003, p48f. Virilio besteht darauf, daß es tatsächlich der Körper und seine Sinne waren, die technisiert wurden (ders., Ästhetik des Verschwindens, a.a.O., p105).

[117] Nicht zu denken, nicht zu empfinden, nicht zu unterscheiden, sondern im „reinen Ausgesetztsein“ sich zu halten: Diese Funktionen der Zerstreuung, die heutzutage hegemonial technischer Vermittlungsart sind, aber nicht mit ihnen verschmelzen, finden sich auch in vielen ekstatischen Riten und Zeremonien rezenter Kulturen wieder.

[118] Siehe dazu Stefan Beck (Hg.), Technogene Nähe. Ethnographische Studien zur Mediennutzung im Alltag, Münster 2000; Manfred Faßler & Stefan Weber, Cyberpoiesis. Forschungsdesiderate zu Theorie und Empirie der Netzmedialität, veröffentlicht auf: www.cyberpoiesis.net/d_5ba_text1a.html (Oktober 2002): „Der vorliegende Forschungsansatz reflektiert die [..] Ergebnisse unter der doppelten Frage nach einer genaueren Beobachtung der Prozesse technogener Nähe und einer Neugestaltung der Mensch-Computer-Interaktivität im Sinne der erhöhten Entscheidungs- und Partizipationsfreiheiten sowie des dichten Zusammenhanges von Unterbrechung, Identität und Kreativität.“ Die dritte Quelle, Michael Overs Buch „Technogene Nähe. Skizze zu annehmbaren Formen und Maßverhältnissen des Außersichseins“, Berlin/ Geesthacht 2005, möchte ich hier nicht behandeln; Overs hervorragende Arbeit geht von einer grundlegenden Distanzierungserweiterung aus, während ich eine Erweiterung der Näheherstellungskapazität verfolge. Siehe zu einer ausführlicheren Behandlung mein Nachwort in: ebenda, p157-160.

[119] Faßler & Weber, a.a.O., o.S.

[120] Stefan Beck, media.practices@culture, in: derselbe (Hg.), Technogene Nähe, a.a.O., p9-17, hier: p14f.

[121] Meines Erachtens ist die Konzeption technologisch generalisierter Kommunikation als Weiterführung der symbolisch generalisierten Kommunikation anzusehen. – Die hier versuchte Erörterung technogener Nähe stellt jedoch den Anspruch, schon jenseits der „symbolischen Welt“ Nähe- und Kommunikationsbeziehungen orten zu können („mantische Beziehungen generativer Exzellenz“).

[122] Ein etwas längerer erster Hinweis zum Wort „Gestalt“: Wenn technogene Nähe als Gestalt beschrieben wird, dann fungiert diese Gestalt nicht als ein Pendant zur Ungestaltetheit oder zur Unsichtbarkeit, sondern vielmehr als Gestalt der Unsichtbarkeit. Wolfgang Hagen beschreibt sehr prägnant, wie es zum Oppositionsverhältnis kam, das bis heute noch intakt ist: „Als künstlich-irdische Quelle [..] erzeugt Elektromagnetismus das Gegenteil dessen, was erst die Jahrhundertwende [19./20. Jahrh.; B.T.] ebenfalls zum weitreichenden Thema gemacht hat, nämlich: Gestalt. Gestalt mußte offenbar zum kunsttheoretisch wirksamen Leitbegriff werden in dem Augenblick, wo menschheitsgeschichtlich erstmals etwas wahrhaft Gestaltloses reproduzierbar war.“ Derselbe, Zur medialen Genealogie der Elektrizität, in: Rudolf Maresch & Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, FFM 1999, p133-173, hier: p157.

[123] Siehe hierzu den Vergleich zwischen der Logik der Prozession und der Logik des Netzes, den Bruno Latour anstellt (ders., Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, dt., Berlin 1996, p276).

[124] Siehe dazu Maria Talarouga & Herbert Neidhöfer, Das Glück ist asozial, in: Verf. & RG-Verein (Hg.), Das rigorose Glück. Erste Annäherung, Marburg 2002, p85-110.

[125] Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte u. überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimiät der Neuzeit“, erster und zweiter Teil, FFM 1974, p69.

[126] Damit an Whiteheads Metaphysik der Kreativität anschließen wollend. Siehe etwa Reiner Wiehl, Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie, in: Friedrich Rapp & Reiner Wiehl (Hg.): Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Intern. Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg/München 1986, p141-167.

[127] Siehe, auf Kunst bezogen, zu dieser Unterscheidung mit/durch Hans Ulrich Reck, Mythos Medienkunst, Köln 2002.

[128] Verweilen beim und im Negativen: das war noch die ungeheure Arbeit Hegels. Das Abstrakte hier wäre nun aber kein Negatives mehr.

[129] „Der Organismus – für sich betrachtet nichts anderes als der isolierte Pol eines ‚sinnlosen’ subjektiven Prozesses – wird zum Selbst, indem er sich mit den anderen an das Unternehmen der Konstruktion eines ‚objektiven’ und moralischen Universums von Sinn macht. Dabei transzendiert er seine biologische Natur. Es deckt sich mit einer elementaren Bedeutungsschicht des Religionsbegriffs, wenn man das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus ein religiöses Phänomen nennt“ (Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, FFM 1991, p85f.).

[130] Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, a.a.O., p84f.

[131] Der endgültig entfesselte Prometheus rufe nämlich nach „einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden“; Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, FFM 1984, p7. – Der technogenen Nähe geht es nicht um einen Zivilisationsbegriff, sondern um einen Technikkulturbegriff, der sich nicht in Gänze den Zügen der Zivilisationierung unterordnen läßt.

[132] Siehe seinen Aufsatz „Technik und Wissenschaft als Hierophanie“, in: derselbe, Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, p157-172.

[133] Breuer, Technik und..., a.a.O., p158 (beide Zitate).

[134] Bei Mircea Eliade (Mythos und Wirklichkeit, dt., FFM, 1988, p15f.) wird dieser Einbruch durch die Mythen dargestellt wie auch evoziert: „Die Mythen offenbaren also ihre schöpferische Tätigkeit und enthüllen die Heiligkeit (oder einfach die ‚Übernatürlichkeit’) ihrer Werke. Kurz, die Mythen beschreiben die verschiedenen und zuweilen dramatischen Einbrüche des Heiligen (oder des ‚Übernatürlichen’) in die Welt. Und dieser Einbruch des Heiligen gründet wirklich die Welt und macht sie so, wie sie heute ist.“

[135]  Breuer, Technik und..., a.a.O., p171f.

[136] Pierre Lévy, Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, dt., Mannheim 1997, vor allem p39-134. Eine eingehende Beschäftigung mit Lévys Anthropologie passiert zu einem späteren Zeitpunkt.

[137] Pierre Lévy, Die kollektive.., a.a.O., p9.

[138] Lévy, Die kollektive..., a.a.O., p149.

[139] Auch wenn Lévy behauptet, daß sein Wissensbegriff nicht mit dem Gegenstand der Kognitionswissenschaft verwechselt werden dürfe (a.a.O., p150f.), ist seine Episteme doch verankert in der Maturana’schen Kognition-Episteme.

[140] Lévy, a.a.O., p154.

[141] Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, dt., FFM 1982 (orig. 1948). In der editorischen Notiz von Henning Ritter wird Giedion mit folgenden Sätzen zitiert: „In ‚Mechanization Takes Command’ [der Originaltitel des Buches; B.T. ...] war ich nicht an der Entwicklung der Technik interessiert. Ich wollte wissen, was geschah, wenn die industrielle Produktion von der intimsten Sphäre des Menschen Besitz ergriff [...]“ (p817). Wie kommt man von dieser Sichtweise weg und hin zu einer Position, die besagt, daß eine hochtechnologische Produktion von Nähe nun in den Besitz der Menschen kommen könnte?

[142] Siehe hierzu den literarische und realgesellschaftliche Daten verarbeitenden Text von Niels Werber, Die Zukunft der Weltgesellschaft. Über die Verteilung von Exklusion und Inklusion im Zeitalter globaler Medien, in: Rudolf Maresch & Derselbe (Hg.), Kommunikation...., a.a.O., p414-444.

[143] Giedion, Die Herrschaft..., a.a.O., p775. Dieser Aufgabe sieht sich wohl auch Bruno Latour verpflichtet, indem er den Nachweis zu führen sucht, daß in Wissenschaften und Techniken „der höchste Grad an Vermischung zwischen Objekten und Subjekten, ihre tiefste Intimität“ zu beobachten sei (ders., Der Berliner Schlüssel, a.a.O., p8).

[144] Günther Anders, Die Antiquiertheit des..., a.a.O., Bd.2, p9.

[145] Anders, a.a.O., p337 + p341.

[146] „Daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse heute eines seien und man deshalb die Gesellschaft umstandslos von den Produktivkräften her konstruieren könne, ist die aktuelle Gestalt gesellschaftlich notwendigen Scheins. Gesellschaftlich notwendig ist er, weil tatsächlich früher voneinander getrennte Momente des gesellschaftlichen Prozesses, die lebenden Menschen inbegriffen, auf eine Art Generalnenner gebracht werden. Materielle Produktion, Verteilung, Konsum werden gemeinsam verwaltet. Ihre Grenzen [..] verfließen. Alles ist Eins. Die Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit.“ Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag (1968), in: derselbe, Soziologische Schriften I, Bd.8 der GS, hg. von Rolf Tiedemann, FFM 1997, p354-370, hier: p368f.

[147] Ullrich kommt daher auf folgende Fragen, auf Marcuse aufbauend: „Welche Strukturelemente bringt die kapitalistische Logik in die Technik ein, die nicht primär technisch sind und mit dem Verschwinden des Kapitalismus auch aus der Technik verschwinden würden? Welche Strukturelemente einer technologischen Rationalität wirken kapitalhomolog, werden aber nicht erkannt und mit der Technik in eine nichtkapitalistische Gesellschaft übernommen? Könnte so eine nichterkannte kapitalhomologe Struktur durch die ‚neutrale’ Technik in nichtkapitalistische Gesellschaften eindringen?“; Ullrich, Technik und Herrschaft, a.a.O., p49. Ullrich geht noch weiter in seiner Kritik, wenn er dem Konzept der technogenen Nähe unterstellt, daß es die „Fehlentwicklungen der europäischen Moderne verbrämt zu einer angeblich höheren Stufe der gesellschaftlichen Evolution“ (Ullrich, schriftl. Kommentar, Berlin 2004). Es wird Mühe bereiten, diese Kritik zu entkräften.

[148] Dieselben, Dialektik der Aufklärung, FFM 1969, p213.

[149] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, dt., Neuwied/Berlin 1967 (orig. 1964); vor allem aber Triebstruktur und Gesellschaft, FFM 1967.

[150] Hans Peter Weber, Wie spät ist es?, in: menschen formen (Hg.), menschen formen, a.a.O., p10.

[151] Besonders deutlich wird dies gegenwärtig an den Front- und Allianzbildungen rund ums Thema Anthropotechniken. Viele Kritiker vertreten hier einen lebenskonservativen Standpunkt alleine deswegen, weil sie nicht auf der Seite derjenigen stehen wollen, die in einer möglichen weiteren Emanzipation der Menschen von Natur etwa durch Einsatz pränataler Genomveränderungen vordringlich nur einen weiteren Markt sehen, der Gewinne verspricht. Siehe zum Teilbereich der Genomanalyse die glänzende, sich für eindeutige Kritik entschieden habende diskurstheoretische Studie von Andreas Lösch, Genomprojekt und Moderne. Soziologische Analysen des bioethischen Diskurses, FFM/ New York 2001.

[152] Beide Sätze sind die Überschriften der Abschnitte V und VI des fünften Buches seines Werkes „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791), Neuausgabe Bodenheim 1995, p143 + p146.

[153] Verf., Exzentrische Paradoxie, a.a.O., Expositionskapitel.

[154] Das meint etwas anderes als die Fassung von Deleuze und Guattari, das Außen als nicht-äußeres Außen und das Innen als nicht-inneres Innen zu denken; es meint allerdings nur, es denkt noch nicht. Siehe Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, dt., FFM 1996, z.B. p69.

[155] Es handelt sich bei dieser Markierung nicht um eine Paraphrase der Immanation, wie sie Gilles Deleuze entwirft; diese Immanation ist nach meinem Empfinden noch zu stark mit dem Gegenbegriff, Emanation, verklammert. Siehe Gilles Deleuze: Die Immanenz: ein Leben, dt., in: Friedrich Balke & Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien der Philosophie, München 1996, p29-33. Und auch nicht ist hier auf Bataille zu setzen (Georges Bataille, Die innere Erfahrung (nebst Methode der Meditation und Postskriptum 1953), dt., München 1999, p43), wenn er sagt: „Das Sonderbarste: sich nicht mehr als alles wollen, ist das höchste Bestreben des Menschen, ist, Mensch sein wollen (oder, wenn man will, den Menschen überwinden – das sein, was er frei von dem Bedürfnis wäre, nach dem Vollkommenen zu schielen, indem er das Gegenteil täte“). Das Gegenteil: wo und was wäre es innerhalb exzentrisch paradoxen Daseins?

[156] Dieser Fragerichtung ist das Buch von Michael Over gewidmet (derselbe, Technogene Nähe, a.a.O.).

[157] Denn: Der Staat gründet sich nicht positiv auf den sozialen Tonos, er ist auch nicht die diesbezügliche Repräsentation; vielmehr präsentiert Staat die permanente Angst vor dem Zerfall und der Auflösung der Ordnung.

[158] Herbert Neidhöfer, text. Beginn Montag, den 24. Dezember 2001, unveröffentlichter laufender Text, Geesthacht 2001ff., p102f.

[159] Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe, Bd. XII (mit Gesamtregister), hg. von Wilhelm Weischedel, FFM 81991, darin: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, p395-690, hier: p472. Siehe zu Kants Anthropologie auch Verf., Anthropologie als archäologisch-kybernetische Inventur. Eine Bemerkung zu Kants Anthropologie als Dokument einer Anthropologie nach dem Tode des Menschen, in: Paragrana, Heft 2/2002, p227-249.

[160] Hans Günter Holl, Stufen der Abstraktion, a.a.O., o.S.