Bernd Ternes
Auszug des ersten Teilbandes Technogene Nähe (2007)
„Da wir von Wegen
unabhängig wären, da alles ‚da’ wäre, würde es keine Distanzen geben: also
wären wir raumlos. Da wir auf Tun, Machen oder Warten nicht angewiesen
wären, da alles im ‚Nu’ geschähe, würde es keinen Verzug geben; also wären wir zeitlos“
Günther Anders[1]
„Wie kann ein Lebewesen,
das beinahe die gesamte Zeit seiner Entwicklungsgeschichte in kleinen
überschaubaren Einheiten gelebt hat und maximal einige hundert Personen sozial
wahrnehmen kann, in der Massengesellschaft von sechs Milliarden Menschen leben,
ohne dabei Schaden zu nehmen?“
Gerd-Christian Weniger[2]
„Während der
Einfühlungsdrang ein glückliches pantheistisches Vertraulichkeitsverhältnis
zwischen dem Menschen und den Außenwelterscheinungen zur Bedingung hat, ist der
Abstraktionsdrang die Folge einer großen inneren Beunruhigung des Menschen
durch die Erscheinungen der Außenwelt [...]“
Wilhelm Worringer[3]
Die folgenden Seiten versuchen darzulegen,
daß Anders’ ‚da’ und ‚Nu’ nicht unausweichlich Raum- und Zeitlosigkeit des Menschen
bedeuten müssen. Sie versuchen, bestimmte Vorstellungen von Raum- und
Zeitlosigkeit – als Effekte einer Entzeitlichung, Enttotalisierung
und Entnaturalisierung von Wirklichkeit (Hans Ulrich Gumbrecht) – zu verstehen
und in ihnen neue Vorstellungen von bisher unvorgestellten Formen von Räumlichkeit
und Zeitlichkeit zu skizzieren, die lebendige Abwesenheit möglich machen
könnten. Sie versuchen auf Wenigers Frage eine Antwort
zu finden, die über den Horizont reiner Schadensverhinderung hinausgehen soll;
die also eine Alternative zur uns bekannten sozialen Wahrnehmung bedenkbar machen möchte. Und sie versuchen schließlich, Worringers starken Hiatus zwischen Einfühlung und
Abstraktion dergestalt zu entkräften, daß eine Einfühlung in die beunruhigenden
abstrakten Außenwelterscheinungen, daß also eine Art von „neuem Innen“ im
„Außen“ historisch-anthropologisch denkbar wird – und dies ohne Rekurs auf das
Wechselspiel von Inkorporationen und Exkorporationen, das als Spiel dem
Abwesenden im Nahraum unseres Handelns eine Raum-Zeit-Stelle zuweist.[4] Denn
die folgenden Ausführungen nehmen die Behauptung Anders’ auf und versuchen sie
weiterzutreiben, daß Individuen heute auch da sein können und Adressen
besitzen, wo sie räumlich nicht sind: „Während bis vor kurzem die Raumstelle
das principium inviduationis
des Menschen gewesen war und damit eine pragmatische Rolle gespielt hatte, das
heißt: während man früher dort unwirksam war, wo man nicht war, und
‚Sein’ stets bedeutet hatte, ‚an einer bestimmten Stelle sein’, kann man jetzt
eben an mehreren Stellen, virtuell überall zugleich sein.“[5] Diese
bis jetzt weitgehend intime und private, durch Kommunikationsmedien der letzten
100 Jahre zunehmend den massenhaft vereinzelt Einzelnen ansprechende Fähigkeit
gilt es ‚abzuklopfen’ ob ihres Vergesellschaftungspotentials mit Blick auf die
Vorstellung, daß ein erweitertes Prinzip gesellschaftlicher Synthesis (nach dem
der Arbeit) realisierbar ist, das sich als vom Interaktionswesen Mensch auf
eine noch unbekannte Weise emanzipiert erweisen könnte.
Die folgenden Ausführungen näheren sich „der
Technik“ nicht systematisch etwa im Sinne van der Pots[6],
sondern sehr spezifisch sozialphilosophisch, technikanthropologisch – und wohl
auch voluntaristisch. Sie wollen dazu einem
Fragenkomplex nachgehen, nämlich:
Kann das im Zuge der Evolution des Vermögens
zur Distanzierung nicht mitevoluierte Vermögen von
Menschen, eine Nähe, eine Verbindung, eine Motivation zu großformatigen,
abstrakten Gebilden herzustellen, nun, mit der rigider werdenden Technologisierung
der Existenz, überhaupt zum ersten Mal angesprochen werden, so daß erst jetzt,
mit Beginn und im Laufe des 21. Jahrhunderts, ein Sprung im prometheischen
Gefälle passieren könnte und es möglich wird, daß Menschen mittels, in
und durch Technologie zu ‚kommunizieren’ vermögen mit gesellschaftlichen
Abstrakta, und zwar emotional, motivational, vielleicht sogar mantisch? Daß Menschen vielleicht zu kommunizieren
vermögen mit Technologie?[7]
Und, unwahrscheinlichster Fall: Daß Menschen zu kommunizieren vermögen mit
Gesellschaft? In nuce: Daß sich etwas einstellen könnte, das man als technogene Nähe[8]
auszeichnen kann, verstanden als eine evolutionär sehr spät sich realisierende
Fähigkeit von sozialen Systemen, Raumnäheverhältnisse emotional und
motivational zugänglich zu machen für Verhältnisse, die durch Raumferne,
Näheferne, also durch Raumentfernungen und reelle Abstraktionen gekennzeichnet
sind?; also so etwas wie eine technologisch induzierte Realisation der
Möglichkeit eines noch zu erläuternden „kreaturalen“ Imperativs[9] (und
nicht eines moralischen!), eines den von uns, den Menschen, kreierten
inhärenten Regeln und Gesetzen des lebendigen künstlichen Entstehens
verpflichteten Imperativs, der nicht mehr transzendental und kognitiv, sondern
immanent und kommunikativ, vielleicht gar physis-generativ
(Hans Peter Weber) gemodelt ist? – Es geht also, um das Spekulative der Fragen
auf die Spitze und zu einem Ende zu treiben, darum, in einer technogenen Nähe
die Daseinsfunktion des sensus communis,
des common sense, des koiné aisthésis zu
rekonstruieren; und dies so, daß nicht mehr ebendieser Gemeinsinn auf den
Menschen rückbezogen wird als der Sinn, der den fünf menschlichen Sinnen
grundlegend gemeinsam unterliegt, sondern als Sinn, der sich qua technologischer
und technogener Vergesellschaftung nun dem sozialen
Leben, also der Sozialität als solcher, zu unterlegen beginnt[10] –
und vermutlich die theoretische wie reell empirische Spannung zwischen „Individuum“
und „Gesellschaft“ in eine andere Polarität umleitet, in die zwischen Kultur
und Technik. Dieser hier angedeutete Sinnbegriff bedarf nun einer besonderen
Erlebens- und Erkenntnisform, einer „koenästhetischen“[11]
resp. einer mantischen Form, die, so die These der Arbeit,
mit den neuen elektronischen Techniken und den neuen Kulturtechniken der
Kommunikation möglicherweise mitausgebildet werden könnte. Der gesellschaftliche
Zustand, von dem Christina von Braun in den folgenden Sätzen auszugehen
scheint, wird in den hier verfolgten Sichtweise als noch nicht eingetretener
Zustand aufgefaßt, aber als Zustand, der mit und durch technogene(r)
Nähe erreicht werden soll. Die Autorin schreibt: „Der moderne Gemeinschaftssinn
ist das Produkt der Kommunikationsgesellschaft, ihrer Strukturen und
Vernetzungen. Das Kommunikationssystem ist gleichsam an die Stelle der Wurzeln
getreten, die Descartes mit der Metaphysik und Diderot mit dem sichtbaren Gott,
der Philosophie und den Naturwissenschaften gleichsetzte. Aus einem Netz von
Vorschriften, die vorher, im religiösen Kontext oder im absolutistischen Staat,
über die Gefühle und das Denken bestimmten, ist ein technisches Netzwerk
hervorgegangen, das den Gemeinschaftssinn bewirkt.“[12]
Technogene Nähe wäre Effekt eines „technischen Netzwerks“, das den
Gemeinschaftssinn nicht mehr nur bewirkte, sondern mitkonstituierte – und dies
ohne Inkaufnahme einer permanent zu verarbeitenden „Schizotopie“
durch den Zwang zur räumlichen Doppelexistenz in realen und medialen Räumen.[13]
Mit diesen aufgespreizten Fragen und
Behauptungen wird jetzt schon eine enorme Vakanz der Denkrichtung merkbar: Denn
wie soll all dies möglich sein können ohne eklatante Veränderung der
anthropologischen Verfaßtheit (nicht: der genetischen Verfaßtheit) des
Menschen? Wie soll das technische Gestell eine Form des „Innen“ werden können,
wenn der Mensch sich nicht auch in seiner Eigenschaft als Lebewesen, das, wie
meist beschrieben, aus der Schöpfung gefallen ist, grundlegend zu ändern hat?
Kurzum: Wie soll der – hier behauptete notwendige und elementare – ‚Sprung’ von
einer anthropogenen Technik[14] zu
einer technogenen Anthropologie vonstatten gehen bei gleichzeitiger völliger
Unklarheit über die Dimension der Transformation des Humanums?
Wie soll die moderne Technik gedacht werden, wenn sie nicht mehr in ihrer
Funktion gedacht werden soll, die darin besteht, die Sichtbarwerdung des Absurden
zu verhindern?[15]
Und, mehr noch: Wie soll eine durch technogene Nähe ermöglichte Pazifizierung
der gesellschaftlichen Beziehungen zwischen Menschen und Gesellschaft sich
einstellen, ohne auf den zivilisationstypischen Weg der Erhöhung von Distanz
bei gleichzeitiger Verminderung/ „Verlichtung“ von Nähe zu geraten, sondern vielmehr
von diesem abzuweichen, um einen anderen Weg zu finden, dessen Richtung es ist,
Näheformen zu favorisieren, die sich gleichsam durch die Fortsetzung der Arbeit
an der Emanzipation-von-Natur einstellen könnten? Die
Brisanz dieses Ansatzes wird deutlicher, wenn man Norbert Elias zu Wort kommen
läßt:
„Auf der Ebene des menschlichen
Zusammenlebens, auf der sozialen Ebene, bleibt das Maß der Distanzierung im
Denken und Handeln weit hinter dem zurück, das wir auf der physikalischen und
biologischen Ebene erreicht haben. Auf den sozialen Ebenen läuft die
Kreisbewegung, in der eine relativ hohe Affektivität des Denkens und Handelns
in Reaktion auf unkontrollierbare Gefahren, die von Menschengruppen ausgehen,
erhalten bleibt und vice versa, weiterhin auf hohen Touren; ihr Niveau ist dem
von vorwissenschaftlichen Beziehungen der Menschen zur nichtmenschlichen Natur
in früheren Tagen vergleichbar.“[16] –
Wie soll es nun vor sich gehen, nicht in der Erhöhung der Distanz, sondern in
der Erhöhung von Nähe, die zugleich keine Affektivität mehr ist, eine
„kontrollierte Lebenswelt“ für Menschen, d.h. eine weniger gewaltsame, für möglich
zu halten, verbunden mit einer zentralen Technisierung des sozialen Lebens?
Diese schwerwiegenden und der Antwort
harrenden Fragen basieren zudem auf einer grundlegenden Unterscheidung von
Kultur- und Zivilisationstechnik, von kulturtechnischem fading
(Hans Peter Weber, Hans Ulrich Reck) und zivilisatorischem forcing
(Marshall McLuhan, Friedrich A. Kittler). Für die
forcierende Seite einer technologischen Zivilisation haben Eggert Holling und Peter Kempin am
Begriff des peripheren Individuums eine treffende Diagnose gestellt:
„Durch die Übernahme gesellschaftlicher
Integrationsleistungen durch die Maschine werden die entsprechenden sozialen
Fähigkeiten der Individuen ‚moralisch verschlissen’. Sie sind noch vorhanden,
werden aber gesellschaftlich unwichtiger, müssen sich zunehmend im Privaten
betätigen. Auch die gesellschaftlich definierte Identität des einzelnen umfaßt
zunehmend weniger die gesamte Person. Identität muß ebenfalls immer mehr im Privaten
gefunden werden.“[17]
Für die forcierende Seite, die auf
solcherart Diagnose affirmativ im Sinne einer notwenigen Dekonstruktion des
„Subjekts“ aufbaut, ist Kommunikation immer schon Kommunikationstechnologie,
die in fortgeschrittener Entwicklung Erhebliches zur Konsequenz hat: „Grammophonie und Telephonie, Photographie und Radiophonie
stehen dafür ein, daß ‚Menschenfassungen’ (Seitter)
heute Programmierungen durch Medien sind.“[18]
Für die Seite einer technologischen Kultur
käme es nun im Begriff der technogenen Nähe darauf an, die Entpersonalisierung,
Privatisierung und Desozialisierung, also die ‚Antiquierung’ des menschlichen Individuums in der
warenproduzierenden kapitalisierten Marktwirtschaftsgesellschaft als
intermediäre Gestalten historisch spezifischer Gesellschaftsvermittlung zu
denken; also als eine Vermittlungweise (in Anlehnung
zur Produktionsweise), die, gegenwärtig im Zustand des Kippens, nicht klar
erkennbar macht, ob und wieweit technologische Integration es mit menschlicher
Sozialität als Organisation (im Sinne Maturanas) zu
tun hat oder nicht; und nicht klar erkennbar macht, ob und wie das de facto-
und das de jure-Individuum in Zukunft rekonstruiert
werden kann – denn es ist unklar geworden, ob „das Individuum“ wirklich
Gattungswesen werden kann, wie es die marxistische Philosophie insinuierte.
Einer Theorie technologischer Kultur, also
des ‚cultural engineerings’,
muß es um den Nachweis gehen, daß die Realisierung von Technik als soziale
Beziehung funktioniert – und zwar so funktioniert, daß die maßgebenden Ordnungsleistungen
in menschlichen Gesellschaften nicht mehr maßgebend aus der symbolischen/
sprachlichen und moralischen Ordnung abgezogen werden müssen (man könnte auch
übertreibend sagen: Nach dem Gesetz; ein Zustand, den wir uns heute nur
katastrophal denken können)[19]. Zudem
muß sie Klarheit darüber zum Ausdruck bringen, ob sie als Gesellschaftstheorie entwerfbar ist oder nicht[20] –
und zwar entwerfbar jenseits einer soziologisch
verstandenen, d.h. eingeschränkt modernistisch verstandenen Gesellschaft; und sie
muß nachvollziehbar machen, wie sie an die Programme sozialer und normativer Planung
angeschlossen werden kann, ohne die Einsichten in die Begrenztheit, die
Inversion und die Kontraproduktivität der Implementierung bestimmter
Zweck-Mittel-Schemata sowie normativer Hypothesen zu ignorieren.[21] Die
fast unlösbare Aufgabe besteht also darin, nicht nur, wie Hans Günter Holl sagt, „dem Abstrakten in seiner konkreten
Erscheinungsweise [...] noch seine Abstraktheit anzusehen“[22],
sondern auch darin, diese Abstraktheit als motivational und technisch-sozial
anschließbare Realität zu denken, die eine neue, eine andere Konkretheit soziablen/ sozialen
Daseins emergiert, die nicht mehr der ‚Ästhetik der
Existenz’ subordiniert ist. – Bis dahin sind allerdings noch alle Fragen offen.
Sollten zudem die Fragen auch nur in Teilen
zur Antwort haben, daß dem so sein könnte, daß also erst mit einer bestimmten
„Dichte“ an Technologisierung der sozialen Beziehung (in Richtung: Emanzipation
der psychosozialen Reproduktion der Menschen von menschlicher Anwesenheit)
schlechthin ein zutiefst untechnologisches Vermögen, nämlich die motivationale
Näheherstellung zu genuin abstrakten Gebilden und Gestalten, die Bühne der
geschichtlichen Modelung von sozio-anthropologisch Evoluiertem betritt:
dann stellt sich eine zweite, etwas
kompliziertere Frage, nämlich: Gehörte dieses eintretende Vermögen „ontisch“ zu
einer technischen Existenz der Menschen, oder hörte es schon „kreatural“ einer ‚postmenschlichen Generativität’ von Physis an?[23] Wird
eine neue Dimension des Sozialen integriert in den Anthropo-Kosmos
(mit den bekannten ökologischen, psychischen und sozialen Kosten), oder wird
der Anthropo-Kosmos in einer neuen Dimension integriert
in den Kosmos der Physis?
Wäre ersteres der Fall, könnte an die
kritische Vernunftkritik angeschlossen werden (etwa, in aller Diversität:
Theodor W. Adorno, Gebrüder Böhme, Dietmar Kamper,
Günther Anders, vor allem aber Otto Ullrich[24] und,
mit einem anderen Anschnitt, Jürgen Habermas[25]);
wäre zweiteres der Fall, dann stünde das „System“ der
Kritik als die Totalität des Systems betreffende vor seiner Auflösung,
zumindest jedoch vor seiner Regionalisierung. Wie eine Reformulierung
„der Technik“ aussieht, die auf der Grenze zwischen dem ersten und dem zweiten
Modell bleibt, hat Andrew Feenberg epigrammatisch
demonstriert, dabei allerdings im Rahmen einer ambivalenzaversiven
Aufklärung bleibend.[26] Der
weiter unten im Text auszuführende Sachverhalt, Marxismus als Methode der Beschreibung
einzusetzen, um der Technik theoretisch zu begegnen, versteht sich
dementsprechend als Versuch, bestimmte Merkmale des Marxismus stark zu machen
für einen (zukünftigen?) Kapitalismus, der, so die Vermutung, nicht mehr viel
mit der Geschichte der Bürgerlichkeit und der Industrie zu tun haben wird –
wohl aber mit der „verkehrten“ Verteilung von Gegenstands- und Gesellschaftskonstitution
und damit von Geschichts- und Verkehrszeit.
Ob dieses Präparieren am Marxismus als
Methode der Erkenntnis gelingt, bleibt abzuwarten, gerade eingedenk der überzeugenden
Behauptung, daß der (Arbeiterbewegungs-)Marxismus gleichsam eine genuin
bürgerliche Erscheinung und nur noch historistisch
von Interesse ist.
Auszugehen ist im folgenden auch davon, daß
die strukturell gewaltsamen und gewalttätigen Transformationen
kapitalistisch-technischer Revolution zur Annahme berechtigen, daß der Biotop
zu einem Technotop geworden ist[27]; daß
es also möglich ist, „daß eine Technologie auf Grund einer falschen Theorie
konstruiert wird und trotzdem funktioniert. [...] Es geht bei Technik, anders
gesagt, [..] um kombinatorische Gewinne. Daß es funktioniert, wenn es
funktioniert, ist auch hier der einzige Anhaltspunkt dafür, daß die Realität soetwas toleriert. Wir kehren, mit anderen Worten, die übliche
Annahme um: Nicht die Technik wird isomorph zur Natur konstruiert, sondern die
Natur in dem jeweils relevanten Kombinationsraum isomorph zu dem, was man
technisch ausprobieren kann.“[28]
Kurzum: Wenn Severin Müller mit Recht feststellt, daß bestimmte Teile der
Technik unter Endlichkeitsbedingungen auf die Umorganisation des
Endlichkeitsgefüges der Realität zielen[29] –
Effekte des Entbergens dies –, so könnte man die mit etwas weniger Recht
ausgestattete Grundthese verfolgen, daß Technik unter Entfernungsbedingungen
auch auf die Umorganisation des Nähe/Ferne-Gefüges innerhalb des sozioanthropologischen Kosmos zielt – und dies verstanden
als Effekte eines Einbergens.
Diese Einbergung, von der im Hauptteil die
Rede sein wird, soll als sowohl zuspitzende wie auch als womöglich transgredierende Fortentwicklung der Einwohnung (Oikeiôsis) aufgefaßt werden: Steht der antike Begriff
Einwohnung für die Wandlung des Menschen vom biologischen Lebewesen zum
moralischen Vernunftwesen und also ein für einen langandauernden Prozeß des Sich-Einrichtens und Sich-Einräumens
in dieses „neue“ Daseinsform, die von Seiten der Philosophie als das dem
Menschen Eigenste gedeutet wurde, so stünde die hier versuchte Fassung einer
Einbergung ein für den Wandlungsprozeß des Menschen hin zu einem kreaturalen
Wesen, dessen Oikos nun der ZeitRaum[30]
(nicht Ort!) technogener Nähe sein könnte. Pointiert:
Der ZeitRaum, in dem sich Menschen einrichten in die
Verkörperungen der Nachrichten.
Diese optimistischen Vorstellungen einer
einbergenden Technik sollen in einer nicht-naiven Weise entfaltet werden, d.h.:
sie wissen, so die weiterhin zutreffende Metapher, daß unsere bisherige Technik
in der Natur steht wie eine Besatzungsarmee in Feindesland[31].
Sie, die optimistischen Vorstellungen, ruhen auf einer technikhistorischen Einschätzung,
wie sie Wolfgang Kaempfer folgendermaßen pointiert
zur Sprache bringt: „Eines der mörderischsten Jahrhunderte der
Menschheitsgeschichte ist zu Ende gegangen. Erstmals hatte sich der Utopismus
des siebzehnten bis neunzehnten Jahrhunderts auf eine technisch-technologische
Basis stellen lassen, die die totale Mobilmachung aller
menschlichen und materiellen Reserven garantieren konnte. Eine bis heute nicht
abgerissene Folge von Exzessen war die Konsequenz“[32] –
Günther Anders spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Stadium des
postzivilisatorischen Kannibalismus alias „Industrielle Revolution“.[33]
Und sie ruhen, will man Technikkritik in
kleinerer Münze formulieren, auf der Einschätzung Lothar Hacks’,
wonach die normative Kraft des Faktischen sich nur dadurch brechen läßt, „wenn
sich die Wissenschaft der Mühe unterzieht, konkret und detailliert nachzuweisen,
in welchem Maße und in welcher Form sehr spezifische Interessen sich in
den Mystifikationen technischer und technologischer Artefakte zu verbergen suchen.“[34]
Dennoch: Unterstellt wird auf den folgenden Seiten, daß eine ‚andere“, nicht
mehr ausschließlich wie bisher der Wertverwertung und den Kriegsphantasmen
unterstellte Technik durchaus möglich ist, die in ihrer wohl weiterhin
zerstörerischen Entbindungskraft und -macht soziomorphische
Vermögen für neue Nähe- und Verantwortungsmodi freizusetzen vermag, die den
Menschen zumindest weniger materielle, symbolische und physische Gewalt antun,
als es zur Zeit der Fall ist![35]
Gesucht werden also Hinweise, die Technik
ausweisen können als einbergende Kraft, die einen neuen Horizont innerhalb der sozioanthropologischen Verfaßtheit der Menschen anzeigen
könnte: einen Horizont der Nähe, der kultivierbaren Ekstase (und nicht
der Exzesse), der über die bisher gesellschaftsgeschichtlich maßgebenden
Horizonte der Interaktion und der Gemeinschaft hinausgeht – und damit in etwas
hinein, das seit bald 200 Jahren soziologisch mit dem Wort Gesellschaft
benannt, aber gleichsam weiterhin nicht verstanden wurde und auch wird.[36]
Etwas geo-philosophischer, geo-politischer und theoriegeschichtlicher gesagt:
Gesucht werden Bedingungen zur Ermöglichung
des Fragens nach einer Technologisierung und Modernisierung bestimmter Einsichten
des „Deutschen Idealismus“ (und nicht des Futurismus!), nachdem „Europas
technologische Lücke“[37] sowohl
geschlossen als auch zugedeckt wurde. Es geht, negativ formuliert, darum, die Unterscheidung
von Freund und Feind als Bezeichnung des äußersten Intensitätsgrades einer
Verbindung oder Trennung, einer Assoziation oder Dissoziation so weit wie möglich
zu marginalisieren[38] –
und trotzdem nicht abzulassen von der Notwendigkeit intensiver sozialer
Beziehungen, die es nun technologisch-technogen, aber
nicht mehr ideologisch zu formatieren gilt.
Technogene Nähe soll also nach diesen
wenigen Hinweisen folgendes bedeuten: Eine spezifisch auszumachende Weise der
Teilhabe und des Teilseins an und mit Gesellschaft, die einen bestimmbaren
Anteil ihrer realisierten/ ermöglichten/ imaginierten Intensität sozialer
Bezogenheit abzieht für die technisch hegemoniale Vermittlung selbst; und zwar
so, daß keine einfache Attraktion resp. Affektion
(Film, Fernsehen: intensive Visualisierung ersetzt die unmögliche Berührung/
Begegnung), sondern eine motivationale Detektion der
psychosozialen Verfaßtheit zu passieren vermag. Technogene Nähe meint eine Form
von Zugehörigkeit, die sich nicht auf die Beziehung zwischen Menschen bezieht,
sondern auf die Form der Bezogenheit selbst – etwas, das bisher nur dem
Freud’schen Unbewußten zugestanden wird. Sie ist damit keine neue Form von
Nähe; vielmehr eine Weise des Beziehens, die elementare „anthropologische“
Merkmale resp. ‚Primär-Emotionen’[39] wie
zum Beispiel Abwesenheitsschmerz, Sehnsucht, (repetitives
und verführtes) Begehren, Verantwortungsabwesenheit durch Distanz aussetzt,
modelt und aufhebt, und die gleichsam neue Bezüglichkeitsformen jetzt
erst anzusprechen und zu bespielen vermag; so zumindest die Hoffnung.
Jetzt soll heißen: Eine Phase
der Gesellschaftsentwicklung, in der die generalisierten Kommunikationsmedien
wie auch die Formen der Vermittlung von Synthesis, Dynamis und Praxis in eine
selektive Phase der Evolution eintreten. Technogene Nähe soll eine Inklusion
anzeigen, die nicht mehr über den Umweg einer Gruppe, einer Gemeinschaft, einer
Gesellschaft, eines generalisierten Anderen doch wieder nur eine bestimmte
Person, bestimmte Personen, bestimmte Kulturen, bestimmte Rollen sozial
adressiert, sondern die direkt die Organisationsweise und -form selbst
anspricht. Technogene Nähe soll im Momente, in dem sich die „Diskrepanz der Kapazität
unserer verschiedenen Vermögen“, so Anders[40], klafftertief öffnet, Ausschau halten nach Hinweisen des
Entstehens eines Vermögens, das Menschen einsetzt in ein und befähigt zu einem
Leben in Künstlichkeit und Ferne – etwas, das gegenwärtig zumeist noch mit
Begrifflichkeiten wie Entfremdung, Verdinglichung, Anonymität, Einsamkeit,
Vertrauensverlust beschrieben wird.
Für den Gedanken der technogenen Nähe ist
entscheidend, nicht zurückzugreifen auf kompensatorische Strategien, die
unterstellen, daß „der Mensch“ den hochabstrakten Gesellschaften nicht gewachsen
ist und er folglich in der Familie, in der Gemeinschaft, in der
Übersichtlichkeit erst zuhause sein kann. Indes: Erst eine jetzt in Ahnung
mögliche Erweiterung dessen, was Technologie des Sozialen bedeuten könnte, läßt
den Gedanken zu, daß sich Entfremdung, soziale Distanz und Anonymität bloß als
erste Erscheinungsweisen orten lassen für ein Leben des Menschen in Abstraktion
und Unpersönlichkeit. Auch hier, jetzt ganz konform der marxistischen Dialektik,
könnte man die erste Sozialisationsphase namens Markt als Initiation in ein
Leben der unpersönlichen Beziehungen beschreiben, die den „Boden bereitet“ hat
für eine „zweite Aneignung“ der freigesetzten Realitäten, und die es nun
„aufzuheben“ gilt.
Das sind also die ersten, hier sehr
erläuterungsbedürftig formulierten Fragen und Thesen der folgenden Einführungs-
und Skizzensätze. In einer ersten Runde werden die Autoren Dieter Claessens, Martin Heidegger, Wolfgang Hogrebe,
Alexander Kluge, Marshall McLuhan, Niklas Luhmann, Heiner Mühlmann, Peter
Sloterdijk und Hans Peter Weber sowie der Sachverhalt „Marxismus als Methode“
(Christof Helberger) aufgesucht, um die gestellten
Fragen aufzuklären.[41] Im
darauffolgenden Kapitel sollen dann erste Kritik- und Fragezuschneidungen
probiert werden.
An Claessens
interessiert der von ihm aufgemachte missing link
zwischen der Kulturtechnik Distanzierung und der Leerstelle ‚Näherung’ des
Menschen; an Heidegger seine Visionen einer Technik als Gestell; an Hogrebe seine Erkundungen von Erkennensweisen im
poetisch-philosophisch-literarischen Feld, die eher mantisch-sphärischer
Art sind denn kognitiv und durch Zeichennutzung induziert; an Kluge seine
Erkundungen der Macht der Gefühle jenseits ihrer je gegenwärtigen Adressabilität; an McLuhan das Ausbuchstabieren einer durch
„magische Kanäle“ veränderten menschlichen Gesellschaft; an Luhmann sein Insistieren
auf der Unmöglichkeit von Kommunikation zwischen ‚Individuum’ und Gesellschaft;
an Mühlmann die Erkundung einer Natur der Kultur, die kulturell zu werden hat;
an Sloterdijk die Erforschung von motivational-mantisch
sich einstellenden Beziehungen zu/in Räumen bzw. Sphären und der Nachweis einer
Unmöglichkeit ebensolcher Beziehungen in großformatigen „Containern“; und an
Weber seine Ausarbeitung einer Theorie der Physis,
die den Formen der Einbergung Kontur zu geben versucht; sowie am Sachverhalt
„Marxismus als Methode“ die Frage nach der Möglichkeit einer marxistischen Beschreibung
der politischen Ökonomie nach dem vermutlichen Ende negativer Dialektik.
Wie kann man dies alles zusammenbringen,
ohne Haufen zu produzieren? Wie kann eine Art Gewebe entsteht, mit dessen Hilfe
man erste Konturen einer anderen Dosierung des Verhältnisses von Evolution und
Geschichte menschlicher Gesellschaften ausmachen könnte? – Diese Fragen sind
noch offen.
Versucht man, im Rahmen des Lebens nach dem
Menschen zu fragen, besteht weiterhin die Möglichkeit, dem Moment nachzugehen,
„wann und wo sich das Abstrakte abhebt und ab wann weiteres vermenschlichtes
Tun nicht mehr möglich ist, ohne die Aufnahme einer Beziehung zu einer
abstrakteren und insofern höheren Ebene als der direkten oder indirekt konkret-sinnlichen.“[42]
Das tat Claessens.
Ginge man nicht vom Rahmen des Lebens aus, um nach „dem“ Menschen zu fragen,
sondern vom Rahmen der Technologie, dann wäre es plausibel, die Unterscheidung
abstrakt/ konkret nur noch für Differenzierung innerhalb des Abstrakten
aufzumachen, nicht mehr aber für konkret-sinnliche Daseinsgestalten; man könnte
oder müßte dann zwischen konkreter und abstrakter Virtualität unterscheiden[43]. –
Wie kann man diese beiden Ausgangsweisen zusammenbringen?
Zuerst einmal wäre die Annahme sinnvoll, daß
die gesellschaftshistorisch notwendig gewordene ‚Aufnahme einer Beziehung zu
einer abstrakteren und insofern höheren Ebene als der direkten oder indirekt
konkret-sinnlichen’ ineins Technik (ganz allgemein
verstanden als wiederholbare Weise der Nichtunmittelbarkeit) mitdenkt, mehr
noch: Wenn Claessens behauptet: „Es ist die These,
daß neben der Hauptfähigkeit zur
Distanzierung von der ‚alten Natur’ das Hauptdefizit des Menschen seine evolutionär bedingte Unfähigkeit ist,
zum Organisieren großer Populationen und den sich dabei unvermeidlich
ergebenden Komplikationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar motivierendes Verhältnis zu finden“[44],
dann sieht man eine keineswegs problematische Beziehung zwischen der
Hauptfähigkeit des Menschen zur Distanzierung und der Technologie seiner
Daseinsdimensionen, egal, ob die Fähigkeit als Effekt der Technologisierung
oder die Technologisierung als Effekt des „Wesens“ dieser menschlichen
Fähigkeit gedeutet wird.
Problematisch und im weiteren Fortgang von Interesse
ist aber ein anderes Verhältnis, nämlich das Verhältnis zwischen der gegenwärtigen
Technologisierung und dem Hauptdefizit des Menschen, zum Organisieren großer
Populationen ein direktes emotionales, d.h. unmittelbar
motivierendes Verhältnis zu finden. Ist es denkbar, daß Technik jetzt nicht
mehr nur die Distanzfähigkeit bedient, erweitert, gestaltet, ausdrückt, sondern
beginnt, Kapazität zu werden für die Bildung einer motivierenden Näherung und
Nähehaltung der Menschen zu abstrakten Gebilden? Das ist die Frage an die
Technik, und zwar bewußt an die Technik, nachdem zumindest vorläufig die
Kandidaten namens Vernunft und Sprache als Kapazitäten für ebendiese Bildung
einer motivierenden Annäherung diskreditiert worden sind/ sich diskreditiert
haben. Durch was kann also rationale Motiviertheit ergänzt werden? Und wie?
Unter den Titeln Das Ding, Das Gestell,
Die Gefahr und Die Kehre hielt Heidegger 1949 in Bremen Vorträge,
die mehr oder weniger konzentriert sich der Frage nach der Technik widmeten.[45] Im
Vortrag Das Ding erklärt Heidegger sehr kryptisch dies: „Die Dinge sind vergangen, weggegangen – wohin?
Was an ihre Stelle – gestellt? Die Dinge sind als lange vergangene und
gleichwohl sind sie noch nie als Dinge gewesen. Als Dinge – ihr
Dingwesen ist noch niemals eigens ans Licht gelangt und verwahrt worden.“[46]
– Heidegger macht also am Ding und am Begriff ‚Ding’ ein Defizit aus, das er
historisch situiert. Es geht um das Dingwesen der Dinge, das sich noch nicht
habe zeigen können in den Prozeduren der Lichtung.
Was er hier am
Dingwesen beschreibt, beschreibt Heidegger auch am Technikwesen. Zwei
der oben genannten Vorträge wurden in teilweise erweiterter Fassung unter dem
Titel Die Technik und die Kehre 1962 veröffentlicht.[47]
Darin wird eine sehr mächtige „Noch nicht“-Situation
beschrieben, die die Technik mit den Menschen verbindet. Heidegger: „Wenn das
Wesen der Technik, das Gestell als die Gefahr im Sein, das Sein selbst ist,
dann läßt sich die Technik niemals durch ein bloß auf sich gestelltes
menschliches Tun meistern, weder positiv noch negativ. Die Technik, deren Wesen
das Sein selbst ist, läßt sich durch den Menschen niemals überwinden.“[48]
Gleichsam ist das Menschenwesen nötig, um das Wesen der Technik zu stellen und
(die Gefahr) zu entstellen. Heidegger: „Zur Verwindung des Wesens der Technik
wird allerdings der Mensch gebraucht. Aber der Mensch wird hier in seinem dieser
Verwindung entsprechenden Wesen gebraucht. Demgemäß muß das Wesen des Menschen
erst dem Wesen der Technik sich öffnen, was ereignishaft
etwas ganz anderes ist als der Vorgang, daß die Menschen die Technik und ihre
Mittel bejahen und fördern.“[49]
Was in diesen Sätzen, die später
ausführlicher erörtert werden, zum Ausdruck kommt, ist die Offenheit des
Gedankens, daß dasjenige Menschenwesen, das nun endlich der Verwindung
der Gefahr (als dem Wesen der Technik) entspricht, durchaus nichts mehr mit demjenigen
Menschen zu tun haben muß, der Technik bejaht und fördert. Mehr noch: Daß das Sich-dem-Wesen-der-Technik-Öffnen soziologisch gesehen durchaus
nichts mehr mit dem Menschen zu tun haben muß, sondern ein Vorgang, ein Ver-Hältnis (Heidegger) sein kann, das innerhalb des
Gestells passiert. Und das heißt zumindest soviel wie: außerhalb des
anthropologischen Humanums.[50]
Das also ist nun die Frage: Inwieweit eine
(im Heidegger’schen Sinne) avancierte Technik es schaffen könnte, das „Wesen“
des Menschen tatsächlich von der Anthropologie zu entkoppeln, eben weil klar
ist, daß es keinen Begriff, kein Wesen des Menschen gibt, das im Daseinsbereich
des Anthropo-Kosmos ausfindig gemacht werden kann.
Dieses Textinstrument betrifft sowohl das in
Rede Stehende dieser Arbeit wie auch die Rede der Arbeit selbst; es betrifft
sowohl die Frage nach dem „Gegenstand“ dieser Arbeit als auch das Fragen als
„Gegenstand“; es betrifft also sowohl das „Erkenntnisinteresse“ wie auch die
„Methode der Erkenntnis“. Deswegen muß etwas weiter ausgeholt werden.
Meinung
und Wissen, oder auch Dogma und Skepsis (bzw. Erfahrung), Ahnung und Erkenntnis,
Diskursivität und Kritizismus, rational motivierte Intersubjektivität und ästhetisch
stimmige Expressivität: Man kann noch mehr solcher Paarunterscheidungen aufzählen,
deren interne Asymmetrie den Sinn hat, sich für einen der Begriffe zu
entscheiden, mit allen Folgerungen und Konsequenzen, die daraus zu ziehen sind
(und dies dann meist wieder mit anderen Theorie- und Begriffswerkzeugen, für
die das gleiche gilt; bis man bei der Unterscheidung techne
– episteme angelangt ist). Die Frage hier ist,
welcher Begriffe sich die Sozialwissenschaft tunlichst zu bedienen und welche
sie ohne Rücksicht auszusortieren hat, will sie denn ihren Status als Wissenschaft
– transparente Produktion exoterischen Wissens – auch
in der Methode, in der Programmatik der Diskursivität und in der Theorie
praktizieren, und nicht nur ihren Status als Etikett für Fremdwahrnehmung
wahrnehmbar halten. Es tut sich dementsprechend einiges innerhalb der
Sozialwissenschaft, das sich vielleicht so in zwei Teile schneiden läßt:
a) Die
eine Seite vertritt den Standpunkt, es ließe sich mit Gewißheit sagen, daß die
von vier Sozialwissenschaftler-Generationen ausprobierten und praktizierten
Programme methodischer, methodologischer, evaluations- und
intersubjektivitätstheoretischer Art es weiterhin mit Erfahrung der Wirklichkeiten
und der Gesellschaften zu tun haben, und wie sonst keine anderen Programme des
Kurzschließens von Worten und Dingen das Erleben organisieren und auch
weiterhin organisieren sollten. Veränderungen, Einbrüche, grundlegende
schleichende Wechsel verschiedenster Dosierungen sachlicher, sozialer und
zeitlicher Aggregate finden auf der Objektseite statt, nicht auf der
Beobachterseite. Die solches vertretende Seite kann sich nochmals absichern
durch interne Reflexion folgender Fragen:
1. Mit
welchen grundlegenden Annahmen über den Sachverhalt Gesellschaft trifft der
wissenschaftliche Beobachter seine Vorentscheidungen?
2. Aus
welchem Kriterien-Kontext und mit welchen Kriterien wird die begriffliche
Strukturierung des Sachverhalts vorgenommen?
3.
Welche Methoden und warum diese?
4. Welche
Interpretationen sind zulässig und welche nicht (Referenz: Wissenschaft)?
5. Inwieweit
ist der Einfluß wissenschaftsexterner Faktoren im Procedere der wissenschaftlichen
Auseinandersetzung einseh- und benennbar?
b) Die
andere Seite vertritt innerhalb der Wissenschaft etwa folgendes: Um als Wissenschaft
weiterhin mit gesellschaftlichem Erleben zu tun zu haben und dies
erkenntnisorientiert zu verarbeiten, sei es nicht mehr ausreichend, innerhalb
der Struktur gewordenen Selektionen von Formen, Programmen und Codes den Variationsspielraum
zu nutzen, sondern man müsse nun auch an die Variation der Selektionen
anschließen. Man könne also nicht mehr davon ausgehen, daß es weiterhin stabile
Formen gibt (Funktionssysteme wie Wissenschaft und Recht; Gattungsformen wie
Comic oder Roman; Versorgungssysteme wie Rente und Erziehung; Codes wie
Unterhaltung oder Information), die bloß abverlangen, daß man sich innerhalb dieser
festen Gehäuse nur um Devianzen, Verschiebungen, Erfahrungen und Erkenntnisse
zu kümmern hat. Vielmehr müsse man intellektuell dieses gesellschaftsinfrastrukturelle
Ensemble der Ordnung und Orientierung von Semantik und Handeln selbst als in einem
Prozeß der Änderung befindliches Gebilde ansehen.
Diese
Einschätzung hat Folgen für die Art und Weise, wie weiterhin innerhalb der Sozialwissenschaft
das Erleben und das Interpretieren von Zusammenhängen zwischen Begriff und
Wirklichkeit (Theorien und Dingen; W.V.O. Quine) zu
organisieren sei. Geöffnet wird zumindest die Ordonnanz, in der sich die
Begriffe Anschauung, Wahrnehmung, Imagination, Erfahrung und Begriff zueinander
verhalten haben (Hegels Rangfolge: 1. Erscheinungen des Wissens, 2. Erscheinungen
des Bewußtseins und 3. Erfahrungen des Bewußtseins)[51]. Geöffnet
werden die Modi der Organisation von Erleben, in der Hoffnung, in den noch weitgehend
unbekannten Dimensionen dessen, was „Sinne“ heißt, Spuren zu legen, die den
Menschen erlauben sollen, besser zu verstehen, was das ist: Mensch, Natur, Gesellschaft,
Wissen.
Getragen
wird diese zweite Seite, um es zuzuspitzen, von der Annahme, daß die zur
Verfügung stehenden empirischen und intellektuellen Mitteln der
Sozialwissenschaft nicht mehr, wie noch Adorno randständig vermutete, zu einer
Kritik ihrer Grundlagen des Abstraktifizierens,
Kategorisierens gelangen und dabei tatsächliches Erkennen prozessieren, sondern
mittlerweile Agentenstatus bekommen haben; Agenten subjektloser geschichtlicher
Strukturen mit der Aufgabe, durch die Arbeit im Begriff so zu tun, als ob es
um Erkenntnis ginge, wenngleich es nur darum geht, durch ebendiese Arbeit
Erkenntnis immer unabhängiger zu machen von Erfahrungen, die sich nicht der
begrifflichen Rasterung beugen (Ziel: Autopoiesis).[52] Um
dem zu entgehen, sei es notwendig, metatheoretisch
die Selbstorganisationstheorie nicht mehr als aus der Differenzierungstheorie
ableitbar zu denken.
Wolfgang
Hogrebes Ansatz läßt sich, wie abgemildert auch immer,
in dieser zweiten Schnittmenge ausmachen. Ich möchte in dieser ersten Runde nur
die für mich wichtigen Aussagen herausnehmen. Sein Buch Ahnung und
Erkenntnis[53]
macht sich auf die Suche nach Modi und Medien des Erkennens, die bis dato in
den hegemonialen Erkenntnistheorien des 20. Jahrhunderts nichts zu suchen
hatten. Seine skizzierte Erkenntnistheorie des natürlichen Wissens möchte zur
Aufklärung „unserer durchaus situationsabhängigen epistemischen
Verfassung“ beitragen, für die es „charakteristisch ist, daß sie in der Regel
abhängig ist von normativen Valeurs, die sich aus
unseren Befindlichkeiten und Absichten, unseren kooperativen Bedürfnissen
ebenso wie aus unseren kompetitiven Obsessionen
speisen“ (p8). Hogrebe sieht in der Ahnung,
differenzierbar in Präsens-Ahnung, diagnostische, explanatorische,
kontextuelle und Ereignis-Ahnung, einen notwendigen Schritt dafür, überhaupt
an einem Sichtbaren etwas Unsichtbares angedeutet zu bemerken, also aus einem res
ein signum werden zu lassen; er möchte Skizzen
zu einer Theorie des natürlichen Erkennens anbieten; so der Untertitel, der
bereits in zweifacher Hinsicht aufmerksam macht.
Zum einen
zeigt die Verwendung Erkennen anstatt Erkenntnis an, daß hier die Performanz,
das Tätige, das in der Zeit Stattfindende des Weltbezugs hervorgehoben wird
anstelle des Konstativen und Propositionalen
einer Erkenntnis, die sich nur noch auf den Informationswert der mitgeteilten
Information, nicht mehr aber auf die Information des Mitteilens selbst bezieht.
Hier gibt es Andockstellen zu Maturanas Meditationen
über die Verkörperung der Wirklichkeit beim Erkennensprozeß, etwa wenn Maturana unter der epistemologischen Etage namens Beobachter
eine tieferliegende ausmacht, in der das Verhalten eines Systems und seine Physiologie
zwei vollständig getrennte Phänomenbereiche sind, die eben nur durch einen Beobachter
zusammengebracht werden (sprich: Das Erkennen selbst hat nichts Privilegiertes
mit der Erkenntnis zu tun). Maturana geht soweit zu
sagen, daß Erklärungen nur noch dann erklären, wenn sie Aussagen über Vorgänge
und Mechanismen treffen, aus denen die zu erklärenden Erfahrungen resultieren
könnten.[54]
Aber es gibt auch Andockstellen oder Äquivalente zur systemtheoretischen
Fassung temporalisierter Verfaßtheit einer
System-Umwelt-Beziehung.
Zum zweiten
aber ist das Adjektiv ‚natürlich’ problematisch und sehr mißverständlich.
Gemeinsam ist beiden Richtungen ein striktes Abgehen vom Erklärungspfad der
Objektivität, d.h. der Evakuierung von Aussagen über Objekte aus dem Prozeß
der Performanz und Ablagerung in die Sache selbst hinein. Ausprobiert wird dagegen
die Annahme, daß kognitive Weltbezüge nicht zu unterscheiden vermögen zwischen
den Bedingungen des Vorhandenseins der Erkenntnisgegenstände und den Bedingungen
ihrer Erkenntnis. – Welche Relevanz haben diese eher epistemischen
Sätze aufs normale Procedere innerhalb der Wissenschaft?
Hogrebe
versucht trotz dieser Nähe zu Auffassungen, die besagen, daß nichts unabhängig
von den Unterscheidungen eines Beobachters existiert, eine Promotion des
Vorrangs eines bestimmten Objekts vor der subjektiven Form des Erkennens und
Erklärens durchzuführen; und zwar über den Begriff der Ahnung.
Dabei
wird das unter diesem Begriff Gefaßte überspannt mit den Polen „Objektivität
der Geltung“ und „Objektivität des Seins“. Letztere steht in Kontrast zur
Subjektivität des Seins, die all dasjenige faßt, was in den Produktions-,
Konstruktions- und Handlungsbereich menschlicher Vermögen fällt. Da es Hogrebe nicht bloß um Evidenz des Erkennens von Ahnungen,
sondern auch um die mögliche Objektivität der Geltung von Ahnungserkenntnissen
geht, steht er vor der Aufgabe, die Analyse des Geltungssinns ahnender Erkenntnis
soweit zu treiben, daß das Erkenntnissubjekt als in die Natur eingebettetes gedacht
werden kann; dies nicht, um naturalistisch ebendiese Erkenntnis zu begründen,
sondern „um das Subjekt als in einen flow
of information hineingestellt zu denken, den es
nicht selbst produziert, sondern durch den es sich selbst in seinem Sein protosemantisch
getönt erfährt. Registraturen dieser protosemantischen Tönung sind eben
Anmutungen, Stimmungen, Gefühle, alle Facetten unserer
Befindlichkeitsregistratur. Hier gab es schon, bevor es noch Worte gab, Winke.
Und für diese benötigen wir einen Empirismus, der tiefer reicht und reicher ist
als ein Empirismus der Beobachtungen oder der Sätze, was wir hier benötigen,
ist ein mantischer Empirismus“ (p109f.). Und nicht
nur wir: In Zukunft wohl auch die Maschine namens Computer, soll sie mehr
leisten denn die bloße Verwaltung der Assoziationen von Menschen.[55]
Hogrebe folgt
der Kritik Hölderlins an der Transzendentalphilosophie, die in ihrer Rekonstruktion
und Rechtfertigung von Geltungsansprüchen alleine innerhalb des Universums propositionaler Sätze logisch ignorieren muß, daß wir in
einer subsemantischen Tönung aufs Ganze gesehen durch die uns umgebende Natur
gedeutet werden (p11).
Es geht
also in Hogrebes Fassung von Ahnung und Erkenntnis um
das, was nicht mehr als Nicht-Ich vom Ich gesetzt zu werden vermag, also um ein
nichtsetzendes Objektverhältnis, in das wir immer schon gesetzt sind (milde
Variante des Geworfenseins), das auf eine nicht abschätzbare Weise in unserem
Erkennen mitgeführt ist, und für das wir allenfalls hinweisende, aber keine
begreifenden Worte besitzen. Mit dem Begriff der freien Objektwahl als notwendige
Form, sich zu erkennen, weil uns Erkennen an sich oder durch uns selbst
unmöglich ist (p119), sei eine Position erreicht, so Hogrebe,
in der wir schon auf der Ebene der Sinne zu einer Einigung mit der Natur fähig
sind, wie sie die transzendentale Reflexion nur auf der Ebene eines setzenden
Ich begreiflich machen kann (p121). Oder kurz: Gewahrung geht Wahrheit vorher
(knowledge by acquaintance [Bekanntschaft] vor knowledge
by description
(Russell)). Oder auch: Anmutungen vor Vermutungen. Das Entscheidende geschieht
schon im Gegenwärtigen, soweit es nur reich genug erfahren wird. Diese reiche
Erfahrung, dieses schwierig zu semantisierende Näher-am-Subjekt-Sein bezeichnet Hogrebe
nun als Ahnung.[56]
Kurzer
Exkurs: Substitut Bewußtsein? (Wolfgang Kaempfer)
Nicht
für den Bereich der Sozio-Akustik, der
Intersubjektivität, der Sprache, und auch nicht für den Bereich kommunikativer
Sphärenbildung, aber für den Bereich der neurobiologischen Verfaßtheit des
Menschen scheinen mittlerweile Aussagen möglich, die auf bestimmte Formen der
Mitteilung und des Mitgeteiltsein hinweisen, die
nicht mehr in den gängigen „bewußtseinskulturellen“ Beschreibungen erfaßt
werden können. Wolfgang Kaempfer kommt im Rahmen
seiner historischen Rekonstruktion der partikulären Gewalt der
‚Bewußtseinskultur’ auf die Bedeutung der sogenannten „Spiegelneuronen“ zu sprechen,
deren Funktion wohl in der neurophysiologischen Ermöglichung von Einfühlung besteht.
Die Konsequenzen, die Kaempfer daraufhin andeutet,
sind enorm. Der Güte wegen sei ein längeres Zitat erlaubt. Kaempfer:
„Im Limbischen
System, in der Amygdala (Mandelkern) und im Gyrus cinguli (einem gürtelförmigen Gebilde), so haben jüngste
hirnanatomische Forschungen ergeben, finden sich Neuronen, die einer doppelten
Spiegelfunktion fähig sind. Der Entdecker, Giacomo Rizzolatti,
hat sie daher Spiegelneuronen (mirror neurons) genannt. Das sind Nervenzellen, die sich ‚dadurch
auszeichnen, dass sie sowohl dann »feuern«, wenn das Subjekt selbst eine
Wahrnehmung macht bzw. eine Tätigkeit vollzieht als auch dann, wenn das Subjekt
beobachtet oder miterlebt, wie dieselbe Tätigkeit von einem anderen vollzogen
wird.’ So reagierten sie völlig gleichartig, als einem – wach liegenden –
Patienten ein Stich in die Fingerbeere versetzt wurde, dann sich der
Untersucher selbst in die Fingerbeere stach. ‚Da der Gyrus cinguli
aufgrund zahlreicher Untersuchungen als Sitz des Selbstgefühls und des emotionalen
Schmerzes identifiziert wurde, dürfte (der Untersucher), Hutchison,
Spiegelneuronen für (...) Mitgefühl und Empathie beschrieben haben’.
‚Mitgefühl’, ‚Empathie’,
‚Sympathie’, ‚Spiegelung’, ‚Echo’ – das sind offenbar ebenso viele Stichworte
für jene andere Seite der menschlichen Beziehungen, die sich die
‚mondabgewandte Seite’ des Bewusstseins nennen lassen könnte, das ja – während
vieler Generationen – in den Siècles de lumière herangewachsen (‚aufgewachsen’) war. Zu dieser
‚anderen Seite’ der Beziehungen würden bereits die Ähnlichkeitsbeziehungen
gehören, die zahllosen strukturellen Parallelen zwischen den verschiedenen
‚Gegenstandsbereichen’, so zum Beispiel Schwingungen, die ‚Resonanzen’
auslösen, darunter keineswegs nur die akustischen [...].
Das Zentralorgan dieser Beziehungen ist zugleich das denkbar ‚allgemeinste’, es ist der menschliche Körper selbst. So ist etwa das Gedächtnis, schreibt Joachim Bauer, ‚eine grundlegende Eigenschaft des gesamten physischen Organismus (...), soweit er durch neuronale Strukturen koordiniert ist.’ Sogenannte »sensomotorische Schemata« scheinen sich bereits beim Säugling oder Embryo zu bilden, sie entstehen im peripheren Nervensystem und (noch) nicht in den ‚hochdifferenzierten neuronalen Zentren des assoziativen Cortex, des Hippocampus und der Amygdala’.
Ich habe den weiten Fächer dieser Beziehungsformen an anderer Stelle unter dem Stichwort Korrespondenz zusammengefasst. So sprechen etwa Melos, Rhythmus, Farben, Formen ‚unmittelbar genug die Organe, die ‚Rezeptoren’ unseres Körpers an. [...] Zwischen den Rhythmen eines Verses und den Rhythmen unseres Körpers, insbesondere dem Herz- und Atemrhythmus, besteht ein eindeutiger Zusammenhang [...]. Korrespondenz ist – zum Unterschied von der Kommunikation – vielleicht überhaupt die Weise, wie sich die ‚Formen’, die ‚Phänomene’, die ‚Prozesse’ der Natur zu antworten pflegen’. [...]
Auf Korrespondenzeffekten dürften auch alle Übertragungsbeziehungen, alle ‚hypnotischen’ Beziehungen usf. beruhen. Nach Bauer leisten sie vor allem eins: ‚am Bewusstsein vorbei’ zu operieren. Das würde die Frage nahelegen, ob die unermüdlichen Synthesetätigkeiten des Bewusstseins nicht ursprünglich eine Art Ersatzhandlung, eine Art ‚Symptombehandlung’ für Verletzungen gebildet haben könnten, die die primären Beziehungen der Menschen, die ‚emphatischen Beziehungen’, die Korrespondenz-Beziehungen, in den Hintergrund – besser: Untergrund – gedrängt, die sie partiell obsolet oder gar lächerlich gemacht hatten, sie zum ‚Spuk’, zu ‚Einbildungen’ erklärend. Erinnern wir uns hier vor allem der binnengesellschaftlichen Katastrophe (‚Explosion’), die die englische Gesellschaft ereilt hatte mit der Enteignung des Bauernstands und der Privatisierung von Titulareigentum im Verlauf des 16. - bis 18. Jahrhunderts. [...]
Bekanntlich können Schocks zu ausgedehnten Amnesien führen, weil der Schmerz, den ihre Wunden hinterließen, nicht mehr ertragen werden konnte. Es wäre sogar zu überlegen, ob zu den Folgen, die der ‚Schock der Modernisierung’ hinterlassen hatte, nicht auch die eigentümlichen Lektionen gehören, die wir diskutiert haben, die Einübung in die Schmerzunempfindlichkeit, die sich das moderne Forscher-Ich auferlegt hatte, die systematische Abtötung der Impulse, die von der natürlichen Empathie und Sympathie ausgelöst werden, die Forderung der Indifferenz, der Neutralität, der emotionalen Abstinenz des Forschers. [...]
Nichtsdestoweniger hat sich die einst selbstverständliche ‚andere Seite’ der menschlichen Beziehungen, die ‚mondabgewandte Seite des Bewusstseins’, natürlich niemals ganz unterdrücken, narkotisieren, ‚anästhetisieren’ lassen. Sie lebt in allen Menschen fort, sei es auch in verkümmerter Gestalt, und so brachte der sensationelle Nachweis, den dieses Vermögen mit der Entdeckung der Spiegelneuronen durch Rizzolatti finden konnte, keine eigentliche Neuerung an den Tag, sondern bestätigte nur, was z.B. die psychoanalytische Schule seit langer Zeit wusste – und was schon im 18. Jahrhundert Sensation gemacht hatte durch den sog. Mesmerismus (des Mediziners Franz Mesmer), dessen Lehre vom ‚animalischen Magnetismus’, wie fragwürdig sie auch immer war, anders nicht das Faszinosum hätte bilden können, das ein ganzes Zeitalter entflammte.“[57]
Gewiß:
Sollten diese neurophysiologisch-chemischen Einsichten stimmen, so sagen sie
präziser als bisher etwas aus über die Mechanismen der Interaktion unter
Anwesenden („die Chemie“, „die Stimmung“), vielleicht sogar etwas über den
Grund des Affektions- und Attraktionspotentials von
Bildern. Aber sie sagen nichts aus über die Möglichkeit einer
gesellschaftlichen Kommunikation oder besser Korrespondenz, die gleichsam „am
Bewußtsein vorbei“[58] sich
prozessiert: und zwar als technogene Nähe. Dennoch
lassen die Überlegungen Kaempfers den Gedanken nicht
ganz sinnlos erscheinen, daß eine subsemantische, eine mantische
Weise der Mitteilung und des Mitgeteiltseins durch technogene Nähe nicht ganz unvorbereitet auf die
vergesellschafteten Individuen trifft. Denn wenn es stimmen sollte, daß das
Bewußtsein eine Ersatzlösung und zugleich kongenialer Kandidat ist für die hegemoniale
Aufrechterhaltung einer rationalistischen, auf Trennung basierenden gesellschaftlichen
Vermittlung, wie sie in Europa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts startete, dann
wäre die Frage nach dem Ersatzcharakter bestimmter sozioanthropologischer
Näheformen als Weisen überlasteter interaktionistischer Vermittlungen –
diachronisch evolutionstheoretisch betrachtet – subsumierbar der Frage nach dem
Ersatzcharakter einer kognitivistischen
Vergesellschaftung (chronologisch genealogisch betrachtet müßte man natürlich
umgekehrt vorgehen).
Was nun
allerdings als eine gesellschaftliche Homologie oder gar als gesellschaftliches
Äquivalent zu den neurophysiologischen Spiegelneuronen betrachtet werden
könnte, ist weiterhin mehr als unklar. Daß es mehr denn compassion
zu sein hätte, scheint allerdings geklärt zu sein.
Ende Exkurs
Die
Fragen, die nun im Zusammenhang mit der technogenen Nähe interessieren, sind
nun behauptenderweise diese: Wird eine neue Modelung
technologisch ermöglichter Näherung auch das Erkennen und die Weisen der
Erkenntnisproduktion verändern?[59] [–
ganz zu schweigen von den erwartbaren Veränderungen der gesellschaftshistorisch
sich durchgesetzten Modelle der Sinnesaufnahme, die als Modelle des Sehens
(griechische Tradition), des Hörens (jüdisch-christliche Tradition) und des
Essens (kapitalistisch-technologische Modernisierung) nun im Modell des
Inhalierens eine weitere Etappe in der sukzessiven Abnahme von phäno-aisthesischen und der Zunahme von endo-kinetischen
Austauschmodi erleben wird.] Und: Muß die Weise der Beschreibung ebensolcher
Prospekte auch schon selbstimplikativ verfahren?
Weitere Fragen: Wie und wo könnte
solcherart Fokussieren einer eher propositionsspröden
Art des Erkennens innerhalb der Diskurse, Methoden und Geltungsbedingungen der
Wissenschaft Platz greifen? Wie wäre es möglich, nicht nur metatheoretisch
die Kapazität der Ahnung als Zeigendes und die Abhängigkeit der normalen epistemischen Erkenntnisproduktion von diesem
nicht(s)sagenden Zeigenden auszusprechen, sondern sich des Zeigens der Ahnung
zu bedienen fürs Sagen von Propositionen?
Spricht man für denjenigen Bereich von
Wissenschaft, der empirisch-analytisch arbeitet, dann scheint die Frage nach
dieser Möglichkeit nicht ganz absurd, da der dort auch vorhandene context of discovery
recht viele Sonden zuläßt, soweit sie sich operationalisieren
bzw. parametrisieren lassen. Für den Bereich von Sozialwissenschaft, der es
eher mit dem context of validation
oder description - redescription
zu tun hat, ist bis jetzt nicht ganz einsehbar, wie sich Ahnung operational/
diskursiv im Prozeß der wissenschaftlichen Kommunikation einfinden könnte.
Wahrscheinlich wird ebendiese
wissenschaftliche Kommunikation sich wandeln müssen (man kann nur hoffen: durch
eigengenerierte Forschungsprogramme), und das heißt: wird die durch Systemcode
und durch eigene Inklusions-/ Exklusionspraxen bewerkstelligte
Selbstidentifikation der Wissenschaft als Wissenschaft[60] sich
lockern, wenn nicht lösen müssen; und zwar als ihr eigenes großes Analyseobjekt.[61]
Was auf der Seite des Erkenntnisinteresses
die Ahnung sein könnte im oben angedeuteten Sinne – nämlich eine Weise, Spuren
zu erkennen, die außerhalb der vorgegebenen Weltverarbeitungsformen liegen –,
das könnten auf der Seite des Erkenntnisgegenstandes die Gefühle sein. Oder
älter formuliert: Gehören die Weisen der Mantik in die Wirkwelt, dann die
Gefühle in die Merkwelt (natürlich ist nicht zu bestreiten, daß diejenige Welt
sehr groß ist, in der Gefühle als Wirkung behandelt werden).[62]
Alexander Kluge hat sich diesen Gefühlen
genähert aus der Perspektive des Erkunders, der
herausbekommen will, was an ihnen und mit ihnen noch nicht herausbekommen wurde.
Sein Material – Narration, Fiktion, Tatsachen, Phantasien – ist so arrangiert,
daß das Lebewesen Mensch in den Blick kommt, und nicht nur das vernünftige, das
vergesellschaftete, das in einer bestimmten Weise historische Wesen.
Kluge: „Mich interessieren an den Gefühlen,
was ist davon völlig gleichbleibend, stur, unbeeinflußbar, was ist da konstant
und was ist metamorphosefähig, flexibel. Beide Arten des Gefühls gibt es. Und
was ist davon unentdeckt? Mich interessieren sehr die Gefühle, die man nicht sofort
als Gefühle erkennt, die also eingebaut sind in den Institutionen, die überhaupt
erst in Erscheinung treten im Ernstfall durch Selbstvergessenheit, also im
Einsatz, wie man so sagt.“[63]
Kluge grundiert dabei sein Interesse an Gefühlen in einer Fassung des Verhältnisses
von ‚Naturgeschichte’ und ‚Geschichte’, die noch weit über die hier im Text versuchte
Fassung hinausgeht, in der das anthropologische missing
link der Nahung ja verbunden werden soll mit den avanciertesten
Technologien.[64]
Während für die letztgenannte Fassung Inhärenz für eine Zeitspanne von 12000
bis 30000 Jahren anzunehmen ist (behauptender Weise), so bemerkt Kluge zu
Beginn seines zweiten Chronikbandes:
„Gegenwart nennen wir bekanntlich, wenn es
hochkommt, 90 Jahre. Das Wirkliche an dieser Gegenwart ist die Schubkraft von
20 Milliarden Jahren.“[65] Mit
etwas geringerer historischer Spannweite versuchte Kluge zusammen mit Oskar Negt 1992[66] den
Gefühlen auf die Spur zu kommen, versteht man sie denn als „Rohstoff des Politischen“.
Gesucht wird nach manifesten Formen des Latenten der Gesellschaftsgeschichte,
wobei die Latenz selbst noch zu finden ist. Denn sie kann nur da ‚wesen’, wo
„die Eigenlogik der vergessenen, historisch abgesunkenen Prozesse des
vorangegangenen Tuns“, und wo „die Eigenlogik des
Apparats im Verhältnis zu dem, was durch einen politischen Eingriff steuerbar
ist und was in Motiven, Absichten oder Verantwortungen verankert sein könnte,
dergestalt angewachsen“ ist, „daß man von einem dominierenden ‚gesellschaftlichen
Unbewußten’ sprechen könnte.“[67] Und
daß die kapitalistischen Gesellschaften von diesem Unbewußten dominiert werden,
ist für Kluge und Negt evident.
Aber gleichsam ist ihnen evident, daß der
Rohstoff des Politischen (Interesse, Gefühle, Proteste) nicht vollständig
gemodelt wurde zu traumatischem oder aggressivem Treibstoff der Angstvermeidung,
sondern seine eigene Wirklichkeit, seine eigene Form besitzt. Denn: „Die Formen
und die Maßverhältnisse (objektiven Möglichkeiten) werden vermutlich diesem
Rohstoff innewohnend mitproduziert, selten jedoch sind sie in dieser Struktur
bereits zu fassen. Wo sich die Formen und Maßverhältnisse nicht als besondere
Gefäße des Ausdrucks dieses Rohstoffs erkennbar machen, treten regelmäßig
gewalttätige Explosionen auf. [...] Der Rohstoff, von dem der gesellschaftliche
Aufbruch des Nationalsozialismus zehrte, ist von den Rohstoffen für andere
gesellschaftliche Prozesse, die sich zur Emanzipation öffnen, nicht grundlegend
verschieden. Nicht einmal die Intensitätsgrade unterscheiden sich. Die
Formen und Maßverhältnisse, die diese Rohstoffe zu einer Öffentlichkeit machen,
unterscheiden sich dagegen grundlegend. Auf der Ebene des Rohstoffs gibt es
selber noch kein faßbares Maßverhältnis. Es gilt dort eine tödliche
Maßlosigkeit, abwechselnd mit dem Rückfall in (von Balanceenergie aufrechterhaltener)
Passivität. Wenn wir von dem Politischen im materiellen Sinne sprechen, gehen
wir von diesem Rohstoffcharakter und von der Unvollständigkeit des Politischen
aus.“[68]
Damit ist vorerst genügend Abgrenzung zu einem anderen Rohstoffbegriff gegeben,
der davon ausgeht, daß die Wandlung des Menschen selbst zu Rohstoff, also die
Verwandlung in einen „homo materia“, eine der
zentralen Umwälzungen der modernen Revolutionen/ Massaker darstellt.[69]
Die hier interessierenden Fragen sind nun,
ob das, was bisher unbeholfen als Nahung, als motivational-emotionales
Näheverhältnis zu gesellschaftlichen Abstraktionen, als missing
link bezeichnet wurde, in Verbindung gebracht werden kann mit dem
Begriffskonzept des „politischen Rohstoffs“; und ob das, was bisher unbeholfen
als technogene Nähe bezeichnet wurde, in Verbindung
gebracht werden kann mit den von Negt und Kluge beschriebenen
Formen und Maßverhältnissen, die diesen Rohstoff zu einer Öffentlichkeit machen
können.
Wenn ja – wobei auf die Grade des In-Verbindung-Bringens zu achten ist –, dann wäre es nicht
unplausibel, in der technogenen Nähe eine Schnittstelle zu sehen, die
tatsächlich passend den Anthropokosmos mit dem Soziokosmos verbände, und zwar so, daß ein neuer oder
zumindest anderer Kosmos entstehen könnte; vielleicht der des Curture/ Nurture als Synthese
einer neuen Daseinsdimension (neben den Dimensionen des Lebendigen, des Sozialen
und des Psychischen), die sich dadurch auszeichnet, daß in ihr die
Infrapsychostruktur invarianter Gefühle sich verbindet mit der Infrasoziostruktur Elektrizität, verstanden als dasjenige,
das „zu allen Systemen der Bewegung in Raum und Zeit invariant bleibt“.[70] Während
sich nun dieser Erkenntnisteil auf die Invarianz der
Gefühle und die Invarianz der Elektrizität zur Umwelt
bezieht, könnte eine weitere Dimension von Schnittstelle an den varianten Gefühlen und an der technogenen Nähe ausgemacht
werden, und zwar in der Dimension telematischer
Medien: Diese könnten es schaffen, in die Anthropologie des Impulses, in die
Anthropologie der sogenannten angeborenen sozialen Reaktionen, also kurz: in
den prä-reflexiven Bereich des ‚emotionalen
Apparates’ einzugreifen und dadurch bewirken, daß die Art emotional-motivationalen
Eingebundenseins abhängt von der Art des Mediums.
Es so zu sehen widerspricht einer
Sichtweise, die auf die Frage, was uns an den Medien bewegt (im Kontrast zur
‚wirklichen Wirklichkeit’), auf den Sachverhalt autonomer neuronaler und autonomer
anthropologischer Vorgänge stößt, in Sinne von: Medien aktivieren nur tieferliegende
Muster des Empfindens und des Fühlens, das Medium, mit und in dem dies
passiert, sei demgegenüber sekundär. So schreibt Katja Mellmann:
„Alles weist also darauf hin, daß das
Zustandekommen einer sinnlichen Vorstellung in Form einer neuronalen
Repräsentation ein relativ autonomer Vorgang ist, zu dem das Wissen über das Medium
der sinnlichen Repräsentation und sonstige Anschlußüberlegungen nur weitere
Zusatzinformationen darstellen.“[71]
Während also in dieser Überlegung das
Affekt- und Attraktionspotential der Medien marginalisiert wird und das
Entstehen von Gefühlen in der Medienaussetzung aus den Tiefen der Naturgeschichte
des Menschen hergeleitet wird, könnte die Überlegung zur technogenen Nähe in
der Schnittstelle zwischen varianten Gefühlen und varianten telematischen Medien
(der Elektrizität) dazu führen, daß schon die Präreflexivität
menschlicher Gefühle (und nicht erst die reflexive Sinnlichkeit der Menschen)
nun medial gemodelt werden könnte. Damit sind wir in der Nähe von McLuhan
gekommen.
McLuhan, der 1963, also ein Jahr vor der
Veröffentlichung seines Buches Understanding
Media, in Toronto das „Institut for Culture and Technology“ gründete, weist in seiner Interpretation
der Technologie eine Menge Ähnlichkeiten mit dem hier versuchten Interpretationsansatz
auf. Wenn er der Technologie eine geschichtsepochenbildende Kraft zuschreibt –
die orale Stammeskultur, die literale
Manuskript-Kultur und die Gutenberggalaxis münden
schließlich ein ins elektronische Zeitalter; wenn er Elektrizität als
Leitmedium inauguriert – und damit das Erkennen,
Erkenntnisse und selbst das Denken als Formen des Leitmediums Buch vollständig
entwertet[72],
um eine neue Form des Denkens, der Erkenntnisse, des Erkennens als dringlich
einzuklagen; wenn er die Wirkung elektrischer und elektronischer Medien
vollständig aus der Sphäre der symbolischen Ordnung heraushält – denn die Wirkungen
der Technik zeigen sich nicht in Meinungen, Vorstellungen, also im
Symbolischen, sondern in Gänze im Pragmatischen, Praktischen, in unserer Arbeit
der Sinne und der Wahrnehmung; und wenn er schließlich im Computernetz die
Evolution des Gehirns zu sich kommen sieht – denn das „elektrische Netz“ sei
ein naturgetreues Modell des Zentralnervensystems und schließe damit
kulturtechnologisch eine bestimmte Evolution ab, die als natürlich-biologische
ihren Anfang nahm:
dann scheint es nicht unplausibel zu sein,
in den „Magischen Kanälen“ McLuhans Ausschau zu halten nach Weisen technogener Nähe. Zumal der Term global village alleine schon auf der Anschauungsebene Nähe
suggeriert, also zu vermitteln versucht, daß mittels magischer Kanäle die
‚globale Welt’ endlich auf Augenhöhe erfahren und wahrgenommen werden kann,
vorausgesetzt, die sinnliche Erfahrung und Wahrnehmung läßt sich durch die neue
Technologie ausreichend modeln.[73]
Zudem könnte in Anlehnung an das In-Verbingung-Bringen
technogener Nähe mit dem Begriff des politischen
Rohstoffs von Kluge/ Negt versucht werden, McLuhans Begriff
des Rohstoffs auf technogene Nähe anzuwenden, so wie
er ihn auf „technische Medien“ anwendet.
Allein: Was in den Prospekten McLuhans den
noch unpräzisen Vorstellungen einer technogenen Nähe nahe kommt, entfernt sich
sehr rasch in den Herleitungen, die McLuhan anstellt. Denn McLuhan geht vom Begriff
des Mangels des biologischen Menschen aus, von der Ausweitung des menschlichen
Körpers durch Technik, von Organersatz, Organentlastung, Organverstärkung durch
Technik, während die technogene Nähe nicht in der
Logik der Körperausweitung oder in der Logik der Behebung körperlicher Mängel
gedacht werden soll, sondern als genuine „Spitzenleistung des Sozialen“ (Niklas
Luhmann). Das wiederum bedeutet Verzicht auf die Annahme, daß mit dem und in
dem Prozeß der Prothetisierung resp. der Immaterialisierung der Welt durch
Technik mit dem Körper selbst auch die Materie des technischen Körpers
verschwindet, wie es Marie-Ann Berr vermutet und sehr
plausibel zu entfalten weiß.[74]
D.h.: Das „Modell“ der Ontopoiese von Leistungen des
Sozialen kann nicht strukturell abgelöst, also abstrahiert werden von dem evolutions-
und sozialgeschichtlich enormen Erfahrungsgehalt der menschlichen
Körper. Kurzum: Der Beziehungsmodus „technogene Nähe“
hält Nähe zur Sterblichkeit bzw. Endlichkeit oder Überwindungsdrang.
Die Perspektive ist also ein vollständig
andere. Fahrlässig pointiert: McLuhan denkt technologische Medien als das
Medium für (erweiterte) Menschen[75]; mit
der technogenen Nähe soll jedoch „der Mensch als Medium der Gesellschaft“
(Peter Fuchs) gedacht werden, und zwar so, daß ersichtlich wird, wie abstrakte
Sozialität als Einsatz einer kreaturalen Generativität benutzt wird, damit Kreaturalität nun auch direkt im Sozialen adressierbar wird
und nicht mehr nur indirekt über die Irritation resp. Vernichtung von Menschen,
Kulturen, Traditionen rekonstruiert werden muß. Es geht also nicht um die
Vorstellung, daß das Soziale sich irgendwelchen Natürlichkeiten anzupassen hat,
um „Natur“ nun auch im Sozialen durchzusetzen, sondern um die Herausbildung der
spezifisch sozialgesellschaftlichen kreaturalen Generativität, die Kontakt hält
mit den Regelkomplexen einer Generativität der Physis.
Attraktor und ineins
schwächstes Glied dieser Durchsetzung, die als eine technologische und als eine
kulturelle zu fassen sein wird, ist dabei der Mensch.[76]
Darauf zu bestehen ist absolutes Muß, will man nicht in organizistische
oder gar sozialdarwinistische Auffassungen münden, in denen die freilich
verunglückte Moralität der Menschen eliminiert ist. Wie technogene
Nähe als moralaufhebendes und zugleich moralfortsetzendes Mittel auf der Höhe abstrakter
Vergesellschaftung durchgesetzt werden kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt unklar.
Klar scheint nur zu sein, daß Moral nur für den Interaktionsbereich, nicht für
den Gesellschaftsbereich ein adäquates Sozialwerkzeug darstellt. – Damit sind
wir bei Luhmann angekommen.
Im Anschluß an die Beschäftigung mit
McLuhans Theoremen und dem aufgemachten Schied zwischen seiner und der hier am
Begriff „technogene Nähe“ versuchten Dosierung von
Technologie, Gesellschaft und Bewußtsein scheint es mehr als plausibel, die
Schriften Luhmanns aufzusuchen, um mehr Anhaltspunkte zu gewinnen für die
Vorstellung, daß es die Kommunikation, das Soziale, daß es soziale Systeme
sind, die sich des Menschen (der Bewußtseine)
bedienen, um die „Evolution des Sozialen“[77]
mittels Technologie so zu modeln und zu evoluieren,
daß als „Nebeneffekt“ eine möglicherweise neue Art der Kommunikation zwischen
Menschen und Systemen (nämlich eine der technogenen Nähe) entsteht, die einer
anderen Daseinsdimension entspringt und sie zugleich schafft (die kreaturale Dimension).
Luhmanns Werk ist nicht nur theoriebautechnisch
eingestellt auf die Referenz des Sozialen (im Gegensatz etwa zu den Referenzen
Bewußtsein oder ‚Leben’); die Entscheidung, vom Sozialen aus „Welt“ in den Blick
der Beobachtung zu nehmen, ist genauso theorieimmanent nachzuvollziehen. Luhmann
schreibt grundlegend auf der äußersten Grenze des Fassungsvermögens von
Menschen mit Bewußtsein, oft auch über die Grenze hinausgehend, wenn es darum
geht, den Sinn der Evolution von menschlicher Gesellschaft sowie ihrer Wandlung
zu verstehen. Sein Schreiben ist angetrieben von der Vorstellung, daß das
Soziale sozialer Systeme schon viel weiter von den Menschen entfernt ist, als
es eine Lebenswelt- oder Intersubjektivitätsphilosophie wahrhaben will. Die
Spitzenleistungen des Sozialen, die er im Blick hat, sind nicht mehr zu
verstehen als Erscheinungen derjenigen Systembildungsprozesse, die auf dem
Acker der menschlichen Interaktion gediehen sind: Luhmann sieht Systembildungsprozesse
des Sozialen vielmehr abzuleiten aus der Dimension der Systembildung
schlechthin. Für die Beschreibbarmachung dieser Dimension kann man die
Erfindung der Kybernetik als ersten Versuch werten, nicht mehr vom Leben, nicht
mehr von Psychischen, nicht mehr vom Sozialen allein auszugehen, sondern von
einer umfassenderen Dimension oder Sphäre.
Damit sind erste Übersetzungen organonistischer, autopoietischer
und kosmologischer Ansätze der Weltbeschreibung auf den Weg gebracht worden,
deren Potential auch nach fast 50 Jahren Produktions- und Rezeptionsgeschichte
noch lange nicht ausgereizt ist.
Am Textinstrument Luhmann interessiert hier
also, wie weit er zu gehen vermochte im Aufweis
vollkommener Haltlosigkeit der Größe namens Mensch, so man sich weiterhin ans
Subjekt, ans Bewußtsein hält, um „Welt“ zu beschreiben und auch zu verstehen.
Luhmanns kongenialer Schüler Peter Fuchs beschreibt mit lakonischer
Trefflichkeit, wie sich die Haltlosigkeit systemtheoretisch ausdrückt:
Jede Operation der
Kommunikation ist das, was sie ist, „sie geschieht ja nur einfach, mono-logisch.
Sie macht einen Unterschied, aber unterscheidet sich nicht selbst“; das ist
dann die Aufgabe von Prozessoren, die die notwendigen Unterscheidungsseiten
applizieren. Für soziale Systeme stehen als solche Prozessoren Bewußtseine zur Verfügung.[78]
Aus der Perspektive der Kommunikation (die von der Systemtheorie gewählt wird)
beteiligen sich dann Menschen via ‚konkreter Arbeit’ an der von allem absehenden
abstrakten Reproduktion eines Monologs. Im gleichen Atemzug weist Fuchs aber
auch darauf hin, daß es genauso haltlos ist, sich ans Sozialsystem zu halten,
denn: „Es ist evident, daß das Sozialsystem selbst keine Sprache versteht.
Es hat nicht einmal Ohren. Seine Autopoiesis ist abhängig
davon, daß irgendwer spricht und das Gesprochene zu deuten weiß. Für
Kommunikation ist der Lärm, den die Bewußtseine
exponieren, zum Beispiel Sprache, so sinnfrei oder sinnlos wie für mich
das Anhören einer Tonbandaufnahme von Skat spielenden Chinesen.“[79]
Genauso ergeht es
natürlich auch dem Luhmann’schen Lärm: er wird von der Kommunikation nicht
verstanden. Luhmann liefert sozialen Maschinen mit seiner Theorie das Zertifikat
nach, daß sie die eigentliche Avantgarde aller Nichttoten,
daß sie die eigentliche Formobjektivation dessen
sind, was Lebendigkeit für sich beansprucht. Aber leider, so ist zynisch
anzumerken, wird er nur von Menschen gelesen, die lesen, daß er sie nicht
meint.[80]
Die Erkundungen technogener Nähe könnten von Luhmanns extremer Dehnung der
Beziehungslosigkeit zwischen Sozial- resp. Kommunikationssystem und Mensch
(resp. Bewußtsein) lernen, daß es erheblich darauf ankommt, zwischen Technik
und Sozialsystem zu unterscheiden, so man die Kommunikabilität
technogener Nähe nicht als eine weitere Variante
monologischer Kommunikation ausweisen möchte. Technogene Nähe wäre im hiesigen
Prospekt gerade die „Sprache“, die das Sozialsystem versteht, d.h.: Es hat
etwas zu verstehen, was nicht es selbst ist. Aber was könnte das sein, wenn
doch jetzt schon klar ist, daß es der Mensch, so wie er heute neurologisch,
psychologisch, biologisch, soziologisch zusammengesetzt ist, nicht sein kann?
Daß es der heutige Mensch nicht sein kann,
mit dem man Kommunikation zwischen Menschen, zwischen Mensch und Gesellschaft,
und zwischen Gesellschaft und Umwelt so generalisierte, daß Leid, Krieg und
Ungerechtigkeit die Ausnahme und Verantwortung die Regel wären, scheint
evident. Das Scheitern eines ersten Versuchs in diese Richtung liegt noch als
warme Leiche vor unseren Augen: Der „real existent“ gewesene Sozialismus/
Kommunismus. Die Einschätzung der Unbrauchbarkeit der gegenwärtigen Sozialverfaßtheit
von Menschen für Einbergung (technogene Nähe) geht
mittlerweile so weit, daß man den sprechenden, denkenden, sozialen Menschen mit
ihrem Vermögen, qua Information und Kommunikation als Alternative zur
‚schlichten’ Evolution auf Welt einzuwirken, meint abschreiben zu können.
Heiner Mühlmann kommt, bezogen auf die anhaltende Unfähigkeit, Sozialsysteme ökologisch
zu resystematisieren, zu dieser Einschätzung:
„Die größte neue Bedrohung ist die globale
ökologische Katastrophe. Die Wahrnehmung der einzelnen Ereignisse, die Teile dieser
desaströsen Gesamtentwicklung sind, lösen
bedauerlicherweise keinen Maximal-Streß aus. Sie werden jederzeit von dem
Jahrtausende alten Schema des Feindstresses übertroffen. [...] [Es] bieten sich
nur zwei mögliche Strategien, um Kultur für die neuen Gefahren einzustellen:
Man müßte die neuen Bedrohungen in die Sprache der alten Stressoren übersetzen,
das heißt, man müßte die Kultur überlisten, oder man müßte die Menschen
molekulargenetisch verändern.“[81]
Mühlmann geht es um den Prospekt, daß in Zukunft möglicherweise mittels
Genmanipulation auf die kulturelle Evolution gezielt werden wird, weil sich
herausgestellt haben könnte, daß das kulturelle Instinktverhalten namens Maximal-Streß-Cooperation nicht mehr taugt für eine
kulturelle Verarbeitung von Krisen und Problemen der abstrakten
Weltgesellschaft. „Die Kultur in all ihren bekannten Formen ist heute auf den
falschen Stressor fixiert“[82],
sagt Mühlmann. Also scheint es, als müsse die Kultur verändert werden, diesmal
mit Hilfe der Biologie, Abteilung Molekulargenetik. Das Vorherrschen des
kulturell einbetonierten und durch genetische Fixierung hegemonial gewordenen
Feindstresses müsse abgelöst werden durch die Vorherrschaft der Maximal-Streß-Cooperation; nur diese erlaube also, der
„Ökokatastrophe“ (Mühlmann) begegnen zu können, ja, sie überhaupt erst
wahrnehmen zu können; und damit die Aufregung zu erzeugen, die nötig ist, um
endlich angemessen ökologisch Zivilisation zu betreiben. Mühlmann: „Es wäre wünschenswert,
Kulturen zu züchten, in denen die höchste Stufe der emotionalen Besorgtheit auf
Wahrnehmungsobjekte der Natur und der Ökologie gerichtet wäre. Die stärksten
Gefühle wären dann Gefühle einer Sorge und Fürsorge weiblicher Prägung“.[83] Mühlmann
entscheidet sich abschließend jedoch nicht für die Form der Genmanipulation als
Kulturzuchtverfahren, sondern favorisiert die kulturelle Perturbation
von Kultur: „Die Methode einer zivilisierenden Beeinflussung der MSC-Reaktion [Maximal-Streß-Cooperations-Reaktion;
B.T.] kann demnach nicht eine mögliche Genmanipulation sein. Die einzige Erfolg
versprechende Strategie scheint die Manipulation der kulturgenetischen
Übertragungsstrukturen zu sein. Das heißt: Angriffspunkt für die Zähmung des
‚wilden Tiers Kultur’ kann nicht die angeborene Streßphysiologie sein sondern
allein das Element ‚Kooperation’ in der MSC-Reaktion.
Hier geht es um die Überwindung des kulturellen Narzismus.
Es geht um die Abschaffung der ‚selfish culture’“.[84]
Die Frage im hier interessierenden
Zusammenhang der technogenen Nähe wird sein, ob die technologisch induzierte
Annäherung von Menschen und Abstraktionen der Kultur, der Gesellschaft und der
Umwelt (Werte, Anerkennung, Unsichtbarkeit von Schäden) zu einer Manipulation
der kulturgenetischen Übertragungsstrukturen beitragen kann, so daß eine technogen-motivational sich ergebende Ein-Bindung der
Einzelnen in die verschiedenen Regelkreise von Kooperation gleichsam zur
Abschaffung der ‚egoistischen Kultur’ führen könnte. Es geht, vielleicht etwas
komplizierend gesagt, also darum, inwieweit mittels technogener
Nähe die Phylogenese der Beziehungsbalance Welt/ Erde (Michel Serres) präsent und adressiert werden kann innerhalb
einer Ontogenese von Kultur, und nicht mehr innerhalb einer Ontogenese
des Lebewesens Mensch.[85]
Von der Unmöglichkeit einer
Ontogenetisierung der Kultur scheint Peter Sloterdijk überzeugt, also überzeugt
davon, daß sich Kultur und Soziales nicht (wieder?) einbergen lassen in eine
umfassendere Beziehungsbalance zwischen Mensch, Welt und Umwelt. Und dies
nicht, weil er in den großformatigen Gefäßen namens globale Technik, Telekommunikation
und Gesellschaft eine Hyperautonomisierung zum
hermetischen System ausmacht, das sich vom Menschen emanzipiert. Vielmehr sieht
Sloterdijk in den abstrakten Containern der artifiziellen Zivilisation
unselbständige und gleichsam hilflose Erscheinungen des Versuchs,
Raumteilungsformen des Mitseins (Blasen) im Großformat (Globen) imitieren und
nachahmen zu wollen, was „nur“ zu Oberflächentiefen führen kann (Schäume).
Demgemäß verzichtet Sloterdijk auch recht eigentlich auf einen Begriff der
Gesellschaft, auch wenn dieser Begriff noch sein Dasein fristen darf in
Anführungszeichen: „In Wahrheit sind ‚Gesellschaften’ nur als unruhige und
asymmetrische Assoziationen aus Räume-Vielheiten und Prozeßvielheiten verstehbar, deren Zellen weder wirklich
vereint noch wirklich getrennt sein können.“[86]
Alle Abstraktionen technischer, sozialer und
kommunikativer Art zielen darauf ab, die Sphäreneinbergungskapazität genuin interaktionistischer
Raumgeteiltheit zu simulieren: allerdings ohne Erfolg.[87] Das
Resultat ist eine weltweite Schwächung der Immunisierungskapazität
‚metaphysischer’ und sphärensimulierender soziokultureller Artefakte, gerade
auch dann, wenn Sloterdijk Thomas Jeffersons Maxime teilt, nach der im modernen
gesellschaftlichen Feld nicht das sympathetische,
sondern das Konkurrenz-, Mißtrauens- und das Eifersuchtsprinzip Basis für die
Motivierung von Verhalten und Handeln sei.[88]
Sloterdijk folgert daraus dies (und es sei in seiner Länge gerne zitiert):
„In diesem Kontext enthüllt der epochale
Trend zu individualistischen Lebensformen seinen revolutionären immunologischen
Sinn: Es sind heute in den avancierten Gesellschaften, vielleicht zum ersten
Mal in der Geschichte hominider und humaner Lebensformen,
die Individuen, die als Träger von Immuneigenschaften sich von ihren (bis dahin
vorrangig schützenden) Gesellschaftskörpern loslösen und massenhaft ihr Glück
und Unglück abkoppeln wollen vom In-Form-Sein der politischen Kommune“. [...]
Das Axiom der individualistischen Immunordnung greift in den Massen selbstzentrierter
Einzelner wie eine neue vitale Evidenz um sich: daß letztlich niemand für sie
tun wird, was sie nicht für sich selber leisten. Die neuen Immunitätstechniken
empfehlen sich als Existentialstrategien für Gesellschaften aus Einzelnen, bei
denen der Lange Marsch in die Flexibilisierung, die Schwächung der
‚Objektbeziehungen’ und die generelle Lizenzierung von untreuen und reversiblen
Verhältnissen zwischen Menschen zum Ziel geführt hat – zur Grundlinie des von
Spengler richtig prophezeiten Endes jeder Kultur“.[89]
Sloterdijk ist überzeugt, daß die
individuelle Übernahme der Immunisierung durch die Immunisierungsbedürftigen
selbst nicht der letzte Stand der Geschichte sein wird. Er ist gleichsam überzeugt
davon, daß die Erscheinungsweisen moderner Verfaßtheit unbrauchbar geworden
sind für diese eine Aufgabe, Menschen mit Schutz, Immunität, sprich: bergender
Nähe zu versorgen. Die hier versuchten Vorstellungen einer technogenen Nähe wären
seiner Theorie der Ko-Isolation gemäß daher auch nur
einer Art kurzsichtigen Verblendung geschuldet, die eben nicht zu sehen
erlaubt, daß überall da, wo rege Kommunikation zwischen und ein Geöffnetsein für Menschen und Gruppen konstatiert wird, es
sich doch recht nur um gemeinsame Nachahmungswellen und analoge
Medien-Ausstattungen handelt.[90]
An Sloterdijks Überlegungen interessiert im
hier verfolgten Zusammenhang daher zweierlei: Zum einen die mehr implizite
Grundüberlegung, daß Menschen genuin auf Immunisierung und damit auf eine
Unterbrechung ihres Ausgesetztseins in der Welt, also
in vermittelter Weise auf Nähe angewiesen sind, und damit bei aller
Ausgesetztheit, die die Zivilisationszucht (an ihrer Spitze: die kapitalistische)
vergesellschaftet hat, überindividueller Formen des Eingesetztseins
und -werdens bedürfen; und zum anderen die sehr starke Behauptung, daß die
Formate Gesellschaft, Technologie und Kultur als Kandidaten für eine Rekonstitution immunisierender Beziehungen innerhalb von
Abstraktion ausgeschieden sind.
Damit formuliert er eine sehr starke
Position gegen die hier versuchte, die ja mit dem Begriff der technogenen Nähe
genau das zu erkunden sucht: motivational erfahrbare Eingesetztheit der Menschen
im Ausgesetztsein. Sloterdijks Position zwingt also
dazu, für technogene Nähe eine nachvollziehbare neue
Vermittlung und Vergesellschaftung plausibel zu machen. Denn es besteht der
Anspruch, mit der technogenen Nähe einen Begriff zu entfalten, der mehr beinhaltet
denn das, was Sloterdijk Tele-Sentimentalität[91]
nennt. Und der, dies sei immer wieder betont, am Konzept und an der wie auch
immer interpretierbaren Fassung von „Gesellschaft“ festhalten möchte. Es
geht also nicht um die Erkundung einer weiteren Form anthropogener Inseln[92],
sondern um die Erkundung einer technogenen Vergesellschaftung.
Eine im Kern
dezidierte andere Auffassung über den Stellenwert von Kultur und Technik
vertritt Hans Peter Weber, dessen Texte als positive Spannungsbögen für die
Entfaltung des Begriffs „technogene Nähe“ herangezogen
werden sollen. Die Konzeption einer chaosmischen Anthropologie
Webers[93]
läßt sich vom Gedanken leiten, daß die gegenwärtige Zeit der Geschichte beinahe
eine des Übersprungs von Variation zur Selektion „ist“: Die sozioanthropo-kommunikative
Evolution menschlicher Gesellschaft, selbst eingebettet in weit ausholendere
Evolutionen des Lebens und der Physis, trete nun in
eine Phase ein, in der die entwickelten, erfundenen und sich ergeben habenden
Variationen (Sprache/ Kommunikation, Arbeit, Kultur und Technik) selektiert
werden; und dies mit dem Effekt, daß der „Anthropokosmos“
auf erhöhter Stufenleiter Anschluß findet an/ restabilisiert
wird in generativere Schübe des Evoluierens
schlechthin.[94] Und wie
es aussieht, werden von den geschichtlich realisierten Variationen wohl nur
„Kultur“ und „Technik“ neosynthetisiert als Selektionskandidaten übrigbleiben;
die ihrerseits, als „Kultur2“, mit „Natur“ neue Variationen
realisieren werden – „Nurture“, „Curture“.
Das Textinstrument
Weber bietet der Präzisierung technogener Nähe eine
umfassende kulturanthropologische Einbettungsmöglichkeit; aber nur dann, wenn
sich plausibel machen läßt, daß sich technogene Nähe
als eine Weise der Einbergung des Menschen weiterhin im Stratum
von Gesellschaftlichkeit und Gesellschaft abspielt, und nicht nur im Stratum der Kultürlichkeit und
der Kultur.
Die Frage wird sein,
inwieweit der Plastizitätsform-Container namens Gesellschaft über seine moderne
Geschichtsetappe hinaus brauchbar oder unbrauchbar sein wird für eine radikale
Umstellung der Zivilisationszucht von der Entbergung hin zur Einbergung. Wenn
also Weber konstatiert: „[E]s gilt, den Zeitgenossen zu zeigen, sie
vorzubereiten darauf, welche Übergänge zivilisatorisch/ kulturell kontrapunktisch
anstehen, auf was sie/ wir hinwachsen können: Curture/
curture-people, erneut: KULTURMENSCHEN (antarchaisch preziöser, raffinierter nun...), austere Elementarteilchen, streng eudaimonistisch,
rigorose Archétecturen“[95]
– dann gilt hier in gleicher Dringlichkeit zu zeigen, ob „Gesellschaft“ selbst
übergangsfähig sein wird oder nicht.
Die Beschäftigung mit
Weber wird in der folgenden Arbeit einen großen Raum einnehmen müssen, da Weber
nach meinem Überblick der einzige Autor ist, der eine ausgearbeitete
posthistorische Theorie der „KulturTechnik“ vorlegt.
Beinahe eine Vorwegnahme der Frage, ob
Menschen weiterhin in Gesellschaften sich generieren, produzieren, sich
reproduzieren (und nicht bloß in kulturethnologisch grenzmarkierten Gemeinschaften),
scheint vom Textinstrument „Marxismus als Methode“ auszugehen, ist doch über/
von Marxismus nur schwer zu reden, wenn man keine Gesellschaft und also keine
Klassenstruktur mehr annimmt! Marxens Kritik war eine an der bürgerlichen
Gesellschaft, an der bürgerlichen Wissenschaft und an der bürgerlichen Ökonomie,
und zwar vom Standpunkt der Arbeiterklasse aus.[96]
Mithin gehört seine Kritik eindeutig in die bürgerliche Formation der Moderne.
Die Frage wird also sein, wo der Marxismus
welche Fermente aufweisen kann, die über seine genetische Konstitution in der
und durch die Moderne hinausweisen, so daß er auch weiterhin für die Analyse
und Kritik nachmoderner Gesellschaft wichtig und brauchbar sein wird. Es genügt
sicherlich nicht mehr wie vor knapp 30 Jahren, den Marxismus im Paradigmakern aufzuspalten, um ihn auf die Höhe der erkenntnistheoretischen
Einsichten zu bringen, etwa dieserart: „Der Marxismus kritisiert faktisch
die Angemessenheit der ‚bürgerlich’-wissenschaftlichen
Analyse des Kapitalismus und moralisch-politisch den Kapitalismus
selbst“.[97]
Gefordert ist vielmehr, den Marxismus danach zu befragen, inwieweit sein Instrumentarium
des Aufweisens falscher Logik und seine Ausrichtung auf die Beseitigung
unnötigen Leids auch nach der historischen Entwertung von Dialektik und
praktischer doppelter Negation umgemodelt werden kann auf Verhältnisse, die
durch fehlende technogene Nähe (gegenwart) und durch Leid ob vorhandener technogener Nähe (Zukunft) gekennzeichnet sind. Denn
daß sich auch im Stand der gesellschaftlichen Technogenität
die Herrschaftsstrukturen der Gesellschaft zu Gestalt bringen, und daß weiterhin
die ökonomischen Verhältnisse und Zwänge Ableitungsquellen für die Gestaltung
anderer Vergesellschaftungen (der Kultur, der Psyche, der Kommunikation, der Arbeit,
und nicht zuletzt der Technikforschung selbst) sein werden, scheint mehr als
evident.[98]
Kurz: Die Frage wird sein, ob für technogene Nähe das gilt, was bisher für fast alle Phänomene
der Technik (paradoxe Ausnahme: Liebestechniken!) galt, nämlich: ihre Grundierung
im Phänomen der a-diskursiven Herrschaftsentfaltung.
Nochmals: Es mag sonderlich erscheinen,
jetzt schon in einer kurzen Zusammenfassung auf diese Probleme der Verhältnisse
(der Theorie) technogener Nähe zu anderen Theorien
und Sachverhalten hinzuweisen, wenn noch nicht einmal geklärt ist, wie der
theoretische Radius des Erklär- und Beschreibbaren technogener
Nähe beschaffen ist. Die Weitläufigkeit der Probleme, die auch dann nicht
verschwunden sein wird, gäbe es zum jetzigen Zeitpunkt schon eine klarumrissene
Parametrisierung der Nähe, macht es jedoch nicht ganz sinnlos, kurz zu
erwähnen, wie sich das hier verfolgte Unternehmen verbinden oder eben nicht verbinden
läßt mit Begriffen bzw. Sachverhalten wie
Moral, Gesellschaftstheorie, Politischen Ökonomie, Anthropologie,
Geld, Weltgesellschaft, Körper und Interaktion.
Das Verhältnis einer prospektierten
technogenen Nähe zum moralischen oder gar ethischen Diskurs ist äußerst
gespannt. Einerseits ist es nicht Absicht, hinter die Betrachtungen Luhmanns
zur Moral und zur Ethik in spätmodernen Gesellschaften zurückzufallen.[102] Auf
der anderen Seite soll die zutiefst humanexpressive Spannung der
Bestimmungen zwischen Sein und Geltung, also Sein und Sollen, nicht einer
kybernetisch aufgefaßten Oszillation bestimmter systemischer Regelkreise
überantwortet werden. Gleichsam soll die Achtung für die sozialisierte
Konstitution und das sozialisierende Potential technologischer Kultur ohne
institutionelle Präskription auskommen können, das
heißt: sich im Gebrauch, in der Handlung, also in der Performanz selbst zur
Geltung bringen.
Das scheint, wie bereits zu Beginn kurz
erwähnt, ein Ding der Unmöglichkeit zu sein, da technologische
Ausdifferenzierung bis dato eher treffender beschreibbar ist als eine Reduktion
und „Deformation“ moralischer, emphatischer und reflexiver Vermögen des Menschen;
und technologische Ausdifferenzierung zudem die Intensität sozialer Beziehung zumeist
einer intensiven technischen Beziehung opfert. Das Verhältnis Moral/ technogene Nähe scheint erst dann ein anschließbares
Problemniveau erreicht zu haben, wenn eine Art Technologievertrag formulierbar
ist, der in sich den Gesellschaftsvertrag (Rousseau) und den Naturvertrag (Serres) aufzuheben vermag, also nach der Ankopplung der
Moral an Theologie (bis zum Ende des 16. Jahrhundert), an Manieren und Gefühl/ common sense (bis Ende des 17. Jahrhunderts), an die
soziale Ordnung und die Rationalität (bis Ende des 18. Jahrhunderts), an die
Transzendentalität und die Geschichte (bis Ende des 19. Jahrhunderts), an die
Sprache resp. das Sprechen und die Ökologie (bis Ende des 20. Jahrhunderts),
nun die Moral in und durch gesellschaftsvermittelnde(r) und gesellschaftsvermittelte(r)
Technologie verständlich machen müßte. Eine mögliche Konsequenz daraus wäre die
Etablierung von „Sozialschutzräumen“ (in Anlehnung an Naturschutzgebieten) und
kulturellen Kyto-Protokollen, denen die Aufgabe zukäme,
aus den Kulturtechniken Techniken der Kultur zu performieren.
Die Bemühungen zur Erstellung einer universellen Konversationsmoral für die
internetvermittelte Kommunikation wie auch erste Formen eines WLAN-Sozialismus[103]
könnten hier erste, embryonale Hinweise geben.
Das Verhältnis zwischen der Begrifflichkeit
„technogene Nähe“ und der Begrifflichkeit
„Gesellschaftstheorie“ ist besonders klärungsbedürftig, da einer der Problemfoci technogener Nähe in
der Frage nach der berechtigten Aufrechterhaltung des Begriffs „Gesellschaft“
zu sich kommt. Damit ist nicht eine gesellschaftstheorieaversive
Einstellung wie etwa die Friedrich H. Tenbrucks
gemeint, der „Vergesellschaftung“ als höchste oder letzte Abstraktion soziologischer
Analyse präferiert.[104]
Viel mehr stünde auf dem Spiel denn Gesellschaft: nämlich die gesellschaftliche
Vermittlung selbst. Dies ist zumindest eine Option, die zu denken sein wird,
auch im Bestreben, am Begriff und am Sachverhalt Gesellschaft mit der technogenen
Nähe festzuhalten. Eine in der Konsequenz katastrophale Zersplitterung der
Gesellschaft in Ligen (Hans Peter Weber) theoretisch etwas entgegenzusetzen,
wie es mit der technogenen Nähe-Untersuchung versucht wird, bedeutet also auch,
eine schlüssige gesellschaftstheoretische Konzeption erstellen zu müssen, die anzugeben
vermag, wie gesellschaftliche Synthesis, Dynamis und Praxis für eine und in
einer Gesellschaft zu denken sind, die reell nicht mehr sinnbasiert, also der
Kapitalisierung vollständig reell subsumiert ist und dabei gleichzeitig – dies
mehr Hoffnung denn Wissen – nicht mehr auf anthropologische, ethnologische,
religiöse und biologische (rassistische) Differenzaufrechterhaltungsideologeme
zurückgreifen kann.
Es wird also darum gehen müssen, trotz
unausweichlicher Historisierung des Begriffs Gesellschaft alle Möglichkeiten
ins Auge zu fassen, die einer kommenden Gemeinschaft im Sinne Agambens („Denn die kommende Politik ist [..] die
unüberwindbare Teilung in beliebige Singularitäten und staatliche Organisation“)[105]
„Paroli“ bieten können, ohne dabei in zivilklinischen Sozialsystemisierungen im
Sinne Luhmanns Halt zu suchen.
Da die hier versuchte Konzeption nur äußert problemhaft auf eine wie auch immer modifizierte
dialektische Methode zurückgreifen kann, wird die Frage, wie aus der Logik der
Kapitalverwertung und der Praxis der Warenproduktion so etwas wie technogene Nähe entspringen können soll, zu einer schier
unbezwingbaren Aufgabe. Die Konstitution der Kommunikation durch/ mit technogene(n) Formen ist nicht aus dem Muster der
Produktion ableitbar; und damit auch nicht aus dem weiterhin zentralen
Stoffwechselmodus der Arbeit. Somit entfällt für technogene
Nähe die Möglichkeit, im Begriff der Arbeit die bekannte Differenz zwischen
abstrakter und konkreter Arbeit einzubauen. Und damit entfällt natürlich die Aussicht
auf eine inhärente Inversion der kapitalistischen Produktionsweise. Das hätte
man vor 20 Jahren bestimmt anders zu deuten gehabt, als die
Lebensweltkonzeptvorstellungen von Habermas diskutiert,
Bereiche jenseits der Produktionslogik ausgemacht und mit eigenen
Rationalitätskriterien ausgestattet wurden („reflexive Dienstleitungsarbeit“),
um ein zumindest nicht-instrumentelles Verhältnis zur Arbeit und damit neue
Akteure und neue Rationalitäten für möglich zu halten.[106]
Heute scheint es kaum mehr chancenreich zu
sein, eine Aufhebung der bisherigen Form und Materialität der Arbeit als entfremdete
Lohnarbeit als durch innere Friktionen der politischen Ökonomie bedingt zu
denken. Arbeit hat zwar ihre Eindeutigkeit verloren; die gewonnene Ambivalenz
scheint allerdings eher in Ligenbildung denn in „universelles Produzieren“
(Karl Marx) einzumünden. Die Erkundungen nach Möglichkeiten technogener
Nähe müssen also eine Antwort darauf geben, welcher Arbeitsbegriff und welche
Formatierung der Arbeit vorausgesetzt zu sein hat, damit technogene
Nähe eine neue Weise der organischen Solidarität jenseits der mächtigen
Strukturen der Arbeitsteilung[107]
zumindest anzudeuten vermag – denn technogene Nähe
und kapitalistische Produktionsweise gehen nicht zusammen.
Kommunikationsökonomisch formuliert: Technogene Nähe kann nicht Bestandteil der
Unterhaltungsindustrie werden; damit gehört sie zu den möglichen formenden und
entformenden Mächten, deren Prägekraft nicht ausreicht, um mit der Kraft der Unterhaltung
in Wettbewerb treten zu können.[108]
Der nun in die forcierende Phase eintretende
„Umbau“ der Arbeitsgesellschaft, also die makrosoziologische Entkopplung von Arbeit
und Wohlfahrt, läßt für dieses Problem ineins enormen
interpretativen Spielraum wie auch enorme Unlösbarkeiten
erwarten.
Das Verhältnis der hier verfolgten Theorie
zur Anthropologie gestaltet sich auf eine extrem zwiespältige Weise. Denn
einerseits wird der Versuch unternommen, technogene Nähe
ohne anthropologische Unterfütterung zu beschreiben, zumindest ohne eine solche,
die die Funktion erfüllt, bei noch so abstrakter Dekonstruktion und
Dekomposition des Menschen einen Begriff vom Menschen aufrechtzuerhalten.
Andererseits wird die stark zu machende Behauptung, daß sich innerhalb der
sozialen Evolution nun ein bestimmtes anthropologisches Vermögen ausbilden
könnte – das Vermögen zur motivationalen Beziehung
mit sozial unwahrnehmbaren Abstrakta – nicht umhin können, auf eine Vorstellung
von Anthropologie, und sei es auch nur eine zutiefst soziologische oder
kybernetische Anthropologie, zurückzugreifen.
Entscheidend wird demnach sein müssen, das
Theorem einer nun möglichen Ontogenese der Kultur qua Technologie so auszuarbeiten,
daß einsichtig werden kann, warum das Konzept der Genealogie[109]
nicht mehr greift, um die Ontopoiesis der Kultur als
von der Ontopoiesis des Menschen herkommende zu
erfassen. – Mit dem kultur- und kosmologietheoretischen Begriff der Kreaturalität Hans Peter Webers ist zumindest ein Kandidat
vorhanden, um den uns bekannten Menschen mit dem zukünftigen Menschen in seiner
psychischen-sozialen-kreaturalen Befindlichkeit auf
neue Weise zu bedenken.
Was die Frage nach dem Verhältnis technogene Nähe/Geld betrifft, überschlagen sich die
möglichen Problemperspektiven. Nicht nur, daß die Behandlung des Themas Geld verzichten
muß auf die Nachahmung der sehr eleganten Lösung Simmels, seine Philosophie des
Geldes fern jeder nationalökonomischen Konnotation entworfen zu haben[110];
sie hat zudem davon auszugehen, daß über 100 Jahre nach Simmels Großessay die
ökonomischen Wertungen und Bewegungen nun selbst zu tieferliegenden Strömungen
geworden sind, der individuelle und gesellschaftliche Geist also nun mehr denn
je Ausdruck geworden und nicht mehr Ausdrückendes ist.[111]
D.h., in einem nichtsystemtheoretischen Sinne verstanden:
Geld übernimmt als dezidiert fürs
Wirtschaftssystem geeignetes Kommunikationsmedium in vermehrter Weise auch die
Kommunikation in anderen Systemen, wenngleich dort nicht in den Werten des
Zahlens und Nichtzahlens, sondern eher in denen der Distanzierung und des Engagements.[112] Die
Generalisierung der praktisch unendlichen Tauschmöglichkeit durch Geld als
maßgebender „Treibstoff“ für die gesellschaftliche Synthesis seit der Neuzeit
und die Invasion dieser sich prozessierenden abstrakten Gesellschaftlichkeit in
die Bereiche der Kultur, der Semantik, der Information, der Mentation
lassen es auf den ersten Blick nicht zu, technogene
Nähe als nichtmonetäres, als nichtmonetarisierbares
gesellschaftliches Verhältnis zu denken. Gleichwohl, so die These, wäre dies
von Nöten, also das Nicht-Ware-Werden technogen
grundierter sozialer Bezüglichkeit, damit die nötige soziale Intensität der
Beziehung Anschluß finden kann an eine motivationale Rezeptivität.
Begreift man das unter dem Etikett
Weltgesellschaft Gemeinte als werdender Prozeß der Abschwächung des
Verhältnisses zwischen marktvermittelter und staatsvermittelter Gesellschaft zu
Gunsten der ersteren, als Prozeß der Schwächung von Bindungen zwischen politischem
und rechtlichem System, als Prozeß der Stärkung des Instituts Vertrag als Rechtsquelle,
sowie als Prozeß der zunehmenden ideologisch-rassistischen Ethnifizierung
als Moment der künstlichen Distinktions- und also Zugehörigkeitspolitiken
(„kulturelle Vielfalt“ versus kulturelle
Abschottung), dann scheint eine verstärkte, technologisch induzierte
Kommunikation, die verstärkt medial, also mehr technisch standardisiert denn
sozial normiert abläuft und ebenso verstärkt eigenwertige
Sozialität generiert, als Kandidat der Ordnungsbildung für globalisierte
Vermittlungsformen genau passend zu sein.
McLuhans Rede vom Weltdorf war zu rhetorisch
gemeint, als daß man darauf ernstlich verweisen könnte. Dennoch erlauben die
Mittel der elektronischen Kommunikation in ihrer gegenwärtigen Phase der
Interaktivisierung den Gedanken, daß nach den ersten Zeichen einer zivilen
Weltgesellschaft (gewiß: weiterhin als Anhängsel der genuin asozialen Weltwirtschaft)
die Bildung von Weltbürgern jenseits der Literatur, der Kunst und der Musik,
also jenseits eines bereits schon reellen ästhetischen Ethos, auf den Weg gebracht
werden könnte.
Zu bedenken (aber: wie zu lösen?) bleibt
allerdings, daß „diese“ Weltgesellschaft de facto nur in einer verschwindend
geringen Größe diese Bildungsmöglichkeiten bereitstellen könnte: Die überwiegende
Zahl der Menschen auf diesem Planeten erfährt mit der Globalisierung der
Ausdifferenzierung von Wirtschaft nur zusätzliche Einschränkung (der Produktion),
Deformation (der Reproduktion) und Freiheitsentzug (der Mentation).[113]
Man muß nicht beim Begriff der Naivität
stehenblieben, um dem Konzept Technogene Nähe indirekt Kritik
wiederfahren zu lassen. Man muß auch nicht bei dezidiert technikphilosophischen
und technikhistorischen Kritiken stehen bleiben, um die Kritik direkt vorzubringen.
Es geht auch grundsätzlicher. In der historisch anthropologischen Linie ‚menschliche
Identität – anthropologische Differenz – exzentrische Paradoxie’ lassen sich
gleichsam Fragen stellen an das hier verfolgte Konzept, die grundsätzlich
Gehalt und Tragfähigkeit technogener Nähe zu
beurteilen erlauben. Focus dieser Linie ist eine fundamentale Ausgeschlossenheit
des Menschen, verstanden als Kontrast zu der hier behaupteten Möglichkeit, via
(Kultur-) Technologie eine Eingeschlossenheit, eine Einbergung gesellschaftlich
zu vermitteln. Skizzierend könnte man diese Linie so fassen:
Die Genese der mächtigen wissenschaftlichen
und politischen Gewohnheit, vom Menschen auszugehen als etwas, das eine Identität
hat und damit tautologisch ist („Der Mensch ist ein Mensch“), kann man vergleichen
mit der Genese des Begriffs Gestalt: Dieser tauchte in dem Moment auf, als das
Wissen über den Elektromagnetismus feststellen konnte, daß nun
menschheitsgeschichtlich erstmals etwas wahrhaft Gestaltloses reproduzierbar
war. Foucaults Analysen zeigen deutlich, wie in der sich ausdifferenzierenden
wissenschaftlichen Organisation des ‚Tatsachen’-,
Deutungs- und Experimentalwissens der Begriff des Menschen als Identitätshalt
für eine schon statthabende Wirklichkeitsfragmentierung herhalten mußte. Die
beinahe vollständige Konzentration des Menschseins auf Bewußtsein und Geist (im
deutschen Idealismus) versuchten diese anthropologische Sonderstellung des
Menschen kulturphilosophisch zu sichern: Der Mensch verhält sich gegenüber der
Welt (Transzendenz), ist aber nicht in der Welt (Immanenz), solange diese nicht
vollständig durch den Geist (Subjekt) rekonstruiert und konstruiert worden ist.
Menschliche Identität als Focus einer Episteme war
nichts anderes als die konsequente Ignoranz gegenüber anthropologischer
Fremdreferenz.
Das
Denken der anthropologischen Differenz konnte sich demgegenüber teilweise von
metaphysischen, ontologischen und transzendentalen Menschfassungen lösen und
den Menschen historisieren/ immanent machen durch die Hervorhebung der
Differenz des Menschen gegenüber: Natur, Gott, Tier, Gesellschaft, Sprache, Maschine.
Die Fremdreferenz nahm an Gewicht zu; die Metaeinheit, zum Teil schon Paraeinheit gewordene Einheit hatte nun zunehmend verbürgt
zu sein über das (im Ziel universell) gleiche Procedere der fremdreferentiellen
Bestimmung (davon lebt gegenwärtig der performative Ansatz in den Kulturwissenschaften).
Der Gattungsbegriff Mensch verlor zunehmend seine inhärente Binde- und Einheitskraft.
Die
Reaktionen darauf waren zum einen eine Flucht nach vorne in forciertere Differenzwahrnehmung
(Kultur als das Tableau des Vergleichs), zum zweiten
eine konsequente Ignoranz gegenüber menschlicher Identität in der Differenz
(Rassismus), zum dritten jedoch das Aufgeben eines Begriffs vom Menschen und
der Identität-Differenz-Bestimmung innerhalb
humanistisch resp. humanzentristischer Fassungen (Kybernetik). Diese letzte,
die kybernetische Fassung von Differenz, nun beinahe ein halbes Jahrhundert
aktiv, reaktivierte den Identitätsbegriff, allerdings nicht mehr spezifisch für
den Menschen, sondern für alle nichttrivialen, operational geschlossenen
Systeme und Maschinen, die sich in irgend einer Form verhalten. Mensch ist nun
ein Name für ein Objekt unter vielen Objekten, Sprache, Arbeit,
Vergesellschaftung usw. Arten des Verhaltens unter vielen Arten des Verhaltens.
Die gesellschaftshistorische Polwanderung
von menschlicher Identität (Schicksal) zu anthropologischer Differenz (Zufall)
ist, so die noch näher zu erläuternde These, heute in einem Umschwung
begriffen: Selbst- und fremdreferentielle
Menschbestimmungen haben ihr Verhältnis zueinander binarisiert. Und daß heißt:
Das Subjekt-Objekt-Verhältnis, das sonst immer ein Drittes ausschloß, wird nun
selbst das Dritte, zum ausgeschlossenen Verhältnis. Aber von was
ausgeschlossen? – Genau an dieser Stelle setzt die exzentrische Paradoxie an.[153] An
dieser Stelle setzte aber auch technogene Nähe an.
Während jedoch erstere nach dem „Ausgeschlossensein von und durch was?“ fragt,
stellt sich mit technogener Nähe die Frage nach dem
„Eingeschlossen in und durch was?“.
Während exzentrische Paradoxie dafür
einstehen würde, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, in dem sie zugleich
anwesend abwesend und abwesend abwesend sind – das
bedeutet zumindest eine Verrückung des Seins; in dem sie zugleich im Innen
außen und im Außen außen sind[154] –
das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sozialen; in dem sie schließlich im
Essentiellen nur noch mit entweder möglichen Unmöglichkeiten oder unmöglichen Unmöglichkeiten
zu tun haben – und das bedeutet zumindest eine Verrückung des Sinns[155],
stünde technogene
Nähe dafür ein, daß Menschen einen Zeitraum bezogen haben, der ihnen erlaubt,
in/mittels der Ferne Nähe herzustellen mit dem gesellschaftlich Unsichtbaren
und Abstrakten.
Die Last der Plausibilisierung
liegt, wie man spürt, eindeutig auf der Einbergungsthese. Entlastung hätte
statt, wenn – um es so groß wie möglich zu sagen – Weltentzauberung sich
darlegen ließe als Teil des Weltenzaubers.
Eine weitere, grundsätzliche Frage an das
Konzept der technogenen Nähe könnte auf den Sachverhalt der Ausgeschlossenheit
zu sprechen kommen, indem sie ebendiese Ausgeschlossenheit als Voraussetzung
für eine gesellschaftlich „richtig“ positionierte Nähe annimmt. Dieser Fragestellung
gemäß wäre es demnach überhaupt nicht wünschenswert, daß sich auf dem Tableau abstrakter Vergesellschaftung eine wie auch immer geartete
Nähe einstellt.[156]
Diese Fragestellung würde also die Beweislast bziehungsweise
die Plausibilisierungsanstrengungen des hier ins Auge
Gefaßten ins Maßlose erhöhen. Sie würde davon ausgehen können, daß es gerade
die abstrakten Beziehungsverhältnisse in der Gesellschaft moderner Prägung
sind, die es ermöglichen, daß Nähe von, zwischen und durch Menschen sich dort
einstellt, wo sie konzentriert sein sollte.
Der Literaturwissenschaftler und
Filmtheoretiker Herbert Neidhöfer gibt einen Eindruck
dieser Fragstellung wieder: „Was aber ist mit der Nähe (der Sloterdijkfragenkomplex)?
– Wenn man grob von der Abfolge: physisch notwendige Nähe (Urhorde), kulturell
notwendige Nähe (Gemeinschaft) und rituell motivierte Nähe (Königreiche,
Nationalstaaten) ausgehen würde, wobei letztere Nähe bereits permanent reproduziert
werden muß und nicht ab ovo gesucht wird und eher den Wunsch nach Emanzipation
und Auflösung nach sich gezogen hat[157] –
könnte man dann nicht sagen, daß die gesellschaftlichen Abstrakta ihr Aufkommen
überhaupt nur der Unnahbarkeit verdanken, daß sie die Überwindung der
notwendigen Nähe bedeuten, und daß das Konzept Nähe über die interaktive Nähe
(Liebe, Freundschaft, Respekt)) hinaus eine Reminiszenz an vormoderne tribale soziale Einheiten darstellt bzw. eine Hochrechnung
aus diesen Formationen heraus und auf die Abstrakta angewandt diese auflösen
würde? Ist gegenüber der Gesellschaft Nähe überhaupt erstrebenswert und kann
das notwendig neu zu definierende Verhältnis zu der Weltgesellschaft nicht ein
anderes als das der Nähe sein? – Anders als Sloterdijk würde ich die
Abwesenheit von Totalnähe nicht als Verlustgeschichte beschreiben, sondern als
die Bedingung für die Möglichkeit, die Nähe auf den Bereich zu konzentrieren,
in den sie gehört. Dies geht aber wahrscheinlich nicht ohne ein Ungleichgewicht
zwischen innerer und äußerer Realität ab [...].“[158]
Beide
Kritikansätze, die hier wieder nur stellvertretend für weitere Formen
grundsätzlicher Kritik des Vorhabens namens „technogene
Nähe“ stehen, evozieren mit hohen Dringlichkeit eine sehr genaue Einbettung des
Konzepts in die historisch-anthropologischen und zivilisationstheoretischen
Beschreibungen, die mehr oder weniger modifiziert auf die eben erwähnten
Ausgeschlossenheitsbedeutungen zurückgreifen.
Die
Beschreibung technogener Nähe muß nachvollziehbar machen,
warum und wie historisch-anthropologisch die quantitativ ausdifferenzierte
Realität der Entbergung nun in eine Qualität der Einbergung münden kann, und
wie damit die Ausgeschlossenheit in der einen Realität (der technotopen
Realität) beschreibbar wird als eine Einbergung in einer anderen Realität (der
„technogenen Nähe“-Realität).
Und
sie muß nachvollziehbar machen, warum das Formenrepertoire der Nähe nicht in
der Dimension der Interaktion (Intimität) ihre kongeniale Realitätsebene
gefunden hat – also in den Straten, die durch die
Evolution der Sinne quasi eine ultrastabile Priorität des Realisiertseins
und des Realisierens besitzen –, sondern durchaus „evolutionsfähig“ und damit
auch in die Ebenen komplexer soziale Systeme, wie es menschliche Gesellschaften
sind, gehören kann – komplexe soziale Systeme, die sich gegenwärtig qua
Technologievergesellschaftung gleichsam in einer evolutionsselektiven Phase
befinden, so nochmals die diesen Sätzen unterlegte These.
Sie
muß schließlich die Frage stellbar machen, ob eine
der grundlegenden Unterscheidungen menschlichen Daseins, nämlich die in Nähe
und Ferne (resp. Engagement und Distanz, öffentlich/polis
und privat/oikos, erkannt und unerkannt), eine für
die Zukunft sich vollständig gemodelt habende und weiterhin tragende Unterscheidung
sein wird, um zu erklären, wie die millionenfache Reproduktion von Psychen und
Sozialität funktionieren könnte mittels Arbeit, Sprache, Staat und
Gesellschaftlichkeit, die nicht mehr wie bisher anthropologisch unterfüttert
sein werden.
Kants
Satz: „Es ist merkwürdig, daß wir uns für ein vernünftiges
Wesen keine andere schickliche Gestalt, als die eines Menschen denken können“[159]
könnte damit an die Grenze der Selbstverständlichkeit gekommen sein; ineins mit dem Auftauchen eines neuen Horizonts, der uns
auf die Suche gehen läßt nach Kandidaten, die den „vernünftigen Menschen“
aufgehoben haben werden. Das Riesenproblem hier liegt nicht so sehr in der
Suche selbst als vielmehr darin, daß dieses kantianische
„wir“ und dieses „uns“, die wir suchen, beinahe vollständige Fiktionen geworden
sind, die nicht mehr den Weg suchen in die Gesellschaft als etwas jenseits von
Wille und Vorstellung – auch wenn diese Gesellschaft eine imaginäre Institution
ist (Cornelius Castoriadis) –, sondern die nur noch
den Eingang zu finden suchen in die medientechnisch aufgerüstete Imagination
als ‚gesellschaftliche Institution’.
D.h.:
Profunde Unterschiede zwischen der Analytik und der Ökologie von „Geist“ und
„Körper“ (Materie) lassen sich immer schwieriger finden. Und damit auch immer
schwieriger ein Wissen darum, was sozial verbunden werden muß, damit eine
soziale Verbundenheit Realität werden kann jenseits der Vorstellung – aber
inmitten der Herstellung, der Operation, des Ereignisses, die, Anders bleibt
hier weiterhin gültig, gleichsam nicht mehr vorstellbar sind. Also:
Gesellschaft nach dem Ende der Vorstellung (Jochen Hörisch),
Gesellschaft in der Herstellung. Doch nicht als oder im Gestell.
Hans
Günter Holl fand im Zusammenhang mit Whiteheads Kosmologie für genau diesen unmöglichen
Denkzustand folgende optimistische Sicht: „Die grundlegende und konstitutive
Freiheit der konkreten, den wirklichen Prozeß vorantreibenden Ereignisse verbietet
ihre Gleichsetzung mit den starren Strukturen der abstrakten Realität. Wer die
Realität beschreibt, trifft nicht die Wirklichkeit. Noch die ehernsten
Institutionen, Weltbilder und Systeme sterben eines Tages ab und fallen in sich
zusammen, wenn der wirkliche Prozeß sie überwindet, einfach hinter sich
zurückläßt und zur Bedeutungslosigkeit verdammt.“[160]
Schwierigkeiten und in eins Hoffnungen macht
in diesen Sätzen natürlich das, was Holl den
„wirklichen Prozeß“ nennt (als Nachfolgebezeichnung für das „Sein“ resp. für
das „Werden“). Die neusten, noch sehr uneinordbaren
Versuche, diesen wirklichen Prozeß bestimmbar zu machen, können in den
Forschungen Hans Peter Webers gefunden werden, unter den Programmtiteln „KreaturDenken“ und „Chaosmische
Anthropologie“. Allein: An ihnen ist mit einer schmerzlichen Klarheit der tiefe
Sinn eines „Schattenkonturierens im Dunkel“ merkbar; und damit ein Gefühl
vergleichbar dem, mit einem Schlauchboot den Ozean zu durchqueren. Vor allem bemerkbar
wird dabei die riesige Unkenntnis über „naturwissenschaftliche
Sachverhaltsbeschreibungen“ und damit die strukturelle Borniertheit einer
Denkweise, die wenig tatsächliche Interdisziplinarität
ihr eigen nennt.
Auch um diese grundlegenderen
Schwierigkeiten wird es auf den folgenden Seiten zu tun sein: Kann eine technogene Nähe als Modus der sozialen Mit-Geteiltheit
Anteil finden an diesem wirklichen Prozeß, wenn vom Raum auf den Horizont
umgestellt wird?
[1] Siehe: Die Antiquiertheit des Menschen, 2 Bde, hier: Bd.2, München 1992 (1980), p335.
[2] Siehe: Projekt Menschwerdung. Streifzüge durch die Entwicklungsgeschichte des Menschen, Herne 2000, p167.
[3] Siehe: Abstraktion und Einfühlung. Ein Beitrag zur Stilpsychologie, München 91919, p19.
[4] Siehe: Zeitschrift Paragrana, Heft 1/2004, Praktiken des Performativen, hg. von Erika Fischer-Lichte & Christoph Wulf, p133f.
[5] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p223. Diese Aussage bedarf einiger Einschränkungen.
[6] Siehe Johan Hendrik Jacob van der Pot, Die Bewertung des technischen Fortschritts. Eine systematische Übersicht der Theorien, 2 Bde, Assen (Niederlande) 1985, vor allem Bd. 1, p158-277.
[7] Dieses „mit Technologie“ ist das, was vor
nicht langer Zeit noch aus der Perspektive einer postmodernen
Entfremdungskritik beschrieben wurde, z.B.: „Mit den Codier- und
Decodiersystemen erfahren wir, daß es Realitäten gibt, die auf neue Weise
ungreifbar sind. Die gute alte Materie erreicht uns am Ende als etwas, das in
komplizierte Formeln aufgelöst und wiederzusammengesetzt worden ist. Die
Wirklichkeit besteht aus Elementen, die von Strukturgesetzen (Matrizes) in
nicht mehr menschlichen Raum- und Zeitmaßstäben organisiert wird“;
Jean-François Lyotard u.a., Immaterialität und Postmoderne,
dt., Berlin 1985, p11.
[8] Die Differenzen des Terms zu anderen Termen, etwa zu ‚Technologische Formation’, ‚Technische Zivilisation’, ‚Technik als Sozialbeziehung’, ‚Technisches Zeitalter’ und dergleichen mehr werden später behandelt. Entscheidend wird sein, technogene Nähe als kulturelles fading und nicht als weitere Erscheinung zivilisatorischer Zucht (forcing) zu plausibilisieren. Von daher verbietet sich jede Rede von ‚kulturellen Sektoren’.
[9] Gemeint ist damit eine Soziologisierung dessen, was bei Whitehead das „kosmologische Ideal“ genannt wird. Siehe hier schon, bezogen auf die subsemantische resp. mantische Kommunikationsoperationalisierung technogener Nähe, weiterführend Reiner Wiehl, Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie, in: Friedrich Rapp & Reiner Wiehl (Hg.), Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Internationales Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg/ München 1986, p141-167. – Dieser anvisierte kreaturale Imperativ geht konzeptionell weit über das hinaus, was Manfred Faßler mit „intensive Anonymitäten“ zu fassen sucht. Dazu später mehr.
[10] Dieser Satz ist sehr erläuterungsbedürftig. Vorerst nur dies: Behauptet wird nicht eine Art Autopoiesis des (Gemein-)Sinns, sondern eine Art Emergenz soziablen Daseins aufgrund von Technologie-Vergesellschaftung. Technologie heißt hier: Dinge, die gesellschaftliche Wünsche, Bedürfnisse, Begehrnisse und Problemlösungen in hochverdichteter Weise manifestieren, ohne tentativ auf eine weitere symbolische Vermittlung angewiesen zu sein.
[11] Ein Ausdruck von Bin Kimura. Die „Koenästhesie bezeichnete Empfindung meint also im Unterschied zur konkreten Körpersensation auf der realen Ebene einen Sinn für das praktische aktuale Verhalten gegenüber der Welt und den Anderen“ (derselbe, Leben und Tod in der anthropologischen Medizin, in: Rainer-M.E. Jacobi/ Peter C. Claußen/ Peter Wolf (Hg.): Die Wahrheit der Begegnung. Anthropologische Perspektiven der Neurologie. Festschrift für Dieter Janz, Würzburg 2001, p293-303, hier: p295).
[12] Christina von Braun, Altes Wissen in neuem Gerät, in: Zeitschrift Paragrana, Heft 2/2001, Thema: Horizontverschiebung. Umzug ins Offene? (hg. von Dietmar Kamper und Christoph Wulf), p62-80, hier: p67.
[13] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p85f.
[14] Olaf Breidbach, Neue Natürlichkeit?, in: derselbe und Werner Lippert (Hg.): Die Natur der Dinge. Neue Natürlichkeit, Wien, 2000, p6-26, hier: p8. Breidbach versteht (in Frage) anthropogene Technik als Möglichkeit, „die vom Menschen geformte Welt unseres Planeten zumindest in Teilbereichen [..] wieder zurückzukorrigieren“ (ebenda).
[15] Siehe dazu David Kaldeway, Technik als Durchgriff auf die Realität?; Manuskript des Vortrages am 18.05.05 in Berlin (menschen formen AG), p13; Druckfassung mit dem Titel „Die Paradoxie der Realität und ihre Entfaltungen“ aufgelegt in: plateau. Zeitschrift für experimentelle Kulturanthropologie, Heft 2/ 2005, Thema: Technik als soziales Medium, p16-28.
[16] Derselbe, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, dt., FFM 1983, p120.
[17] Eggert Holling, Peter Kempin, Identität, Geist und Maschine. Auf dem Weg zur technologischen Zivilisation, Reinbek 1989, p15.
[18] Friedrich A. Kittler und Georg Christoph Tholen, Vorwort der Herausgeber, in: dieselben (Hg.), Arsenale der Seele. Literatur- und Medienanalyse seit 1870, München 1989, p7-11, hier: p9. Ähnlich, wenngleich in den Konsequenzen ambivalenter, spricht auch Paul Virilio „von einer Technologie, die sich von sozio-ökonomischen und kulturellen Bezügen gelöst hat und es nunmehr darauf anlegt, zur Metapher der Welt zu werden und sich als Revolution des Bewußtseins aufzuspielen. Im Grunde soll damit nur der Pseudo-Zustand rationalen Wachseins durch den künstlichen Zustand paradoxen Wachseins ersetzt werden; man bietet den Menschen eine Unterstützung, die inzwischen subliminal geworden ist, d.h. unterhalb der Bewußtseinsschwelle funktioniert“ (ders., Ästhetik des Verschwindens, dt., Berlin 1980, p47).
[19] Siehe dazu aus literarischer Perspektive Solvej Balle, Nach dem Gesetz. Vier Berichte über den Menschen, dt., Berlin 1996.
[20] Analog zum Vorhaben von Habermas, „[d]ie Idee einer Erkenntnistheorie als Gesellschaftstheorie“ zu entfalten; siehe: Derselbe, Erkenntnis und Interesse, FFM 41977, p59-87. Denn es reicht sicher nicht aus, mit der Technologie „technogene Nähe“ eine Neuauflage der Marx’schen Konzeption eines automatischen Emanzipationsprozesses der Menschengattung durch und in der verwissenschaftlichen Produktion (von Sozialität) zu kreieren. Habermas: „Auch in den Grundrissen findet sich schon die offizielle Auffassung, daß die Transformation von Wissenschaft in Maschinerie keineswegs eo ipso die Freisetzung eines selbstbewußten, den Produktionsprozeß beherrschenden Gesamtsubjekts zur Folge hat. Dieser anderen Version zufolge vollzieht sich die Selbstkonstituierung der Gattung nicht nur im Zusammenhang des instrumentellen Handelns von Menschen gegenüber Natur, sondern zugleich in der Dimension von Gewaltverhältnissen, die die Interaktionen der Menschen untereinander festlegen“ (p69).
[21] Siehe dazu weiterhin aussagekräftig Friedrich H. Tenbruck, Zur Kritik der planenden Vernunft, Freiburg/München 1972, z.B. p150ff.
[22] Hans Günter Holl, Stufen der Abstraktion. Affirmative und kritische Elemente in der Kosmologie A.N. Whiteheads, www.drhgholl.de.vu/ (03/2004), o.S.
[23] Diese Frage wurde von mir nur oberflächlich behandelt im Buch Exzentrische Paradoxie. Sätze zum Jenseits von Differenz und Indifferenz, Marburg 2003, Kapitel: Technische Existenz/ Generative Exzellenz.
[24] Sein Buch Technik und Herrschaft. Vom Hand-werk zur verdinglichten Blockstruktur industrieller Produktion (FFM 1977, besonders p384ff.) wäre als materialistische Vorschrift zu verstehen, mit Technikutopien ob einer erneuten sozio-technischen, „anthropologischen“ Revolution sehr vorsichtig zu sein.
[25] Siehe sein Buch Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹ (FFM 1969, besonders p48ff.).
[26] Andrew Feenberg, Heidegger und Marcuse: Zerfall und Rettung der Aufklärung, in: Zeitschrift für kritische Theorie, 14/2002, p39-55. Siehe auch, den Unterschied zwischen produktivem und praktischem Handeln stark machend, Karl-Heinz Ilting, Grundfragen der praktischen Philosophie, hg. von Paolo Becchi und Hansgeorg Hoppe, FFM 1994; darin: Technik und Praxis bei Heidegger und Marx, p326-336.
[27] Günter Ropohl, Eine Systemtheorie der Technik. Zur Grundlegung einer allgemeinen Technologie, München/Wien 1979, p12. – Siehe zu weiteren Topoi-Emergenzen (Chiro-, Phono-, Utero-, Thermo-, Eroto-, Ergo-, Aletho-, Thanato- und Nomotop) Peter Sloterdijk, Schäume, Bd.III der Sphärologie, FFM 2004, p364-490.
[28] Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990, p262f.
[29] Severin Müller, Dimension und Mehrdeutigkeit der Technik. Die Erörterung des Technischen bei Martin Heidegger und in der gegenwärtigen Reflexion, in: Philosophisches Jahrbuch, 2/1983, p277-298, hier: p297. – Zur grundlegenden Umorganisation des Endlich-/Unendlichkeitsgefüges in der abendländischen Denkentwicklung siehe weiterhin Alexandre Koyré, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, dt., FFM 1980 [orig. 1957].
[30] Zum Verhältnis von Raum, technogener Nähe und Sphäre wird es im Hauptteil noch erhebliche Probleme der Passung geben. Genannt seien jetzt nur die Autoren Max Jammer, Peter Sloterdijk (zum Teil kontrainduktiv) und Michael Hauskeller, mit deren impliziter Hilfe die Verhältnisprobleme erörtert werden sollen.
[31] Ernst Blochs Formulierung, siehe: derselbe, Das Prinzip Hoffnung, 2 Bde, FFM 1959, p814.
[32] Wolfgang Kaempfer, Der stehende Sturm. Zur Dynamik gesellschaftlicher Selbstauflösung (1600-2000), Berlin 2005, p21f.
[33] Derselbe, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p26.
[34] Lothar Hacks, Vor Vollendung der Tatsachen. Die Rolle der Wissenschaft und Technologie in der dritten Phase der Industriellen Revolution, FFM 1988, p237.
[35] Die meines Erachtens überzeugende Vorstellung einer anderen Technik von Otto Ullrich (ders., Technik und Herrschaft, a.a.O., p384-465) bleibt hier in den Bereichen der Soziologie (nicht der Philosophie) Hauptreferenz.
[36] An dieser Eigenschaft des Gesellschaftsbegriffs, ‚strukturell’ offen zu sein, um seinem ‚Gegenstand’ zu genügen, halte ich fest.
[37] So der Titel eines Aufsatzes von Peter Menke-Glückert (in: Merkur, Heft 1+2/ 1968, p126-140) zu einer Zeit, als die kapitalistische Globalisierung wohl zum ersten Mal nachhaltig dazu führte, daß sich „Europa“ auf allen Ebenen nur noch als defizitär betrachten konnte („Bildungskatastrophe“, Demokratiedefizit etc.).
[38] Siehe zu dieser Unterscheidung Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin 1963, p27.
[39] Konventionell als Wut, Angst, Trauer und Freude zusammengefaßt (Heinz-Günter Vester, Emotion, Gesellschaft und Kultur. Grundzüge einer soziologischen Theorie der Emotionen, Opladen 1991, p32ff.).
[40] Derselbe, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p14.
[41] Dieter Claessens, Das Konkrete und das Abstrakte. Soziologische Skizzen zur Anthropologie, FFM 1980; Martin Heidegger, Die Technik und die Kehre, Pfullingen 1962; Wolfgang Hogrebe, Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996; Alexander Kluge, Die Chronik der Gefühle, 2 Bde, FFM 2000; Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle. Understanding Media, dt., Düsseldorf/ Wien 1968 (orig. 1964); Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 2 Bde, FFM 1997; Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/New York 1996; Peter Sloterdijk, Sphären, Bd.1: Blasen; Bd.2: Globen, Bd.3: Schäume, FFM 1998ff.; Hans Peter Weber, KreaturDenken, unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2001 (fortlaufend); Christof Helberger, Marxismus als Methode. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Methode der marxistischen politischen Ökonomie, FFM 1974.
[42]
Dieter Claessens, Das Abstrakte und das Konkrete. Soziologische Skizzen zur
Anthropologie, FFM 1993 (1980), p159.
[43]
Verf., Soziologische Marginalien 3, Marburg 2000, p181-188.
[44] Dieter Claessens, Das Abstrakte und das Konkrete, a.a.O., p17. Siehe auch Sigmund Freud, Das Unbehagen in der Kultur (1930), in: Derselbe, Werkausgabe in 2 Bänden, hg. v. Anna Freud u. Ilse Grubich-Simitis, FFM 1978, Bd.2, p367-424 (siehe auch: GW, Bd.9, FFM 1974, p197-270), wenn er von der „Unzulänglichkeit der Einrichtungen“ spricht, „welche die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat und Gesellschaft regeln“ (p383).
[45] Martin Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, Bd.79 der GA, hg. von P. Jaeger, FFM 1994.
[46] Heidegger, Bremer und Freiburger Vorträge, a.a.O., Vortrag: Das Ding, p5-23, hier: p22f.
[47]
Verlag Günther Neske, Pfullingen. Im weiteren die Zitierquelle.
[48] Heidegger, Die Technik und die Kehre, a.a.O., p38.
[49] Ebenda, p39.
[50] Eine vollständige Gegenposition sei hier schon skizzenhaft erwähnt, nämlich die von Humberto Maturana: „Ich bin der Meinung, daß die Aufgaben des täglichen Lebens die grundlegenden Aktivitäten unserer menschlichen Existenz sind, weil alle technischen Aktivitäten, wie verfeinert sie auch immer erscheinen mögen, nur Ausdehnungen der Aufgaben des täglichen Lebens sind und faktisch als alltägliche Aufgaben gelebt werden. So ist z.B. die Biologie eine Ausdehnung des sich um die Tiere und Pflanzen des Haushalts Kümmerns, Chemie ist eine Ausdehnung des Kochens, Physik eine Ausdehnung des Hausbaus, und Philosophie eine Ausdehnung der Aufgabe, die Fragen von Kindern zu beantworten [...]“; Humberto R. Maturana, Biologie der Realität, dt., FFM 1998, p10f. Eine ähnliche Mikro/ Makro-Struktur entwickelt Peter Sloterdijk mit seiner „allgemeinen Theorie der autogenen Gefäße“; Sloterdijk startet seine Sphärologie (Blasen; Globen; Schäume, FFM 1998ff.) von einer grundlegenden Überzeugung aus: daß nämlich alle Großprojekte wie die großtechnische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt und die Mediasphäre auf die Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginären Sphärensicherheit zielen; mithin also keine unabgeleitete Begriffs- und Sachverhaltsdignität besitzen.
[51] G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, Bd.3 der WA, FFM 1970, p82-107.
[52] Diese Art wissenschaftsinterner Kritik hat eine lange Tradition. Einer der vielleicht wichtigsten Vertreter dieser Tradition ist Francis Bacon; siehe etwa sein Buch „Neues Organ der Wissenschaften“, dt., (orig. 1620), übersetzt und herausgegeben von Anton Theobald Brück (1830), Darmstadt 1990 (unveränd. reprograph. Nachdr. d. Ausg. Leipzig 1830), p22: „Es bleibt nur noch Ein Weg zur Rückkehr offen: nämlich die ganze Arbeit des Geistes von vorn wieder anzufangen, denselben von Anfang an durchaus nicht sich selbst zu überlassen, sondern ihn stets zu leiten und die Sache wie durch Maschinen zu bewerkstelligen.“
[53] Untertitel: Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens, FFM 1996. Seitenzahlen folgender Zitate werden im Text genannt.
[54] Humberto R. Maturana, Was ist Erkennen?, dt., München 1994, p41.
[55] „Im Turingschen Sinne müßte es darum gehen, daß unsere Reaktionen auf den Computer nutzbar gemacht werden, daß er mit uns einen Turing-Test durchführen darf, um unsere Intelligenz festzustellen. [...] Das wäre dann nicht mehr die auf sich selbst zurückgeworfene Interaktivität, sondern es wäre eine sich fortsetzende Interreaktivität“; so Mathias Mertens, Die Maschine, die es gut mit Ihnen meint, in: Freitag, 03/2004 (Internetausgabe, Abruf: 01.01.04).
[56] Denken kann man hier auch an Vilém Flussers Begriff der Gestimmtheit (derselbe, Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Düsseldorf/ Bensheim 1991, p7-21).
[57] Wolfgang Kaempfer, Der stehende Sturm. Zur Dynamik gesellschaftlicher Selbstauflösung (1600-2000), a.a.O., (Abschnitt „Korrespondenz“, p234f.).
[58] Auf die Riskantheit dieses „Am Bewußtsein vorbei“ hat mich dankenswerter Weise Otto Ullrich hingewiesen; und darauf, exakt dafür eine neue Kritikform jenseits der Psychoanalyse miterarbeiten zu müssen. Bis dahin steht das Konzept der technogenen Nähe weiterhin unter Verdacht, quasi-paternalistisch die fieberhafte Unruhe der Einzelwesen (Empedokles) tilgen zu wollen, unter dem Deckmantel einer soziologisch gerahmten Pazifizierungsanstrengung.
[59] Siehe zur ähnlichen Fragestellung, bezogen auf das Verhältnis von diskursiv und ästhetisch orientierter Erlebensverarbeitung: Verf., Thesen zur möglichen Inkommensurabilität von diskursiver Rationalität und performativ-ästhetisch grundierter Auseinandersetzung mit gedanklichen Abstraktionen, in: derselbe, Soziologische Marginalien 2, Marburg 2000, p116-123.
[60] Niklas Luhmann, Die Wissenschaft der Gesellschaft, FFM 1990; Wolfgang Krohn & Günter Küppers, Die Selbstorganisation der Wissenschaft, FFM 1989.
[61] Damit wird nicht „für den Ausstieg aus unserer technisch-wissenschaftlichen Kultur“ plädiert, wie es 1992 Godela Unseld mit ihrem Buch Maschinenintelligenz oder Menschenphantasie? (FFM) sehr treffend tat. Vielmehr soll versucht werden, Wissenschaft und Technik danach zu befragen, inwieweit sie nun endlich Kultur werden können, und zwar Kultur, die Resonanzen entwickeln kann für die Generativität der Physis und für die Gerechtigkeit des Nomos. Kritisch dazu jedoch Otto Ullrich: „Was ist hier mit Wissenschaft und Technik gemeint? Warum wird nicht unterschieden (beschreibende Wissenschaft, manipulierende Wissenschaft, mathematisch-experimentelle Wissenschaft, verwissenschaftlichte Technik, handwerkliche Technik...)? Vermutlich ist die herrschende mathematisch-experimentelle Naturwissenschaft gemeint und die verwissenschaftlichte Technik. Warum sollten sie zur Kultur werden, wo sie doch beide schon im Ansatz eine Fehlentwicklung sind, die kein annehmbares Entfaltungspotential haben? [..] Wäre es überhaupt sinnvoll, daß Wissenschaft und Technik zu Kultur werden, auch wenn sie mitweltverträgliche wären? Würde dadurch nicht verschüttet werden, daß Technik und Wissenschaft Mittel und Verfahren sind? Die zweckvergessene und mittelzentrierte kapitalistische Industrie-Kultur würde so zum kulturellen Naturzustand. [...]“; schriftliche Notiz, 2003.
[62] Siehe zur Unterscheidung Wirk- und Merkwelt Jürgen von Stenglin, Denken der Wirklichkeit. Eine sprachlich und kognitiv fundierte Theorie der Erkenntnis, Würzburg 1990, p67ff.
[63] Alexander Kluge, Verdeckte Ermittlung. Ein Gespräch mit Christian Schulte und Rainer Stollmann, Berlin 2001, p43.
[64] Hierzu Hans Peter Weber: „Um einigermaßen
griffige Daseinsanalyse in pragmatischer Absicht, d.h. unter Herausforderung
von Daseinskultivierung zu schaffen, muß man ‚von sehr weit herkommen’, – von > vor Homer <. Darin folgen wir Mallarmé, der konstatierte, ‚dass die Poesie, seit der »großen
Abirrung Homers« den Weg verloren habe. Als man ihn fragte, was vor Homer war,
antwortete er: Orpheus’ [Hugo Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik,
Hamburg 1968, 2., erw. Aufl., S. 139 (zit. nach: H. Mondor,
Vie de Mallarmé, Paris 1951, S. 638)]. Und: man muß zudem
auf etwas Zukunfts-beschlossenes – und somit schwach Attraktivierendes
zugehen, auf die ‚komplex’/ perplex wiederkehrende Kultur, auf den
posthistorischen, auf den Zweiten Kulturzustand auf Erden“; Hans Peter Weber,
Pixel; unveröffentlichtes Manuskript, Berlin 2005, o.S.
[65] Kluge, Chronik der Gefühle, Bd.II: Lebensläufe, FFM 2000, p7. Ausführliches dazu auch in: derselbe, Verdeckte Ermittlung, a.a.O., p44f.
[66] Dieselben, Maßverhältnisse des Politischen. 15 Vorschläge für das Unterscheidungsvermögen, FFM 1992.
[67] Negt/ Kluge, Maßverhältnisse des..., a.a.O., p22f.
[68] Negt/ Kluge, Maßverhältnisse des..., a.a.O., p46f. Siehe zu Ähnlichkeiten mit der Alfred Sohn-Rethelschen Positionierung der Taylorschen Zeitökonomie als Formprinzip, das im gleichen Maße für den Sozialismus wie für den Faschismus vorbereiten kann: derselbe, Technische Intelligenz zwischen Kapitalismus und Sozialismus, in: Richard Vahrenkamp (Hg.), Technologie und Kapital, FFM 1973, p26; zitiert nach: Otto Ullrich, Technik und Herrschaft, a.a.O., p425.
[69] „Die Verwandlung des Menschen in Rohstoff hat wohl [...] in Auschwitz begonnen. [...] denn nicht Menschen wurden getötet, sondern Leichname hergestellt [...]“ (Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p22).
[70] Wolfgang Hagen, Zur medialen Genealogie der Elektrizität, in: Rudolf Maresch & Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, FFM 1999, p133-173, hier: p148.
[71] Dieselbe, E-Motion – Was bewegt uns an den Medien? Über fiktive Welten, virtuelle Kontakte und die Realität der Gefühle, veröffentlicht auf: Parapluie (I-Zeitschrift; www.parapluie.de/archiv/cyberkultur/emotion); 15.10.02.
[72] Fritz J. Raddatz sah übrigens diese behauptete Denkentwertung durch McLuhans Buch selbst ausgeführt; siehe seine frühe, vernichtende Rezension in: Merkur, Heft 4/1967, p386-391 (Vom Elfenbeinturm zum Kontrollturm. Zu den Theorien Marshall McLuhans).
[73] Es geht bei dieser Modelung, so Virilio kritisch (Ästhetik des Verschwindens, a.a.O., p48f.), um das Erlebnis von Dauer ohne Ereignisse, um die Erzielung einer massenhaften sensorischen Wirkung, um das Zusammenschließen der verschiedenen Sinneswahrnehmungen, um die Transparentmachung des Bewußtseins, schließlich um die Adressierung von abstrakten Vorstellungen von abstrakten Einheiten menschlicher Organisation.
[74] Dieselbe, Technik und Körper, Berlin 1990, p6f.: „Und mit dem Verschwinden der Materie, selbst der des technischen Körpers, aus der Bestimmung und Funktionslogik der Maschine – dem Computer – kann auch der Körper aus dem Selbstverständnis des Menschen verschwinden.“
[75] Exemplarisch dieser Satz: „Im gegenwärtigen Zeitalter der Elektrizität erleben wir, wie wir immer mehr in die Form der Information verwandelt werden und einer technischen Erweiterung des Bewußtseins entgegengehen“ (McLuhan, Die magischen Kanäle, a.a.O., p68).
[76] Das ist der Grund, warum McLuhans Vorstellungen ergänzt werden müssen durch die Beschäftigung mit Vilém Flussers Buch Vom Subjekt zum Projekt. Menschwerdung, FFM 1998.
[77] Richtig müßte es heißen: R*Evolution, eine Schreibweise Hans Peter Webers, die das spezifische Moment der sprunghaften Umbrechung von Entwicklung für die menschlichen Gesellschaften stärker betont.
[78] Peter Fuchs, Die Umschrift. Zwei kommunikationstheoretische Studien, FFM 1995, p26f.
[79] Fuchs, Die Umschrift, a.a.O., p27.
[80] Siehe ausführlicher dazu Verf., Invasive Introspektion. Fragen an Niklas Luhmanns Systemtheorie, München 1999, p147-154.
[81] Heiner Mühlmann, Die Natur der Kulturen. Entwurf einer kulturgenetischen Theorie, Wien/ New York 1996, p144f.
[82] Ebenda, p144. Mühlmann geht allerdings nicht soweit, den Wettbewerb – verstanden als Grundlage des zu zivilisierenden Stressors – als Quelle des Falschen auszumachen.
[83] Ebenda, p146.
[84] Ebenda.
[85] „Die Geschichte als Geschichte soziokultureller Lebensformen beginnt in der Ontogenese“, sagte Günter Dux (Die Logik der Weltbilder. Sinnstrukturen im Wandel der Geschichte, FFM 1982, p66). – Jetzt, so die These, könnten oder müßten die soziokulturellen Lebensformen selber eine ontogenetische Evoluierung einschlagen, nämlich u.a. mittels technogener Nähe.
[86] Derselbe, Sphären, Bd. III: Schäume, FFM 2004, p57. Siehe vor allem p261ff.
[87] Man könnte auch von einem Mißlingen der „Kreation einer neuen Mater“ sprechen, vom Scheitern des Versuchs, „Mater-ie“ zu bilden, die Ich ist. Siehe Astrid Meyer-Schuberts Beschäftigung mit der Schellingschen Frühphilosophie (Mutterschoßsehnsucht und Geburtsverweigerung. Zu Schellings früher Philosophie und dem frühromantischen Salondenken, Wien 1992, p83).
[88] Sloterdijk, Schäume, a.a.O., p411.
[89] Peter Sloterdijk, Sphären, Bd. II: Globen, FFM 1999, p1003f.
[90] Sloterdijk, Sphären, Bd. III: Schäume, a.a.O., p60. In den drauffolgenden Sätzen wird deutlich, daß Sloterdijk systematisch operative Geschlossenheit mit systemischer Abgeschlossenheit verwechselt, um seinen neo-monadologischen Ansatz mit Plausibilität zu versorgen.
[91] „Selbst der heruntergekommene Ausdruck Solidarität, an den die elanlose Linke unserer Tage ihre Seele hängt (und der aktuell so etwas wie Tele-Sentimentalität bedeutet), kann nur noch [...]“; Peter Sloterdijk, Sphären. Plurale Sphärologie, Bd. III: Schäume, FFM 2004, p14.
[92] Ebenda, p357-500.
[93] Eine Auswahl wesentlicher Texte Webers: KreaturDenken, unveröffentlicht, Berlin 2001ff. (fortlaufende Arbeit); Wie spät ist es? [plus Appendix und Glossar], in: menschen formen (Hg.), menschen formen, Marburg 2000, p10-59; Survival Research. Abschreibsysteme um 1980/2000, in: Bernd Ternes u.a. (Hg.), Einfache Lösungen, Marburg 2000, p258-286; Media ana Riten. Maske und Modell, Marburg 2002; Plateau LOS:T || Caramusie der FARGOnauten. Vom Glück der Grazie, in: Bernd Ternes & RG-Verein (Hg.), Das rigorose Glück, Marburg 2002, p429-443; Nach Kunst die Synth-Flut, in: menschen formen (Hg.), Ver-Schiede der Kultur, Marburg 2002, p228-269.
[94] Diese modernisierte romantische Perspektive auf das Verhältnis Welt, Natur und Mensch hat den Sinn, das forcing der Zivilisation, man könnte auch sagen: den Vorgang, daß der Natur das Vorrecht des Schöpfertums entrissen worden ist (so Oswald Spengler in seinem unsäglichen ‚Mensch-ist-Raubtier’-Buch „Der Mensch und die Technik. Beitrag zu einer Philosophie des Lebens, München 1931, p35), wieder rückzubinden an „Natur“ in der höchst vermittelten Gestalt: der programmatischen/ chromatischen Gestalt.
[95] Hans Peter Weber, Lektion – Lecon, unveröffentlichtes Papier, Berlin 2002.
[96] Die nach meinem Dafürhalten kongenialen Fortsetzer dieser Form „Marxismus als Kritik“ (ohne Arbeiterbewegungs-Standpunkt) sind Robert Kurz (Der Kollaps der Modernisierung. Vom Zusammenbruch des Kasernensozialismus zur Krise der Weltökonomie, FFM 1991) und Guy Debord (Die Gesellschaft des Spektakels. Kommentare zur Gesellschaft des Spektakels, dt., Berlin 1996).
[97] Christof Helberger, Marxismus als Methode. Wissenschaftstheoretische Untersuchungen zur Methode der marxistischen politischen Ökonomie, FFM 1974, p26.
[98] Ob man noch auf die Methode der allmählich abnehmenden Abstraktion für dieserart Analyse zurückgreifen kann, scheint zweifelhaft (siehe Helberger, Marxismus..., a.a.O., p185ff.).
[99] Die Frage der Darstellung von Erkenntnis, hier also: die Benutzung der alphabetischen Schrift, öffnet gleichsam Vakanzen (vielleicht kommt man technogener Nähe nur mit Musik, mit Film etc. auf die Spur?), die jedoch ignoriert werden.
[100] „Die Welt ist so groß, so undurchsichtig und so unübersehbar geworden, daß sie Modelle nötig macht, daß ihre Bilder den Primat vor ihr selbst haben: denn die Sinnlichkeit unserer Augen ist der Welt nicht mehr gewachsen“, so Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p251.
[101] Wenn hier vom Dunkel, von Schatten und Konturen die Rede ist, dann deswegen, um zum Ausdruck zu bringen, daß selbst die unterste Erkenntnis in Gestalt sichtbarer Schatten in Platons Höhlengleichnis (aufsteigend zur Sicht der Dinge und der Ideen) als nicht mehr erreichbar angesehen wird.
[102] „Ohnehin ist die Gesellschaft kein möglicher Gegenstand moralischer Betrachtungen [...], denn die Gesellschaft als das umfassende System aller Kommunikation ist weder gut noch schlecht, sondern nur die Bedingung dafür, daß etwas so bezeichnet werden kann.“ Niklas Luhmann, Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral. Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989 (Laudatio von Robert Spaemann), FFM 1990, p7-48, hier: p39. Zudem gilt aber auch: „Man kann nicht eine soziologische Gesellschaftstheorie an die Stelle setzen, die eine Ethik einzunehmen hätte“ (p37).
[103] „Profite machen mit WLAN-Sozialismus“, Spiegel online, www.spiegel.de/ netzwelt/netzkultur/0,1518,434591,00.html (Abruf: 03.09.2006).
[104] Siehe etwa: Tenbruck, Die kulturellen Grundlagen der Gesellschaft. Der Fall der Moderne, Opladen 1989, p187-211 („Emile Durkheim oder die Geburt der Gesellschaft aus dem Geist der Soziologie“). – Siehe gleichsam die eher gesellschaftsbegriffsaversiven Vorstellungen der Soziologen Simmel, Tönnies und Weber.
[105] Giorgio Agamben, Die kommende Gemeinschaft, dt., Berlin 2003, p79 (dort kursiv gesetzt). Ähnliche Überlegungen auch bei Verf., Exzentrische Paradoxie, a.a.O.
[106] Claus Offe, Arbeit als soziologische Schlüsselkategorie), in: Joachim Matthes (Hg.), Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21- Deutschen Soziologentages in Bamberg 1982, FFM/New York 1983, p38-65.
[107] Klassisch: Emile Durkheim, The
Division of Labor in Society, engl.
[108] Günther Anders, Die Antiquiertheit des Menschen, a.a.O., Bd. 2, p137.
[109] Sigrid Weigel, Genealogie. Zu Ikonographie und Rhetorik einer epistemologischen Figur in der Geschichte von Kultur- und Naturwissenschaft, in: Helmar Schramm u.a. (Hg.), Bühnen des Wissens. Interferenzen zwischen Wissenschaft und Kunst, Berlin 2003, p226-267.
[110] Georg Simmel, Philosophie des Geldes, Bd.6 der GA, hg. von David P. Frisby und Klaus Christian Köhnke, FFM 1989 (1900; Ausgabe bezieht sich auf die 2., vermehrte Aufl. 1907), p11.
[111] „Die Behauptung des historischen Materialismus, der alle Formen und Inhalte der Kultur aus den Verhältnissen der Wirtschaft aufwachsen läßt, ergänze ich durch den Nachweis, daß die ökonomischen Wertungen und Bewegungen ihrerseits der Ausdruck tiefergelegener Strömungen des individuellen und des gesellschaftlichen Geistes sind“, so Simmel in der Selbstanzeige seines Buches 1901 (Simmel, a.a.O., p719).
[112] Siehe aus einer wissenssoziologischen Perspektive, die nicht den Kapitalismus im Blick hat, Norbert Elias, Engagement und Distanzierung. Arbeiten zur Wissenssoziologie I, dt., hg. u. übers. v. Michael Schröter, FFM 1983, p7-71 (Aufsatz gleichen Titels).
[113] Gewiß ist diese Sicht eine etwas antiquierte, so man davon ausgeht, daß gegenwärtig Menschen/ Länder mehr darunter leiden, nicht ausgebeutet zu werden, als ausgebeutet zu werden.
[114] Jean-François Lyotard, Ob man ohne Körper denken kann, dt., in: Hans Ulrich Gumbrecht & K. Ludwig Pfeiffer (Hg.), Materialität der Kommunikation, FFM 1988, p813-829. Siehe hierzu auch die profunde Studie von Marie-Anne Berr, Technik und Körper, a.a.O.
[115] Siehe etwa bezogen auf das Organ Haut Claudia Benthien, Haut. Literaturgeschichte, Körperbilder, Grenzdiskurse, Reinbek 1999, p265-279 („Teletaktilität“).
[116] Agamben, Die kommende Gemeinschaft, dt., Berlin 2003, p48f. Virilio besteht darauf, daß es tatsächlich der Körper und seine Sinne waren, die technisiert wurden (ders., Ästhetik des Verschwindens, a.a.O., p105).
[117] Nicht zu denken, nicht zu empfinden, nicht zu unterscheiden, sondern im „reinen Ausgesetztsein“ sich zu halten: Diese Funktionen der Zerstreuung, die heutzutage hegemonial technischer Vermittlungsart sind, aber nicht mit ihnen verschmelzen, finden sich auch in vielen ekstatischen Riten und Zeremonien rezenter Kulturen wieder.
[118] Siehe dazu Stefan Beck (Hg.), Technogene Nähe. Ethnographische Studien zur Mediennutzung im Alltag, Münster 2000; Manfred Faßler & Stefan Weber, Cyberpoiesis. Forschungsdesiderate zu Theorie und Empirie der Netzmedialität, veröffentlicht auf: www.cyberpoiesis.net/d_5ba_text1a.html (Oktober 2002): „Der vorliegende Forschungsansatz reflektiert die [..] Ergebnisse unter der doppelten Frage nach einer genaueren Beobachtung der Prozesse technogener Nähe und einer Neugestaltung der Mensch-Computer-Interaktivität im Sinne der erhöhten Entscheidungs- und Partizipationsfreiheiten sowie des dichten Zusammenhanges von Unterbrechung, Identität und Kreativität.“ Die dritte Quelle, Michael Overs Buch „Technogene Nähe. Skizze zu annehmbaren Formen und Maßverhältnissen des Außersichseins“, Berlin/ Geesthacht 2005, möchte ich hier nicht behandeln; Overs hervorragende Arbeit geht von einer grundlegenden Distanzierungserweiterung aus, während ich eine Erweiterung der Näheherstellungskapazität verfolge. Siehe zu einer ausführlicheren Behandlung mein Nachwort in: ebenda, p157-160.
[119] Faßler & Weber, a.a.O., o.S.
[120] Stefan Beck, media.practices@culture, in: derselbe (Hg.), Technogene Nähe, a.a.O., p9-17, hier: p14f.
[121] Meines Erachtens ist die Konzeption technologisch generalisierter Kommunikation als Weiterführung der symbolisch generalisierten Kommunikation anzusehen. – Die hier versuchte Erörterung technogener Nähe stellt jedoch den Anspruch, schon jenseits der „symbolischen Welt“ Nähe- und Kommunikationsbeziehungen orten zu können („mantische Beziehungen generativer Exzellenz“).
[122] Ein etwas längerer erster Hinweis zum Wort „Gestalt“: Wenn technogene Nähe als Gestalt beschrieben wird, dann fungiert diese Gestalt nicht als ein Pendant zur Ungestaltetheit oder zur Unsichtbarkeit, sondern vielmehr als Gestalt der Unsichtbarkeit. Wolfgang Hagen beschreibt sehr prägnant, wie es zum Oppositionsverhältnis kam, das bis heute noch intakt ist: „Als künstlich-irdische Quelle [..] erzeugt Elektromagnetismus das Gegenteil dessen, was erst die Jahrhundertwende [19./20. Jahrh.; B.T.] ebenfalls zum weitreichenden Thema gemacht hat, nämlich: Gestalt. Gestalt mußte offenbar zum kunsttheoretisch wirksamen Leitbegriff werden in dem Augenblick, wo menschheitsgeschichtlich erstmals etwas wahrhaft Gestaltloses reproduzierbar war.“ Derselbe, Zur medialen Genealogie der Elektrizität, in: Rudolf Maresch & Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, FFM 1999, p133-173, hier: p157.
[123] Siehe hierzu den Vergleich zwischen der Logik der Prozession und der Logik des Netzes, den Bruno Latour anstellt (ders., Der Berliner Schlüssel. Erkundungen eines Liebhabers der Wissenschaften, dt., Berlin 1996, p276).
[124] Siehe dazu Maria Talarouga & Herbert Neidhöfer, Das Glück ist asozial, in: Verf. & RG-Verein (Hg.), Das rigorose Glück. Erste Annäherung, Marburg 2002, p85-110.
[125] Hans Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung. Erweiterte u. überarbeitete Neuausgabe von „Die Legitimiät der Neuzeit“, erster und zweiter Teil, FFM 1974, p69.
[126] Damit an Whiteheads Metaphysik der Kreativität anschließen wollend. Siehe etwa Reiner Wiehl, Whiteheads Kosmologie der Gefühle zwischen Ontologie und Anthropologie, in: Friedrich Rapp & Reiner Wiehl (Hg.): Whiteheads Metaphysik der Kreativität. Intern. Whitehead-Symposium Bad Homburg 1983, Freiburg/München 1986, p141-167.
[127] Siehe, auf Kunst bezogen, zu dieser Unterscheidung mit/durch Hans Ulrich Reck, Mythos Medienkunst, Köln 2002.
[128] Verweilen beim und im Negativen: das war noch die ungeheure Arbeit Hegels. Das Abstrakte hier wäre nun aber kein Negatives mehr.
[129] „Der Organismus – für sich betrachtet nichts anderes als der isolierte Pol eines ‚sinnlosen’ subjektiven Prozesses – wird zum Selbst, indem er sich mit den anderen an das Unternehmen der Konstruktion eines ‚objektiven’ und moralischen Universums von Sinn macht. Dabei transzendiert er seine biologische Natur. Es deckt sich mit einer elementaren Bedeutungsschicht des Religionsbegriffs, wenn man das Transzendieren der biologischen Natur durch den menschlichen Organismus ein religiöses Phänomen nennt“ (Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, FFM 1991, p85f.).
[130] Thomas Luckmann, Die unsichtbare Religion, a.a.O., p84f.
[131] Der endgültig entfesselte Prometheus rufe nämlich nach „einer Ethik, die durch freiwillige Zügel seine Macht davor zurückhält, dem Menschen zum Unheil zu werden“; Hans Jonas, Das Prinzip Verantwortung. Versuch einer Ethik für die technologische Zivilisation, FFM 1984, p7. – Der technogenen Nähe geht es nicht um einen Zivilisationsbegriff, sondern um einen Technikkulturbegriff, der sich nicht in Gänze den Zügen der Zivilisationierung unterordnen läßt.
[132] Siehe seinen Aufsatz „Technik und Wissenschaft als Hierophanie“, in: derselbe, Die Gesellschaft des Verschwindens. Von der Selbstzerstörung der technischen Zivilisation, Hamburg 1992, p157-172.
[133] Breuer, Technik und..., a.a.O., p158 (beide Zitate).
[134] Bei Mircea Eliade (Mythos und Wirklichkeit, dt., FFM, 1988, p15f.) wird dieser Einbruch durch die Mythen dargestellt wie auch evoziert: „Die Mythen offenbaren also ihre schöpferische Tätigkeit und enthüllen die Heiligkeit (oder einfach die ‚Übernatürlichkeit’) ihrer Werke. Kurz, die Mythen beschreiben die verschiedenen und zuweilen dramatischen Einbrüche des Heiligen (oder des ‚Übernatürlichen’) in die Welt. Und dieser Einbruch des Heiligen gründet wirklich die Welt und macht sie so, wie sie heute ist.“
[135] Breuer, Technik und..., a.a.O., p171f.
[136] Pierre Lévy, Die kollektive Intelligenz. Für eine Anthropologie des Cyberspace, dt., Mannheim 1997, vor allem p39-134. Eine eingehende Beschäftigung mit Lévys Anthropologie passiert zu einem späteren Zeitpunkt.
[137] Pierre Lévy, Die kollektive.., a.a.O., p9.
[138] Lévy, Die kollektive..., a.a.O., p149.
[139] Auch wenn Lévy behauptet, daß sein Wissensbegriff nicht mit dem Gegenstand der Kognitionswissenschaft verwechselt werden dürfe (a.a.O., p150f.), ist seine Episteme doch verankert in der Maturana’schen Kognition-Episteme.
[140] Lévy, a.a.O., p154.
[141] Siegfried Giedion, Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte, dt., FFM 1982 (orig. 1948). In der editorischen Notiz von Henning Ritter wird Giedion mit folgenden Sätzen zitiert: „In ‚Mechanization Takes Command’ [der Originaltitel des Buches; B.T. ...] war ich nicht an der Entwicklung der Technik interessiert. Ich wollte wissen, was geschah, wenn die industrielle Produktion von der intimsten Sphäre des Menschen Besitz ergriff [...]“ (p817). Wie kommt man von dieser Sichtweise weg und hin zu einer Position, die besagt, daß eine hochtechnologische Produktion von Nähe nun in den Besitz der Menschen kommen könnte?
[142] Siehe hierzu den literarische und realgesellschaftliche Daten verarbeitenden Text von Niels Werber, Die Zukunft der Weltgesellschaft. Über die Verteilung von Exklusion und Inklusion im Zeitalter globaler Medien, in: Rudolf Maresch & Derselbe (Hg.), Kommunikation...., a.a.O., p414-444.
[143] Giedion, Die Herrschaft..., a.a.O., p775. Dieser Aufgabe sieht sich wohl auch Bruno Latour verpflichtet, indem er den Nachweis zu führen sucht, daß in Wissenschaften und Techniken „der höchste Grad an Vermischung zwischen Objekten und Subjekten, ihre tiefste Intimität“ zu beobachten sei (ders., Der Berliner Schlüssel, a.a.O., p8).
[144] Günther Anders, Die Antiquiertheit des..., a.a.O., Bd.2, p9.
[145] Anders, a.a.O., p337 + p341.
[146] „Daß Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse heute eines seien und man deshalb die Gesellschaft umstandslos von den Produktivkräften her konstruieren könne, ist die aktuelle Gestalt gesellschaftlich notwendigen Scheins. Gesellschaftlich notwendig ist er, weil tatsächlich früher voneinander getrennte Momente des gesellschaftlichen Prozesses, die lebenden Menschen inbegriffen, auf eine Art Generalnenner gebracht werden. Materielle Produktion, Verteilung, Konsum werden gemeinsam verwaltet. Ihre Grenzen [..] verfließen. Alles ist Eins. Die Totalität der Vermittlungsprozesse, in Wahrheit des Tauschprinzips, produziert zweite trügerische Unmittelbarkeit.“ Theodor W. Adorno, Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Soziologentag (1968), in: derselbe, Soziologische Schriften I, Bd.8 der GS, hg. von Rolf Tiedemann, FFM 1997, p354-370, hier: p368f.
[147] Ullrich kommt daher auf folgende Fragen, auf Marcuse aufbauend: „Welche Strukturelemente bringt die kapitalistische Logik in die Technik ein, die nicht primär technisch sind und mit dem Verschwinden des Kapitalismus auch aus der Technik verschwinden würden? Welche Strukturelemente einer technologischen Rationalität wirken kapitalhomolog, werden aber nicht erkannt und mit der Technik in eine nichtkapitalistische Gesellschaft übernommen? Könnte so eine nichterkannte kapitalhomologe Struktur durch die ‚neutrale’ Technik in nichtkapitalistische Gesellschaften eindringen?“; Ullrich, Technik und Herrschaft, a.a.O., p49. Ullrich geht noch weiter in seiner Kritik, wenn er dem Konzept der technogenen Nähe unterstellt, daß es die „Fehlentwicklungen der europäischen Moderne verbrämt zu einer angeblich höheren Stufe der gesellschaftlichen Evolution“ (Ullrich, schriftl. Kommentar, Berlin 2004). Es wird Mühe bereiten, diese Kritik zu entkräften.
[148] Dieselben, Dialektik der Aufklärung, FFM 1969, p213.
[149] Herbert Marcuse, Der eindimensionale Mensch, dt., Neuwied/Berlin 1967 (orig. 1964); vor allem aber Triebstruktur und Gesellschaft, FFM 1967.
[150] Hans Peter Weber, Wie spät ist es?, in: menschen formen (Hg.), menschen formen, a.a.O., p10.
[151] Besonders deutlich wird dies gegenwärtig an den Front- und Allianzbildungen rund ums Thema Anthropotechniken. Viele Kritiker vertreten hier einen lebenskonservativen Standpunkt alleine deswegen, weil sie nicht auf der Seite derjenigen stehen wollen, die in einer möglichen weiteren Emanzipation der Menschen von Natur etwa durch Einsatz pränataler Genomveränderungen vordringlich nur einen weiteren Markt sehen, der Gewinne verspricht. Siehe zum Teilbereich der Genomanalyse die glänzende, sich für eindeutige Kritik entschieden habende diskurstheoretische Studie von Andreas Lösch, Genomprojekt und Moderne. Soziologische Analysen des bioethischen Diskurses, FFM/ New York 2001.
[152] Beide Sätze sind die Überschriften der Abschnitte V und VI des fünften Buches seines Werkes „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ (1784-1791), Neuausgabe Bodenheim 1995, p143 + p146.
[153] Verf., Exzentrische Paradoxie, a.a.O., Expositionskapitel.
[154] Das meint etwas anderes als die Fassung von Deleuze und Guattari, das Außen als nicht-äußeres Außen und das Innen als nicht-inneres Innen zu denken; es meint allerdings nur, es denkt noch nicht. Siehe Gilles Deleuze & Félix Guattari, Was ist Philosophie?, dt., FFM 1996, z.B. p69.
[155] Es handelt sich bei dieser Markierung nicht
um eine Paraphrase der Immanation, wie sie Gilles Deleuze entwirft; diese
Immanation ist nach meinem Empfinden noch zu stark mit dem Gegenbegriff,
Emanation, verklammert. Siehe Gilles Deleuze: Die Immanenz: ein Leben…,
dt., in: Friedrich Balke & Joseph Vogl (Hg.): Gilles Deleuze. Fluchtlinien
der Philosophie, München 1996, p29-33. Und auch nicht ist hier auf Bataille zu
setzen (Georges Bataille, Die innere Erfahrung (nebst Methode der Meditation
und Postskriptum 1953), dt., München 1999, p43), wenn er sagt: „Das
Sonderbarste: sich nicht mehr als alles wollen, ist das höchste Bestreben des
Menschen, ist, Mensch sein wollen (oder, wenn man will, den Menschen überwinden
– das sein, was er frei von dem Bedürfnis wäre, nach dem Vollkommenen zu
schielen, indem er das Gegenteil täte“). Das Gegenteil: wo und was wäre es
innerhalb exzentrisch paradoxen Daseins?
[156] Dieser Fragerichtung ist das Buch von Michael Over gewidmet (derselbe, Technogene Nähe, a.a.O.).
[157] Denn: Der Staat gründet sich nicht positiv auf den sozialen Tonos, er ist auch nicht die diesbezügliche Repräsentation; vielmehr präsentiert Staat die permanente Angst vor dem Zerfall und der Auflösung der Ordnung.
[158] Herbert Neidhöfer, text. Beginn Montag, den 24. Dezember 2001, unveröffentlichter laufender Text, Geesthacht 2001ff., p102f.
[159] Immanuel Kant, Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Pädagogik 2, Werkausgabe, Bd. XII (mit Gesamtregister), hg. von Wilhelm Weischedel, FFM 81991, darin: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, p395-690, hier: p472. Siehe zu Kants Anthropologie auch Verf., Anthropologie als archäologisch-kybernetische Inventur. Eine Bemerkung zu Kants Anthropologie als Dokument einer Anthropologie nach dem Tode des Menschen, in: Paragrana, Heft 2/2002, p227-249.
[160] Hans Günter Holl, Stufen der Abstraktion, a.a.O., o.S.